Wo bist du dann?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 12. Januar 2018. Der Fichte ist in die Bedeutungslosigkeit gesunken. Er ist jetzt eine die und als solche ein Baum, der vor einem spießigen Einfamilienhaus die unoriginellen Gewaltfantasien seines kleinbürgerlichen Eigentümers weckt ("Das Haus ist zu klein, der Baum ist hässlich"). Das Programmheft zur Roland-Schimmelpfennig-Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters trägt noch ein Johann-Gottlieb-Fichte-Zitat: "Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich. Das Ich setzt sich selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich."

Im bösen Märchenwald

Dann ist aber auch Schluss mit der Philosophie, und mit dem Deutschen Idealismus erst recht. Hier geht es nicht darum, irgendetwas zu verstehen oder auch nur einzuordnen, das signalisiert Anne Lenks Uraufführungsinszenierung auch gleich zu Anfang, indem sie den Glitzervorhang zum Prolog öffnet und Leitmotive des Stücks plus ein paar Fabelwesen zu Verzauberter-Wald-Musik über die Bühne hin- und herhuschen lässt. Hier soll, in Lenks den luftigen Text mit vielen Mitteln beschützender Lesart, ein böses Märchen erzählt werden.

DerTagalsich1 560 Arno Declair uFamilie mit Doppelgänger*innen: Elias Arens, Tabitha Frehner, Camill Jammal, Franziska Machens, Jeremy Mockridge, Maike Knirsch © Arno Declair

Das Märchen von dem Mann mit dem Haus mit der Fichte und seiner Frau und seinen Kindern und wie sich eines Tages dieser Mann vor lauter stinknormalem Lebensüberdruss von sich selbst abspaltet. Sein Doppelgänger ist ein doller Hecht, der ihm auf der Nase rumtanzt, indem er sich vorm Zu-Bett-Gehen die Zähne nicht putzt und die sexy zweite Version der Frau, die selbstredend noch beknackter und frustrierter ist als ihr Mann und sich in treudoofer Ergebenheit bald auch verdoppelt hat, mal wieder so richtig anbaggert ("Ich dachte, Marilyn trug zum Schlafen nur Chanel No. 5") und so weiter.

Theaterzauber vs. Quellekatalog

Ein Märchen ernährt sich von Phantasie, natürlich haben diese Philister davon nicht besonders viel – Anne Lenks Inszenierung dafür umso mehr. Sie wartet mit allerlei Theaterzauber auf, gibt sich Mühe, dieser Familie aus dem Quelle-Katalog Leben einzuhauchen, in der die Kinder – 18-jährige Zwillinge – übrigens nur dazu da sind, den Eltern beim Jonglieren mit ihren Doppel-Identitäten behilflich zu sein, folglich sind sie als Mini-Mes kostümiert.

Den Höhepunkt stellt eine wilde Nacht in der "Schwertfisch-Bar" dar, wo Mann und Frau sich von ihren Doppelgängern exzessiv anstecken lassen. Eine Polizei-Razzia macht dem bunten Treiben ein Ende, und im einzigen gelösten Moment der Inszenierung haucht Franziska Machens Frau als verhinderte Sängerin "Die Ballade zur doppelten Haushaltsführung" ins Mikrophon. Hinten ist die Guckkasten-Bühne aufgegangen, die anderen ziehen schon betrunken durch die Straßen, und kurz ist egal, dass Machens hier – wie alle schon den ganzen kurzen Abend lang – nur Stuss von sich gibt: "Wenn du nicht da bist, wo du bist, wo bist du dann, bist du dann da".

Sie haben ihr Leben längst verpokert

Aber schnell werden sie zur Ordnung gerufen, zerkrümeln wieder unter dem grausamen Blick, den ihr Erfinder auf sie richtet. Der scheint diesen Text vom Titel her geschrieben, dann aber relativ schnell die Lust am Philosophieren verloren zu haben, die dieser Titel fichtig vorgibt: "Der Tag, als ich nicht ich mehr war" spielt mit Schimmelpfennigs bewährten Stückschreib-Methoden, es wird in der Chronologie vor- und zurückgespult, Regieanweisungen werden ausgesprochen – und die Luft wird immer dünner. Zum Schluss sitzen sie zu viert (mit den Kindern zu sechst) am Frühstückstisch, aber ach!, irgendwie noch unterdrückter als vorher. Da waren sie nur spießig, jetzt sitzt da noch ihre von der Werbung komplettvereinnahmte Fantasie in Gestalt zweier nackter Draufgänger mit am Tisch, und es wird klar: Sie haben ihr Leben längst verpokert, nicht erst gestern Abend in der Schwertfisch-Bar.

