Moby Dick – Jan-Christoph Gockel bringt Herman Melvilles Überroman auf die Bühne des Stuttgarter Staatstheaters
Routinen des Tötens
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 20. Januar 2018. Sie treten ihm in die Nieren, würgen und quälen ihn, bis er jämmerlich heult und stöhnt und Blut spuckt: Die Crew der "Pequod" foltert einen Matrosen, ein hilfloses Mobbingopfer, denkt man zunächst. Aber da steht der Schauspieler Felix Mühlen plötzlich auf und beginnt einen dezidierten Vortrag über das Wale-Abschlachten. Während er aufgedreht von der Häutung des Walkadavers und allen weiteren Zerlegungsmaßnahmen der Walfänger doziert, wird er von den Kollegen kopfüber an einem Haken in die Luft gezogen, mit dickflüssigem Theaterblut besudelt und seines ehemals weißen Hemdes entledigt. Eine sehr eindrückliche, überraschende Szene in der neuesten Produktion des Staatstheaters Stuttgart, das jetzt eine Adaption von Herman Melvilles Roman "Moby Dick" auf die Bühne seines Kammertheaters brachte.
Umgarnter Plot
"Moby Dick“ ist als Theaterstoff beliebt: Quer durch die Republik – von Freiburg bis Greifswald – konnte und kann man die Geschichte vom Rachefeldzug des finsteren Kapitäns Ahab gegen den weißen Pottwal Moby Dick, an den er ein Bein verlor, auf den Bühnen sehen. In allen möglichen Fassungen. Das ist erstaunlich, ist doch der 900-Seiten-Roman schon in seiner ursprünglichen Form kaum zu fassen. Exkurse über Exkurse – ob religiöser, philosophischer oder wissenschaftlicher Art – umgarnen den Plot mitsamt seinem wahrlich enzyklopädisch vermittelten Wissen über Seefahrt und Walfang. Aber das macht diesen Roman eben auch so modern: dieser unbedingte Wille, die ganze Welt in ihrer Komplexität abbilden zu wollen.
Aber wie das schier überbordende Material auf der Bühne bändigen? Regisseur Jan-Christoph Gockel, die Dramaturgin Karin Spira und das Ensemble – alle an der Bühnenfassung beteiligt – haben sich redlich bemüht, in die Tiefe des Romans vorzudringen. Oberflächlich oder bloß effekthascherisch ist der Abend nicht.
Das ausdrucksstarke Bühnenbild von Julia Kurzweg liefert eine gute Vorlage: ein großes Schiffswrack, in zwei Teile zerborsten, eingesponnen in wirre Takelage und von innen illuminierbar wegen lichtdurchlässiger Bootswände. Diese "Pequod" liegt still und schwer in Nebelschwaden, wenn die Crew aufs Erscheinen eines omnipräsenten wie irrealen Phantoms wartet. Stillstand. