Sex mit Puppen

von Sabine Leucht

München, 13. Januar 2018. Dieses frischgebackene Liebespaar ist bereits in die Jahre gekommen. Die Falten in seinem Gesicht korrespondieren aufs Trefflichste mit denen des graublauen Vorhangs im Münchner Cuvilliéstheater. Ihr blutroter, vergrämter Mund passt farblich gut in die Fürstenloge, aus der sie ihre Verwunderung über den Ort kundgibt, an den er sie gebracht hat. In Patrice Chéreaus legendärer Inszenierung von Marivaux' 1744 verfasster Komödie "Der Streit" standen die Fürstin Hermiane und ihr prinzlicher Gatte in spe im Urwald vor einem finsteren Schloss. An diesem Abend findet der Menschenversuch, den der Prinz seiner Holden gleich vorführen will, in einer nüchtern weißen Mischung aus Kampfplatz und anatomischem Theater statt.

DerStreit1 560 Thomas Dashuber uDie Bühne als Labor: Kyrre Kvam (Musiker), Arthur Klemt (Mesrou), Oliver Nägele (Eglé), Manuela Linshalm (Mesrin), Mathilde Bundschuh (Carise)  © Thomas Dashuber

Eine ganz ähnliche Menschenversuchsgeschichte hat der österreichische Shootingstar Nikolaus Habjan erst im Sommer mit Carl Maria von Webers Oper "Oberon, König der Elfen" für die Münchner Opernfestspiele inszeniert. Dass er es nun bei seinem Regie-Einstand am Bayerischen Staatsschauspiel schon wieder tut, liegt wohl weniger an Habjans Vorlieben als an den Münchner Dramaturgen, die bei solchen Stoffen offenbar gleich an Puppentheater denken (sonst leider (noch) nicht). Und wer im deutschsprachigen Theater an Puppentheater denkt, denkt sofort an Habjan, der Puppen bauen und lebendig werden lassen kann wie kein zweiter. Sein Klappmaulpuppen-Solo F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig gehört für mich zum technisch eindrucksvollsten und menschlich bewegendsten, was ich je auf einer Bühne gesehen habe.

Daher rührt wohl auch die leise Enttäuschung über den aktuellen Abend, die bereits mit dem Thema beginnt und also voraussehbar war. Denn ging es in "F. Zawrel" um Habjans persönliche Annäherung an ein reales Opfer der menschenverachtenden NS-Politik und der österreichischen Nachkriegsjustiz, geht es in "Der Streit" bloß um die theoretische Frage, welches Geschlecht die Untreue in die Welt gebracht hat, die den Prinzen umtreibt. Ähnlich banale Sorgen haben vor rund 18 Jahren auch seinen Vater schon geplagt, weshalb er vier Kinder vom Rest der Menschheit isolierte, die nun von ihren einzigen bisherigen Vertrauten, den Dienern Carise und Mesrou, aufeinander losgelassen werden.

Unterm Rock verschwunden

Eglé und Azor, Adine und Mesrin sind anders als der Prinz und Hermiane keine Habjan-typisch grotesken Klappmaulpuppen, sondern in verschiedenen Holzfarben bemalte Kreuzungen aus Crashtest-Dummie und Maler-Modellpuppe des 18. Jahrhunderts – und wie diese und jene dazu geschaffen, eine Funktion zu erfüllen. Hier ist es die, einander zu gefallen. Und das klappt aufgrund der Vorgaben Marivaux' und der verführerisch glitzernden Puppenaugen so gut, dass sich flugs jeder in jeden verguckt. 1744 hatte das vor allem heftige Handküsse zur Folge. Und Habjan beginnt ähnlich keusch, lässt dann aber erst die Männer bei der gepflegten Unterhaltung über Essen und gegenseitige Sympathie ganz handfest übereinander herfallen und kurz darauf den ganzen Mesrin unter dem Rock einer zunehmend aufgelösten Eglé verschwinden. Erotik: keine Kleinigkeit bei unterleibslosen Puppen. Deshalb sind auch alle Schau- respektive Puppenspieler involviert. Neben Habjan selbst (der Vielbeschäftigte wird sich künftig mit seiner Wiener Kollegin Manuela Linshalm abwechseln) führen Oliver Nägele, Mathilde Bundschuh und Arthur Klemt die Puppen meist zu zweit und leihen ihnen in den Sex-Szenen auch die sich spreizenden und zuckenden Beine.