DerTagalsich2 560 Arno Declair uDer Mann (Camill Jammal), die Frau (Franziska Machens) und sein Doppelgänger (Elias Arens)
© Arno Declair

Die vielfachen Möglichkeiten der virtuellen Selbstinszenierung, in die man sich heutzutage flüchten, in der man vielleicht auch etwas entdecken kann, sind diesem Abend absolut fremd. Er ist damit aus der Zeit gefallen. Behauptet aber auch keine eigene Zeit, sondern bezieht sich auf Klischees mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, darunter auffallend viele sexistische.

Die stärkste Haltung der Figuren zu sich selbst liegt in der Erkenntnis ihrer eigenen Irrelevanz, das haben Mann und Frau immerhin gemeinsam. Soll man daraus nun schließen: Wär das nicht toll, wenn einfach alle nur stumpf ihre/n Fichte hassen würden – statt die Flüchtlinge oder die Rechten oder die GroKo? Auf solche unoriginellen und resignativen Gedanken kann man nach Anschauung dieses Abends kommen.

 

Der Tag, als ich nicht ich mehr war
von Roland Schimmelpfennig
Uraufführung
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Camill Jammal, Elias Arens, Franziska Machens, Maike Knirsch, Tabitha Frehner, Jeremy Mockridge.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Halleluja! Man kann wirklich nur hoffen, dass Roland Schimmelpfennig unrecht hat und das Prenzlauer-Berg-Biedermeier in seinen abgründigsten Träumen von einem anderen Leben wenigstens die Verruchtheitsschwelle des Zahnputzverzichts überschreitet!", ruft Christine Wahl im Tagesspiegel (14.1.2018). "Hätte es jedenfalls noch irgendeines Beweises fürs omnipräsente Gesellschaftsrollback bedurft, das DT hätte ihn mit diesem Abend wirklich mustergültig erbracht!" Insofern sei es konsequent, dass Anne Lenk ihre Inszenierung "in einem Fünfziger-Retro-Jahre-Setting" ansiedele. Die romantischen Topoi, von denen sich das Stück abstößt, würden "ausdrücklich semi-ironisch und gern auch mal mit expressionistischem Stummfilm-Charme" behandelt, so Wahl: "Was insofern konsequent ist, als vom kulturgeschichtlichen Überbau im Text tatsächlich wenig mehr bleibt als Raunen".

"Ein kleines Spiel im Geist von Kleist" hat Michael Laages gesehen und sagt im Deutschlandfunk Kultur Fazit (12.1.2018): "Der Text ist bis in die letzte feine Verästelung ausgefeilt." Regisseurin Anne Lenk folge seinen Feinheiten "mit viel szenischer Fantasie". "Erstaunen immerzu", verspürt Laages – "auch darüber, wie der Autor Schimmelpfenning die eigenen Arbeiten immer wieder irgendwie am Nullpunkt beginnen lassen kann". So bleibe er "wie neu" und verwandle die Phänomene des Theaters "in Grübel- und Zauber-Spiele".

"Anne Lenk gibt Schimmelpfennigs Identitätsspiel als eine Mischung aus groteskem Märchen und Freud'schem Trieb-Traum, bei dem das Unterbewusste und Monströse stets hinterm glitzernden Vorhang hervor bleckt", sagt Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (13.1.2018). "Das ist bildreich und fantasievoll und über den kurzen 70minütigen Abend durchaus unterhaltsam – aber keineswegs verstörend." Dafür seien die Plüschtiere dann doch zu drollig und das Ehepaar zu brav. "Dass die Inszenierung nicht unter die Haut gehen kann, liegt letztlich aber an der Vorlage", so Behrendt: "Schimmelpfennigs kontrolliert durchkonstruiertes Experiment findet mit Probanden statt, nicht mit Menschen aus Fleisch und Blut."

