Der Mensch als Provisorium
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 20. Dezember 2017. Tageslichtprojektoren, ein Holzkubus, eine hölzerne Freitreppe, ein Kleiderständer. Stefanie Dvorak zieht sich einen Babybauch und also die Rolle der Martha an. Markus Meyer bleibt als deren Ehemann Thomas Hoffmann den Abend über im Morgenmantel und kramt anfangs im Bühnen-Hinten nach Bier. Ihm antwortet Helene, das ist Marie-Luise Stockinger als jüngere Schwester Marthas, vom Bühnenrand vorne aus. Unstet lenken neue Auftritte die Aufmerksamkeit im Raum umher. Da steht eine Toilette, Michael Abendroth sitzt darauf, als Vater Egon Krause; er lobt die Pünktlichkeit seines "Morgenschisses". Naturalismus auf New Shit: Es ist die Österreichische Erstaufführung von Ewald Palmetshofers "Vor Sonnenaufgang" (das jüngst in Basel herauskam). Nach Gerhart Hauptmann. Im Akademietheater. Mit Bühne und Regie von Dušan David Pařízek.
Der Grad der Aufgerissenheit der Augen
Und mit Hochglanz-Besetzung. Neben den Genannten sind dabei: Dörte Lyssewski, die der Figur Annemarie, zweite Ehefrau Krauses, unwahrscheinlich warmherzige Facetten entlockt. Michael Maertens, dem als Journalist Alfred Loth alles immer nur zu widerfahren scheint. Bis dann, großes Streitgespräch zwischen dem rechten Lokalpolitiker Hoffmann und seinem linken Studienfreund Loth, das Unverständnis über rechte Erzählungen sich in wütender Angst überschlägt: "wie lange, glaubst du, driften wir noch auseinander, bis wir uns nicht mehr hören können, wenn wir sprechen".
Bei Palmetshofer, im Unterschied zu Hauptmann, geht's vordergründig nicht um Alkoholismus und biologischen Determinismus, sondern um's große Auseinanderdriften, um den Tod. Sagt Loth: "ich bin ein Provisorium". Entgegnet später Doktor Peter Schimmelpfennig: "und kommt am Ende so und so, kommt immer nur das Gleiche raus: ein Exitus, sich unterscheidend nur im Grad der Aufgerissenheit der Augen". Entgegnet Fabian Krüger und gibt den Arzt so schrullig wie einen Totengräber.
Wir sind vorübergehend
Drei Tage im Kraus’schen Eigenheim. Die Studienfreunde streiten, das Ehepaar Krause streitet, Martha streitet beim Kauf einer Babyschale mit der Verkäuferin, und Helene verschaut sich in Loth. Am Ende, "vor Sonnenaufgang", ist das Kind tot geboren. Dvorak hat sich den Babybauch ausgezogen und hastet die hölzerne Freitreppe hinab. Stille, Stille, dann atmet sie ein, als würde sie schreien. Pařízek streicht das pessimistische Hauptmann/Palmetshofer-Ende. Stockinger hebt Dvorak in eine atemlose Umarmung hinein. Schwester tröstet Schwester, Licht aus.
Pařízek begegnet dem großen Auseinanderdriften mit Gesten der Versöhnlichkeit. Hebt aus dem Text ordentlich viel Libido hervor. Beispiel erstes Abendessen: Maertens zwischen Lyssewski und Stockinger. Sie spielen Arm-und-Mund-zum-Kuss-Geknäuel. Im Klamauk, dort ist der Ernst: Die da auseinander driften, wollen dringend zueinander hin. Kontraste von Szene zu Szene. Auch im Kitsch, dort ist es Pařízek Ernst. Er lässt Krüger melodramatisch am Klavier fuhrwerken, währenddessen Maertens maunzt "wir sind vorübergehend".
