Spiel mir den Europa-Blues

von Maximilian Pahl

Zürich, 18. Januar 2018. Für ein nachnationales Europa! Und vor allem: Nie wieder Auschwitz! Und dass sich das erste aus dem zweiten herleitet, hat der österreichische Schriftsteller Robert Menasse schon vergangenen März in seiner Rede zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge gesagt. Und im wunderbaren EU-Roman "Die Hauptstadt" literarisch verstrickt, wofür er den Deutschen Buchpreis 2017 erhielt.

Nun kann man sich in Tom Kühnels Uraufführung am Zürcher Neumarkt neu von diesen Ideen ergreifen lassen, spätestens, wenn sich Sarah Sandeh als Professor in zu großen Manchesterhosen und mit noch größerer Dringlichkeit daran entflammt. Sie geht noch ein Stück weiter, fordert die Erbauung einer neuen europäischen Hauptstadt in Auschwitz, als "ewiges Fanal für die künftige Politik". Und ist sich des Karrieretods im Brüsseler Think Tank damit schon gewiss. Da hilft ihr auch kein Rumfuchteln mit einer "Normgurke". Wir sind in der EU, diesem Apparat, den Menasse zerlegt, verhöhnt, doch immerzu auch für sein Potential hochschätzt. In der EU, wo Statistiken zu gelegten Hühnereiern vorliegen, nicht aber zu noch lebendigen Shoa-Opfern, wie Marie Bonnet treffsicher pointiert.

Der EU-Referent von der traurigen Gestalt

Den Europa-Blues hat auch Martin Butzke als fleischgewordene Schwermut, als EU-Referent und Abkömmling einer österreichischen Schweinezucht-Dynastie, und er singt ihn steinern und still. Zurück aus Auschwitz, wo Besucher ohne Badge kein Aufenthaltsrecht haben, erschüttert ihn erneut die erste Zeile dieses Liedes: "Nie wieder!" Beauftragt und doch eher benutzt von einer zypriotischen Karrieristin, war er von Amtes wegen dort. Seine Schilderungen gehen zwischen klingelnden Smartphones unter. Trotz warmer, deutscher Unterwäsche kehrt er erkältet zurück, ist innerlich erstarrt – äußerlich schleppt er sich in die Brüsseler Sitzungen und die "reflection groups", wohin er in Warnweste und gewappnet für den urbanen Fahrradkampf radelt.

Hauptstadt 2 560 Barbara Braun MuTphoto uPolitischer Geburtstag: vorne Maximilian Kraus und Hanna Eichel, hinten v.l. Simon Brusis, Marie Bonnet, Martin Butzke, Miro Maurer © Barbara Braun / MuTphoto

Diese lächerlich behelmte, traurige Gestalt mit ihrem konzentrierten, phlegmatischen Leiden am Status Quo dürfte damit maßgeblich an den Tränen beteiligt sein, die Menasse beim Schlussapplaus in den Augen stehen. Hier wurde sein Werk emporgehoben. Über zwanzig verquickte Figuren haben Kühnel und der Dramaturg Ralf Fiedler in die Spielfassung überführt. Und die aberwitzige Hoffnungs-Satire von Musil'schem Schlag, die im Getriebe verhedderte europäische Idee, wird aus den Buchseiten herausgelöst und zum teilbaren Polit-Theater, zu einem Figuren-Essay unschätzbaren (Unterhaltungs-)Wertes.

Fechtkämpfe in Brüssel

Skypen in die abgehängte Heimat: Susmans Bruder (ebenfalls der brillant aufspielende Butzke) muss seine Schweinezucht stilllegen. Der ganze Bühnenboden ist eine dauernde Projektionsfläche, für die Jo Schramm ebenso verantwortlich ist wie für die aktuelle Umgestaltung des Neumarkt-Zunftsaals zum zweistöckigen Globe Theatre mit nichts weiter an Bühnenbild als einem rundum einsehbaren Filmboden. Dort echauffiert sich der Bruder aus dem Krankenbett heraus, dort wird aber auch die Film-noir-Atmosphäre geschaffen, schwarz-weiß erscheint das Brüsseler Kopfsteinpflaster, immer wieder Spielereien mit den gelben Sternchen auf blauem Grund.

Maximilian Kraus' Stimme verleiht dem vielbeschäftigten Erzähler eine auktoriale Verlotterung. Kraus tritt aber auch in die Geschichte ein, etwa als Abgeordneter im Streit mit Marie Bonnet, ausgetragen als Fechtkampf in voller Montur (und Verkabelung). Während er dabei galant pariert, fuchtelt sie eher fatalistisch mit der Klinge. Bonnets Figur wird an der Angst zerbrechen, im Brüsseler Apparat nicht mehr aufzusteigen. Sie fragt nach Zigaretten – und Robert Menasse hat eine für sie. Dann wandelt sich der Boden zum zypriotischen Strand, sie weicht den Wellen aus und kippt in die Schizophrenie.