"Im Grunde hat Anne Lenk aus diesem pseudophilosophischen Dramolett mit lauter angelesenen Konflikten und papiernen Figuren, denen man dringend den Kontakt mit dem guten alten echten Leben jenseits der Wohlstandsblasenhaftigkeit wünscht, das einzig Vernünftige gemacht: Sie lässt es noch alberner, verblasener und substanzloser aussehen, als es ohnehin ist“, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (online am 14.1.2018).

Für "ei­ne hüb­sche wie ko­ket­te Pe­ti­tes­se", eine "leich­te, luf­ti­ge, be­schwingt un­kal­ku­lier­ba­re Ko­mö­die", hält Irene Bazinger von der FAZ (15.1.2018) das Stück. Lei­der reiße es Regisseurin An­ne Lenk mit all­zu lau­tem, all­zu grel­lem Re­gie-Alarm aus seinem ly­ri­schen Som­nam­bu­lis­mus. So lasse Lenk das Ensemble etwa zwi­schen­durch "völ­lig sinn­frei" Vam­pir­ge­bis­se ein­set­zen oder ei­nen rie­si­gen Vo­gel Strauß vor­bei­stol­zie­ren. "Es soll ja nicht stim­men, dass der bei Ge­fahr den Kopf in den Sand steckt, doch bei die­ser In­sze­nie­rung hat das zwei­fel­los die Re­gis­seu­rin ge­tan – und sich vor den An­for­de­run­gen des Stücks in plat­ten Bil­der-Klim­bim ge­flüch­tet."

"Schimmelpfennig gelingt es, alles zu vereinen, was einem im Theater auf die Nerven gehen kann: das Fehlen jeglichen Anliegens; verunglückte Sprachbilder, die poetisch sein wollen; vermeintlich philosophische Fragestellungen, die nur hohle Phrasen sind", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2018). Regisseurin Anne Lenk mache das Beste daraus, indem sie den Text nicht allzu ernst nehme. Franziska Machens und Camill Jammal als Original-Ehepaar gelinge es sogar, ihre Figuren hin und wieder aus dem Klischeekorsett zu befreien. "Das ist gut gespielt und gut gedacht. Mehr kann man in dieser textlichen Tiefebene nicht erwarten."

Wenn man versuche, die Geschichte zu erzählen, falle das Stück leicht in sich zusammen wie ein Soufflé, dessen Zutaten äußerst banal seien. Jedoch: "So spielerisch aber und so märchenähnlich, wie die Regisseurin Anne Lenk dies auf eine fast zum Kasperletheater verkleinerte Bühne bringt, wird daraus ein lockeres und luftiges Stück, das an keiner Stelle behauptet, mehr zu sein, als es scheint", schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (15.1.2018). "In anderen Stücken von Schimmelpfennig geht es um mehr. Aber diese Uraufführung hat trotzdem das Beste aus dem Stoff herausgeholt."

"Seine (Schimmelpfennigs, d. Red. ) Fi­gu­ren spre­chen nicht aus, was sie gern tä­ten, was sie gern wä­ren – son­dern sie wer­den von die­sem Im­puls zer­ris­sen. Das Un­leb­ba­re und Un­sag­ba­re bricht aus ih­nen her­aus und er­zeugt Dop­pel­gän­ger", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (18.1.2018). In An­ne Lenks "be­flis­se­ner"In­sze­nie­rung habe das Stück das We­sen ei­ner Zau­ber­pos­se im Vor­ort: "Fä­hi­ge Schau­spie­ler, von der Re­gie in die elas­ti­schen Car­toon-Um­ris­se der freund­li­chen De­nun­zia­ti­on hin­ein­ge­quetscht, tun das Mög­li­che, um das Un­ter­neh­men zu ret­ten." Schim­mel­pfen­nigs Stück, dem der Hor­ror zu­grun­de liege, mün­de hier ins Lieb­li­che: Ei­nen Dop­pel­gän­ger kann man ent­we­der um­brin­gen (wie es in E. A. Poes Er­zäh­lung Wil­li­am Wil­son ge­schieht), oder man kann ein we­nig zur Sei­te rü­cken, wenn er sich nackt an den Früh­stücks­tisch setzt und ein Nu­tel­la­b­röt­chen will ..."