DerStreit4 560 Thomas Dashuber uIn der Menschenversuchsanstalt: Manuela Linshalm, Arthur Klemt, Mathilde Bundschuh, Oliver Nägele © Thomas Dashuber

Das groteske Körper-Kuddelmuddel, das dabei entsteht, ist nur eines der Mittel, mit denen Habjan deutlich macht, dass alles an dieser Versuchsanordnung inszeniert ist und der freie Wille der Figuren eine Illusion. Doch nicht die Adligen ziehen hier die Fäden, sondern die Diener: Nervt Eglés Eitelkeit sie allzu sehr, legt ihr Mathilde Bundschuh als Carise die Hand auf den Mund. Das dritte "Kinder"-Paar, das ebenso plakativ treu ist wie die anderen beiden untreu und das auch im Stück etwas deus ex machina-mäßig auf den Plan tritt, lassen die Diener nur auf eine Stippvisite aus dem Schnürboden herabschweben. Und weil die Zuordnung zwischen Spieler und Figur oft wechselt und zuletzt auch jeder mal aus aus der Puppenspielerrolle heraus in die Rolle der Diener geschlüpft ist, erscheinen im Nachhinein selbst der Prinz und Hermiane als von ihnen manipuliert. Das wirkt ein wenig verwirrend und überkonstruiert.

Aber vieles ist auch ganz klar: Habjan ironisiert Marivaux' pädagogischen Impetus, vergrößert den ohnehin schon klischeehaften Zickenkrieg der Damen, indem die Schauspieler*innen sie an gut sichtbaren Schnüren in die irrwitzigsten Positionen zerren, und macht am Ende in einer überraschenden und ziemlich unheimlichen Szene klar, warum das Ganze bei ihm in einem anatomischen Theater spielt. Man kann dabei aktuelle Fragen wie die nach der Konstruiertheit des Geschlechts mitdenken, und dennoch wird Marivaux' schlichter Versuchsanordnung nicht mehr Gewicht aufgeladen als sie tragen kann. Die irrlichternde Live-Musik Kyrre Kvams, der die Sonette Louize Labés in sehnsüchtigen Sprechgesang übersetzt, sind ein zusätzliches Irritationsmoment – und Geschmackssache. Der Abend als Ganzes ist (trotz der leisen Enttäuschung) ein Gewinn für das Haus.

 

Der Streit
von Pierre Carlet de Marivaux
Deutsch von Peter Stein
Liedtexte nach Louize Labé, Deutsch von Rainer Maria Rilke
Regie und Puppenbau: Nikolaus Habjan, Bühne: Jakob Brossmann und Denise Heschl, Kostüme: Denise Heschl, Musik: Kyrre Kvam, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Thorben Meissner.
Mit: Nikolaus Habjan / Manuela Linshalm, Oliver Nägele, Arthur Klemt, Mathilde Bundschuh, Kyrre Kvam (Live-Musik).
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Was für die Zuschauer, die ihre erste Habjan-Produktion sehen, wie ein Experiment wirken mag, wird zu einem Theaterereignis", jubelt Rudolf Neumaier in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2018). Ein Fabelstück wie Marivaux’ "Streit" sei bei ihm und seinen Puppen bestens aufgehoben. "Mit minimalen Bewegungen der Gliedmaßen stellen Habjan und seine Mitspieler die größten Gefühle dar." In der "Männer-Sex"-Nummer des Abends erlebe man nicht nur den bebendsten Orgasmus, den man sich vorstellen könne, es sei auch eine Schlüssel-Szene in der Inszenierung: "Alles kann, nichts muss, und solange Menschen ihre Multisexualität naiv und rein leben, behalten sie ihre Unschuld."

"Es ist faszinierend zu sehen, wie die Puppen, deren Augen verlockend funkeln, zum Leben erwachen, wie sich ihr jeweiliger Charakter herausbildet", so Michael Schleicher im Merkur (15.1.2018). Mit seinem Ansatz verzaubere Habjan die doch recht erwartbar dahinschnurrende Komödie. Der Puppen-Gruppensex führe Marivaux' banalen Versuchsaufbau vogelwild und endgültig ins Absurde. "Wer die Untreue in die Welt gebracht hat? Eh wurscht, so lange alle ihre Freuden daran haben."

"Nach ei­ner klei­nen Wei­le Jahr­marktsstau­nen über die gra­zi­le Tech­nik der Vor­füh­rung wirkt das Pup­pen­spiel selbst al­ler­dings bald arg pos­sier­lich, hat sich der über­ra­schen­de Wirk­me­cha­nis­mus ab­ge­nutzt", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.1.2018). Die Pup­pe als Stell­ver­tre­ter des Men­schen funk­tio­niere ge­ra­de dann nicht, wenn es um sei­ne Lei­den­schaf­ten aus Fleisch und Blut gehe. "Um Gen­der­trou­ble, Sex und Po­ly­amo­rie – mit et­was In­sze­nie­rungs­ge­schick und le­ben­der Spiel­lust hät­te das durch­aus ein un­ter­halt­sa­mer, bis­si­ger Kom­men­tar zur der­zeit gras­sie­ren­den ero­ti­schen Grund­ver­un­si­che­rung wer­den kön­nen. Aber die Pup­pen als Haupt­per­so­nen über­strah­len al­les, was in­halt­lich ver­han­delt wird be­zie­hungs­wei­se über­tra­gen wer­den könn­te, in­dem sie die ober­fläch­li­che Auf­merk­sam­keit des Pu­bli­kums auf sich und ih­re über­ra­schend men­schen­ähn­li­chen Be­we­gun­gen zie­hen."

 

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