Krieg mit anderen Mitteln

von Maximilian Pahl

Bern, 21. Dezember 2017. So kann man einen Roman auch inszenieren: als Spiegelung aller seiner Elemente und Themen an der eigenen Achse. Genau wie Emil Nägeli, der Schweizer Regisseur und Protagonist in Christian Krachts "Die Toten", reiste die Schweizer Regisseurin Claudia Meyer nach Japan, um zu filmen. Nägeli tat es in den 1930er Jahren im Auftrag des UFA-Chefs Alfred Hugenberg, der ihn inmitten des kulturtechnischen Umbruches durch Farb- und Tonfilm mit dem japanischen Offizer Masahiko Amakasu zusammenspannte, um ästhetisch gegen Hollywood anzutreten.

Mächtige Bilder

So imaginiert es Krachts faktenbasierte Fantasie. Meyer reiste wiederum auf Krachts Spuren zu den Schauplätzen, um mit ihrem Team und dem Kameramann Sebastian Therre zahlreiche Aufnahmen für die Uraufführung von "Die Toten" zu drehen, die sich das Konzert Theater Bern zusichern konnte. Aus dem Fenster der Studiokulisse heraus blickt Irina Wrona mit ihren drei männlichen Spielpartnern, die Leinwand dahinter zeigt dieselben Gesichter und ihre oftmals nackten Körper in schwarz-weißen Momentaufnahmen, dazwischen Drohnenflüge über Klippen und vertraute japanische Motive.


DieToten 560 Tanja Dorendorf T T Fotografie uStudiokulisse mit Protagonist*innen: Gabriel Schneider und Irina Wrona
© Tania Dorendorf / T+T Fotografie

Vor diesen mächtigen Bildern bleibt die Bühne ein Ort des Erzählens, nicht des Agierens. Der Text ist fein zerteilt in vier Portionen und nur sachte beschnitten wie mit einem Masahiro-Messer. Meyer paust und kopiert ihn auf verschiedene Ebenen, bis er auf sich selbst zu liegen kommt. Die vier treten nacheinander ein wie in ein Wartezimmer, registrieren einander, und schwelgen zunächst in Emil Nägelis Kindheitserinnerungen. Beinahe alles Weitere greift auf den Ideenschatz der Vorlage zurück – sowie auf deren Struktur des Nō-Theaters: Erst passiert detailreich wenig, dann plötzlich etwas Unerwartetes, und schliesslich endet es abrupt.

Schießpulver für die Augen

Das Innenleben des Schweizers und des Japaners, die sich noch nicht getroffen haben, wird in verschiedenen Haltungen erzählt. Zwischen Salon-Gespräch und energetischer Anklage wirkt das szenische Geschehen zunächst etwas gesucht, Wrona markiert die Koksnase an ihrer Figur und kreuzt die Finger zur Kameralinse, wenn davon die Rede ist. Und Nico Delpy wird beim Stichwort Teddybär selbst zum Stofftier. Dann ist es wie im Roman: Wer die gespreizten Kapriolen im ersten Teil mitmacht, lässt sich danach vom Rest geduldig mitreissen. Der Abend findet erst zur Ruhe, wenn etwas passiert.

Nämlich in einem Varieté am Berliner Nollendorfplatz, wo Nägeli auf Siegried Kracauer und Lotte Eisner trifft. Hier schnöden die beiden Intellektuellen über ihre geistige Heimat, die ihnen der Faschismus bald rauben wird. Bei Vrona und Delpy wird aus böser Ahnung stille Verbitterung, und schliesslich ist ihnen speiübel. Denn ähnlich wie der reale Kracauer erkennen sie die ästhetischen Kolonialisierungsbestrebungen: "Film ist ja nichts anderes als Zellulosenitrat, Schießpulver für die Augen. Kino ist Krieg mit anderen Mitteln."

Der plumpe Europäer

Wie Nägeli dann aufbricht, ist vor allem filmisch und zwischendurch sogar in übersatter Farbe zu bewundern. Das Vorhaben lautet: "Ein Roman, verfilmt, auf der Bühne", und mit Malte Ubenaufs Mitarbeit an der Fassung und Michael Gmajs Dramaturgie wird dieses Vorhaben sehr bedacht ausgearbeitet. Die Ebenen des Films und der Bühne greifen an einigen Stellen einander vorweg, erzeugen Resonanzen auch zu Krachts Ironie, denn manche Videos sind eigenartig stilisiert. Am witzigsten ist Gabriel Schneiders Nägeli, der plumpe Europäer, wenn er seine Frau unbeholfen dabei beäugt – ja sogar dabei filmt – wie sie von seinem neuen japanischen Freund feingeistig abgeworben wird. Aus dem Schrank heraus schneidet er den Beischlaf mit und verwahrlost dann gebrochenen Herzens in der Fremde. Die beiden anderen finden unter Charlie Chaplins Zutun ein jeweils eigenes elendes Ende.

Leitmedium Sprache

Plötzlich bricht aus Schneider eine unvorhergesehene Verzweiflung aus, er schmeisst sich in die Badewanne und legt die ganze Misslichkeit des Nägeli frei, aus der aber bereits erahnbar ein Meisterwerk entsteht – nur ganz anders als geplant. Zurück im Filmset, an dessen Seiten man den Schauspielern in der Maske zusieht, stehen die Hollywood-Lettern wieder vor dem Fenster.

