Im letzten Röcheln des Fin de siècle

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 12. Januar 2018. Wie Donald Trump sich auch äußern wird, wenn er bald in Davos beim Weltwirtschaftsforum aufkreuzt: Man darf davon ausgehen, dass es entschieden weniger Wörter sein werden, als Thomas Mann sie seinen Protagonisten auf dem "Zauberberg" in den Mund gelegt hat. Auch wenn's ziemlich postfaktisch zugehen mag da wie dort. Und keine Sorge: Wenn auch "Der Zauberberg" in etwa vier Mal mehr Seiten hat als eine derzeitige Twitter-Nachricht Buchstaben – in der Strichfassung von Alexander Eisenach, die im Grazer Schauspielhaus zur Uraufführung kam, bleibt sehr viel Thomas Mann übrig. "Im Handumdrehen werden wir mit der Geschichte nicht fertig werden", das gilt für Theater und Buch. Und sage keiner, er wäre in den ersten fünf Minuten nicht gewarnt worden.

Überrumpelnde Bildermacht

Ein erwartungsgemäß langer, aber keineswegs endloser Abend. Eine Aufführung, in der das Nicht-Verjährtsein eines literarischen Textes ohne plumpe Anbiederung übermittelt wird. Eine Textfassung, die gerade so eingekocht ist, dass sie den jeweiligen Darstellern, den Typen und Physiognomien eine deutliche Ambivalenz aus spielerischem Duktus und lauernder Aggressivität ermöglicht. Also keine eindimensional gemeißelten Figuren, geopfert auf dem Schlachtfeld der Didaktik. Schließlich eine Aufführung, die immer wieder, vor allem in den ersten beiden der in Summe dreieinhalb Netto-Spielstunden, mit ihrer Bildmächtigkeit überrumpelt.

DerZauberberg3 560 Lupi Spuma uUnd wenn sie nicht gestorben sind, dann kuren sie noch heute... Alexander Eisenachs Grazer Ensemble © Lupi Spuma

Die Liegestühle hat Alexander Eisenach optisch und inhaltlich rausredigiert. Die Liegekur: Da wird der junge Castorp am Boden eingewickelt in eine riesige rote Decke und gleich auch noch mit Leukoplast gefesselt. Es geht schnell ans Eingemachte für Hans, diesen reinen Toren im letzten Röcheln des Fin de siècle. Genau deshalb ist, nach einer olfaktorischen Orgie des Ensembles vor noch geschlossenem Vorhang, rasch ausgehustet.

Im Pandämonium des Small Talk

Ein Halbrund aus drei Fenster-/Türbögen auf der Drehbühne, daneben werden mit Hebebühne und Versenkung ganz rasch andere eher angedeutete Räume herbei- und wieder weggeholt. Phasenweise ist eine Videokamera den Protagonisten auf den Fersen, liefert überdimensionale Projektionen auf einen Gazevorhang, hinter dem das reale, fast verzwergt wirkende Spiel durchscheint. Da wird sichtbar gemacht, wie verrückt die Maßstäbe, wie verquer die Proportionen in den Gesprächen der Menschen hier im Sanatorium sind, wie sich ihr "Small Talk" unversehens zur bizarren Groteske, zum beängstigenden Pandämonium auswächst. Diese Menschen untermauern ihre Argumente mit heftigstem Gestikulieren, mit jäh losbrechender Energie und ausuferndem Bewegungsdrang. Soigniertheit ist generell keine Tugend im Sanatorium Berghof, eher ständige Bewegung, ein Zootier-Effekt. Clawdia Chauchat (Sarah Sophia Meyer), die Französisch sprechende Dame aus Russlands tatarischer Ferne, ist innerhalb der in Höhenluft entrückten Menagerie ein nicht minder charismatisches, wenn auch ruhigeres Exemplar.

DerZauberberg2 560 Lupi Spuma uTheaterzauber auf dem Zauberberg: Clemens Maria Riegler und Raphael Muff © Lupi Spuma

Hans Castorp (Raphael Muff, ein Temperamentbündel mit blonder Haarmähne) kommt also in diese Gesellschaft und rasch in die Fänge des ihn nicht nur ideologisch bedrängenden Settembrini (Florian Köhler). In einer buffonesken Szene heißt es vielleicht zu optimistisch, zwei Drittel im Publikum hätten den Roman nicht gelesen – diesem wird vielleicht nicht gleich aufgehen, dass der radikale Naphta (Nico Link) ein Kirchenmann, ein besserwisserischer Jesuit ist. Er hat eine lange Soloszene nach der Pause, in der er ein Kreuz schleppt und über all die ideologischen -Ismen herzieht, die nicht die Seinen sind. Doktor Behrens (Frederik Jan Hofmann) und der zur Frau mutierte Doktor Krokowski (Evamaria Salcher) üben dosierte, aber keinen Widerspruch duldende Gewalt aus.