Kommentare  
Der Tag ..., Berlin: enttäuschend matt
Der Ausgangspunkt von Roland Schimmelpfennigs Auftragswerk „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ ist vielversprechend: Es soll um eine Kleinfamilie, die mit ihren eigenen Doppelgängern und verdrängten Abgründen konfrontiert wird. Aus diesem vielfach variierten Stoff hätte man einiges machen können.

Leider schleppt sich diese Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters unter Anne Lenks Regie ohne zündende Pointen und enttäuschend matt dahin. Die interessante Grundidee verpufft weitgehend. Als Fingerübung hätte das Stück besser in die Box gepasst.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/12/der-tag-als-ich-nicht-ich-mehr-war-matte-schimmelpfennig-urauffuehrung-am-deutschen-theater-berlin/
Der Tag ..., Berlin: ironisierende Inszenierung
Die Bühne (judith Oswald) ist ein Guckkasten mit schwarzern Samtrückwanden und Glitzervorhang, das Design des Kammerspiele-Innenraums aufnehmend. Dort tanzen zunächst die Figuren und so manche Albdruck-Monster in einer musikalischen Traumsequenz umher, entrückt, geisterhaft, ein Möglichkeitsraum so düster wie albern, so fantasierreich wie banal – wie man sich den Traum eines Spießers vorzustellen mag. Hier ist der Möglichkeitsraum, auf der Treppe vor der Bühne die Realität. Die natürlich auch Zerrbild ist. Zwischen Boulevard und Farce changierend, probieren die sechs Darsteller*innen an der spießigen Familienidylle – die natürlich auch nur zweidimensionale Nachahmung konsumierbarer Vorgaben aus TV und Werbung ist – herum. Dabei sind die Kinder (Neu-Ensemble-Mitglied Jeremy Mockridge und Busch-Studentin Tabitha Frehner) die Narrativ-Bestimmer, welche das Geschehen starten und abbrechen können (wie am Schluss den gesamten Abend), in dem sie mit den Fingern schnipsen, und natürlich selbst Bestimmte.

Wo Schimmelpfennigs Text eindeutig und unterkomplex erscheint – und es womöglich auch ist – zieht Lenk einen Raum zwischen den Zeilen ein. Er heißt Spiel. Sie wechselt leichtfüßig zwischen den ästhetischen Repräsentationsebenen hinterher, zwischen Traumspiel (Guckkasten) und analytisch-metatheatraler Familienaufstellung (Hauptbühne), setzt sie als gleichwertige Pole gegeneinander und miteinander in Spannung, lässt sie sich gegenseitig ironisch brechen. Natürlich sind die alternativen Ichs (von Elias Ahrens und Franziska Machens mit viel Liebe zur Überzeichnung aufgeladen) ebenso albern wie ihre spießig grauen Originale (Camill Jammal als verloren trotziger Familienvater und Franziska Machens, deren Mutterfigur die besten, weil berührendsten Momente hat, weil bei ihr – etwa in einer mehrschichtigen Barszene mit ihr als Zufallssängerin – sich so etwas wie echte Verzweiflung und Sehnsucht andeuten).

Und ebenso wahr, wenn auch auf einer vollkommen anti-realistischen Ebene. So erstarrt wie der sich in nicht aneckender Mittelmäßigkeit eingerichtet habender Durchschnittsbürger ist eben sein Gegenentwurf. Wer sich kein Potenzial zugesteht, wird es auch in seinen Träumen nicht haben. m Ende sitzen all idyllisch sprachlos am Frühstückstisch – die angespannte Spießerfamilie wie ihre nackten, selbstbewussten Alter Egos. Ein Horrorbild oder eines der Hoffnung? Wahrscheinlich beides und eben nichts von beidem. Sondern einfach nur ein „So ist es halt“. „Wenn du nicht da bist, wo du bist, wo bist du dann?“, singen sie mehrfach. Vielleicht im Traum oder in der Vorort-Vorhölle. Die vielleicht ein Startpunkt sein kann. Wer weiß? In Anne Lenks angenehm unangestrengter, den Text liebevoll ironisierender und hinterfragender Inszenierung ist auch das keine Option, die verworfen wird.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/13/wenn-spieser-traumen/
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