Sexuelle Gewalt im Filmbetrieb – das denkbar aktuellste Thema – taucht am Bildrand dauernd auf, wird aber nicht weiter fokussiert. So wird am faszinierten Erzähler ohne Forcierung etwas plausibler, warum die #Metoo-Debatte erst heute geführt wird. Wenn sich der Vorhang nach den kurzen Zwischenszenen wieder öffnet, doch die Bühne dahinter wider Erwarten fast unverändert blieb, könnte man das allegorisch lesen und erschaudern.

Doch das Leitmedium darüber bleibt die Kracht-Sprache, die, je schlimmer das Erzählte und je unkommentierter vorgetragen, desto näher zu sich selbst findet. Die Dramatisierung bewirkt ja immer auch, dass ein Stoff nicht einfach zugeklappt und weggelegt, sondern am Stück konsumiert wird. Dabei ist auch etwas Langmut gefragt. Er zahlt sich aber auch doppelt und dreifach aus, in dieser aufwändigen und dem Original ergebenen Bearbeitung.

 

Die Toten
von Christian Kracht
Regie: Claudia Meyer, Bühne: Konstantina Dacheva, Claudia Meyer, Kostüme: Barbara Kurth, Musik: Michael Wilhelmi, Kamera: Sebastian Therre, Licht: Rolf Lehmann, Dramaturgie: Michael Gmaj.
Mit: Irina Wrona, Nico Delpy, Alexander Maria Schmidt, Gabriel Schneider. In den Videos: Yanghyang Kanemoto, Tatsumi-san, Taiga Takasahashi-Thomas, Wakame Yamamura, Wakamizuki Yamamura, Shuji Hitomi, Koichi Hirata, Sumire Hirata.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Claudia Meyer versuche gar nicht erst, den Stoff herauszubrechen aus der Form, in der der Roman ihn vermittelt – "sie nimmt die ganze Vermitteltheit mit auf die Bühne", schreibt Daniel DiFalco in Der Bund (23.12.2017). Die Reduktion des Romans sei "derart durchdacht, dass einem die Stellen, die fehlen, nicht fehlen". Aber "so etwas wie eine fassbare Haltung zu diesem Roman wollte sich in dieser Inszenierung (…) nicht zeigen." Es fehlten "Brüche und Abgründe", so DiFalco. "Dazu brauchte es allerdings eine filmische Macht, die gegen jene von Krachts Sprache ankommen müsste."

"Aus dem kompakten, 211-seitigen Roman ist ein langfädiges Theater geworden. Ein Quartett aus Irina Wrona, Nico Delpy, Alexander Maria Schmidt und Gabriel Schneider erzählt im Wesentlichen den Roman nach", beschreibt Michael Feller in der Berner Zeitung (23.12.2017) seinen Eindruck und fragt: "Hat der Mut gefehlt, 'Die Toten' auf das Wesentliche zu reduzieren? Oder willigt der Rechteinhaber, also Krachts Verlag, nicht dazu ein?" Mit dieser Produktion schaffe es Konzert Theater Bern "auf jeden Fall nicht, ­seine Theaterhochform zu bestätigen".

"Meyers Bühnen-'Toten' geben eine ästhetizistische Vorstellung davon, was Theater sei: Ein Suchbild behaupteter Identitäten aus der Gedankenwelt, aus der Welt der Dinge, aus Vergangenheit und Gegenwart", jubelt dagegen Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (23.12.2017). Die Inszenierung zeige: "Das Ich ist ein Hirngespinst, es ist ein Artefakt. Und dies glückt in Bern so geistreich, dass sich Christian Kracht mit einer tiefen Verbeugung für die Leistung bedanken müsste."

"Es findet keine irgendwie geartete Reflektion statt, es bleibt auf einer brav illustrierenden Ebene", gibt dagegen Andreas Klaeui im SRF (22.12.2017) zu Protokoll. Claudia Meyer nehme weiter nicht Stellung zum Text, "sie interpretiert nicht, gewichtet nicht, die Aufführung hat deshalb auch etwas Beliebiges", so Klaeui: "Warum dieser Stoff – jetzt – auf die Bühne muss, wird in dieser Inszenierung nicht klar." Das strahle auch ab auf das Spiel der Schauspieler: "Ich habe viele schauspielerische Verlegenheitslösungen gesehen, Spielweisen zwischen einer mokanten, spöttischen Haltung gegenüber dem Text und dann wieder biedere Darstellungsstereotypen, auch viel unmotivierten Aktionismus – auch auf dieser Ebene, der darstellerischen Ebene mutet der Abend unentschieden an."

Kommentare  
Die Toten, Bern: Zwang zur Illustration
"Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" findet: "Die Krux liegt im Konzept. Wenn von einem Hasen gesprochen wird, zeigt die Leinwand, wie ein Hase übers Gras hoppelt. Wenn die Rede auf Japan fällt, führt uns die Kamera ins verwirrende, vielgestaltige Tokio. Und wenn gesagt wird, dass zwei miteinander schlafen, zeigt die Leinwand ihre nackten Körper beim Schmusen und Ficken. Der Zwang zur Illustration – das heisst zur Verdoppelung des Gesagten – würgt aber den Rhythmus der szenischen Wiedergabe ab."

Zur gesamten Besprechung: https://p4-r5-04088.page4.com/772.html
Die Toten, Bern: Bildübermacht
Aufwändig und bildmächtig, genau. Es wird viel Aufwand getrieben und es hat mächtig viele Videobilder. Als Theaterarbeit war es unergiebig, ich finde der Rezensent lässt sich von dem äusseren Aufwand blenden. Meistenteils stehen die Darsteller nur rum und sagen Text auf. Das lässt einen kalt. Mir geht das oft so bei Claudia Meier, es ist immer sehr aufwändig aber leer. Biedermannund die Brandstifter ist ein gutes Beispiel dafür.
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