Krieg bis hin zum höchsten Gipfel

In kaum einem literarischen Werk der Zeit kommt übrigens die Psychoanalyse so schlecht weg wie im "Zauberberg". Mynheer Peperkorn (Franz Xaver Zach) produziert aufgeblasen seine Worthülsen, wogegen Joachim Ziemssen (Clemens Maria Riegler) mehr als einen Anflug von Pragmatik und Lebensnähe zeigt. Er wird der einzige sein, der die Abreise wagt – aber er bringt denn auch, nach der als vorletzte Szene gruppierten Séance, die ruinöse Botschaft vom Krieg, er wird zuletzt all die Leute als Leiber (und Opfer) auf einen Haufen befördern. Höhenluft schützt vor dem Gang der Welt nicht.

Tribut an die außerordentliche Länge der Aufführung: Der Teil vor der Pause wirkt sprachlich präziser gefasst, in den Spiel-Anordnungen stringenter und besser synchronisiert. Ein wenig wirkt es so, als sei dem Regisseur dann mal eingefallen, dass die langen Monologe auch ihre Zeit brauchen – und das passiert, gelegentlich schon sprachlich recht gestelzt, vorwiegend im zweiten Teil. Da geht's schon auch über Strecken dürr und sperrig zu. Aber Alexander Eisenach bekommt das immer wieder in den Griff, entfacht mit Drehbühnen- und Lichteffekten Theaterzauber, baut im entscheidenden Moment aufs Charisma seines insgesamt hochambitionierten Ensembles. Niemand kann erwarten, dass der "Zauberberg" umfassend nach-, geschweige denn fertig erzählt würde. Auch in dreidreiviertel Stunden nicht.

 

Der Zauberberg
nach Motiven aus dem Roman von Thomas Mann
Textfassung von Alexander Eisenach
Regie: Alexander Eisenach, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Beni Brachtel, Video: rocafilm, Licht: Thomas Trummer, Dramaturgie: Karla Mäder.
Mit: Vera Bommer, Raphael Muff, Clemens Maria Riegler, Fredrik Jan Hofmann, Evamaria Salcher, Florian Köhler, Nico Link, Sarah Sophia Meyer, Franz Xaver Zach.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

"Zu erleben ist ein, wie es am Ende heißt, 'Weltfest des Todes'," schreibt Werner Krause in der Kleinen Zeitung (13.1.2018), "optisch auf der häufig rotierenden Drehbühne grandios durch eine Bilderflut unterstützt, zelebriert von einem großartigen Ensemble, das enorme Wandlungsfähigkeit beweist und die wohl schwierigste Aufgabe bravourös bewältigt - ein mächtiges, mit viel List und Hinterlist ausgestatettes Textmassiv ganz und gar eindrucksvoll zu erklimmen. Auch ein Gipfelsieg - jener der Schauspielkunst."

Aus Sicht von Margarethe Affenzeller von der Wiener Tageszeitung Der Standard (15.1.2018) ist die Inszenierung da am stärksten, "wo die Räume dieses seltsamen Hortes samt ihren Traumbildern selbst zu sprechen beginnen. Wenn etwa ein Pferdeskelett an die bevorstehenden 'Stahlgewitter' gemahnt oder ein Kreuz seinen Schatten wirft." Statt auf formale Entschlossenheit legt Eisenach aus Sicht der Kritikerin "das Gewicht auf technische Betriebsamkeit: Wundertüte Unterbühne! Aus ihr hebt sich so einiges..." Auch das "lang hinausgezögerte Ende" bekomme dem Abend nicht.

Sehr lebhaft, theatralisch und bildmächtig geht es in dieser Inszenierung aus Sicht von Barbara Petsch von der Wiener Tageszeitung Die Presse (15.1.2018) zu. Manches wirkt auf die Kritikerin gar effekthascherisch. Insgesamt findet sie den Abend "zerfasert, ungestüm und chaotisch wie das Leben selbst. Und wer sich geduldet und nicht in der Pause flüchtet, wird sehen, wie sich diese etwas überambitionierte Produktion im zweiten Teil fast perfekt rundet und verdichtet."

 

 

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