Hauptstadt 1 560 Barbara Braun MuTphoto uAuf dem nassen Brüsseler Asphalt: Simon Brusis und Marie Bonnet © Barbara Braun / MuTphoto

Auf "schrullige" Ideen wie die Erfindung des Senfs ("einer Paste, die den Eigengeschmack einer Speise völlig überdeckt, ohne selbst gut zu schmecken") folgen folgerichtig schrullige Regieeinfälle: Jemand krümmt sich in einem Senftubenkostüm. Dann stehen Miro Maurer und Simon Brusis als Beamte auf einem projizierten Tenniscourt und spielen sich trocken, zu synchron eingespielten Tönen, die Bälle zu. Apropos Töne: Auf die bewährte Bühnenpräsenz von Polly Lapkovskaja muss der Abend zwar verzichten, dennoch liefert sie mit ihrer Band Pollyester den Soundtrack ab Band: "Euro-Trash-Girl" oder "Airport, Fairport" lautet es in den tieftönig elektronischen Songs, die den Szenen zugeschnitten sind.

Bei Beethovens Neunter wird der Boden zum Touchscreen und die Beamten patschen, den gnadenlos durchlaufenden Noten folgend, auf eine Klaviatur – immer etwas zu spät, was am Klang aber nichts ändert. Das Bild mag etwas gesucht sein; doch die synthetische Europahymne löst einen Wunsch aus, der an diesem Abend erfüllt wurde: Dass ihn jemand weiterdichtet und neuinterpretiert, diesen Roman, diesen Europa-Blues. "England war aus dem Spiel, auch wenn sie noch im Spielfeld herumstanden", lautet eine Pointe. Dem Stoff ist eine möglichst große Verbreitung zu wünschen, in England und auf allen europäischen Spielfeldern sonst.

 

Die Hauptstadt
von Robert Menasse
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Polly Lapkovskaja, Video: Oliver Deichmann, Karl Gärtner, Jo Schramm, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Licht: Karl Gärtner, Ueli Kappeler, Maske: Denise Christen.
Mit: Martin Butzke, Marie Bonnet, Simon Brusis, Hanna Eichel, Maximilian Kraus, Mikkel Rykart, Sarah Sandeh, Pablo Schneider.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

"Bild um Bild, atemlos in den Stimmungs- und Lichtwechseln", forme sich "ein fiebriges, latent hyperbolisches Schlachtengemälde der schauspielerischen Verausgabung und der Effekte", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (20.1.2018) Sie verweist auf die Schließdebatte über das Neumarkttheater und lobt den Mut des Hauses. Der Abend sei "ein Schlachthaus der Publikumsgefühle und der schauspielerischen Mittel", zudem die Quintessenz des literarischen Wurfs mit der künstlerischen Quintessenz der Inszenierung identisch.

"Kräftig farbige, knallbunte Short Cuts", von Regisseur Kühnel mit viel rhythmischem Geschick montiert, hat Andreas Klaeui erlebt, wie er im SRF (19.1.2018) berichtet. "Darüber hinaus gibt es eigentlich keine besondere Regie-Tat zu vermerken, Tom Kühnel bleibt nah an der Konstruktion des Romans, er gewichtet nicht, interpretiert kaum und nimmt über die Bebilderung hinaus auch keine weitere Regie-Haltung ein." Statt Figuren mit Tiefe gebe es Chargen. Klaeuis Fazit: "Lesen Sie das Buch, und stellen Sie sich ihr eigenes Theater vor."

"Ob­wohl an die­sem Abend na­tur­ge­mäß viel, viel­leicht zu viel ge­re­det wird, gibt es auch ei­ni­ges zu se­hen: über zwan­zig Fi­gu­ren und wohl eben­so vie­le Gen­res und Spiel­for­men", berichtet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.1.2018). Küh­nels und Fied­lers Text­fas­sung halte sich eng an die Vor­la­ge. "Zwar ver­liert der 450-Sei­ten-Ro­man auf der Büh­ne ei­ni­ges an sa­ti­ri­schem Un­ter­fut­ter, All­tags­be­ob­ach­tun­gen und his­to­ri­scher Tie­fen­schär­fe, aber über drei Stun­den po­ly­phon-in­ter­na­tio­na­le Brüs­sel-Re­vue in Short-Cuts-Ma­nier sind mehr als ge­nug."

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