Diese Versöhnlichkeit verhindert das Abdriften des Abends in den Hochglanz-Boulevard einer Familiensaga mit Milieustudie. Figuren werden nicht ausgestellt, so!, mit Finger auf die ewig anderen, sondern behutsam in ihren Beziehungen zueinander dargestellt. Naturalismus und Abstraktion in einem eleganten Verhältnis. Trotz über zwei Stunden Länge und einigen Längen gelingt ein kompakter Theaterabend. Sagt Hoffmann: "wie sie hungern nach Geschichten, in denen sie selber vorkommen". Und meint damit die Verführbarkeit der Menschen durch populistische Welterklärungen. "Vor Sonnenaufgang" verführt zur Einfühlung. Und verweigert sich dem Reibungslosen.
Vor Sonnenaufgang
von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Licht: Krisha Piplits, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer.
Mit: Michael Abendroth, Dörte Lyssewski, Marie-Luise Stockinger, Stefanie Dvorak, Markus Meyer, Michael Maertens, Fabian Krüger.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
"Viel Gegenwärtiges strömt aus diesem Abend, der in seinen formalen Kleinmanövern aber Ratlosigkeit ausstrahlt", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (21.12.2017). Hintergründig liefen einige Fragen mit in Palmetshofer in seinen Nuancen reizvollen Konversationsdrama: "Wie sind wir geworden, was wir heute sind? Warum sind wir links, warum eher rechts?" Dušan David Parízek zeige dazu "eine Familienhölle, die erst durch ihre Eindringlinge Konturen bekommt". Eine Antwort auf die Hintergrundfragen scheint der Abend allerdings nicht parat zu haben: er gebe sich mit Kleinigkeiten zufrieden, so Affenzeller. Eine Sogwirkung erzeuge er dennoch.
"Zum Jahresende noch ein Höhepunkt. Ein Theaterereignis. Ohne Wenn und Aber eindrucksvoll", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.12.2017). Pařízeks zurückhaltend-ruhige Inszenierung lasse den rundherum vorzüglichen Schauspielern klugerweise allen Platz, den sie brauchen: "Hier ist alles wie aus einem eisernen Guss. Das Stück erkennt man kaum wieder – so unerbittlich genau fügt sich nun alles zusammen. So unvergleichlich präzise wird es hier gespielt."
"Ein ganz großer Theaterabend", schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (22.12.2017), die Inszenierung sei ein "Rendezvous mit dem Furor der Wirklichkeit". Mit seiner immer wieder grandiosen Neudichtung des alten Stücks erweist sich Ewalt Palmetshofer aus Sicht der Kritikerin "erneut als scharfer Gegenwartsdiagnostiker und feinsinniger Sprachkünstler". Aber auch die Schauspieler spielten zum teilweise "beunruhigend brilliant".
"Das ist mehr als der Naturalismus Hauptmanns, " so Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (22.12.2017). Poetisch habe der oberösterreichische Dichter Ewald Palmetshofer das alte Stück "in meist gebunden wirkender Sprache nachgedichtet" und "dunkle Poesie" daraus gemacht. Dušan David Pařízek habe "eine elegisch verfremdete Inszenierung geschaffen und eben auch ein fast surreales Bühnenbild". Das Ensemble bietet aus Sicht des Kritikers "pralles Theater".
Regisseur Dusan David Parizek begegnet dem Eindruck von Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (27.12.2017) "einem Well-made-Play wie diesem mit gesunder Skepsis". Der Text sei ebenso elaboriert geschrieben wie strapazierfähig, was sich dem Kritiker daran zeigt, was sich damit machen lasse: "Mittendrin fallen die Schauspieler auf einmal in Sprechgesang wie im Musical, und zwischendurch wechseln sie schnell mal in den Tragödienmodus. Am Ende ist dann allerdings Schluss mit lustig. Anstelle von Babygeschrei dringen die Klagerufe der Mutter durchs Haus: Das Kind, das Martha unbedingt daheim auf die Welt bringen wollte, ist eine Totgeburt." Insgesamt sei der Plan, das alte Stück ins Heute zu übertragen, aufgegangen.
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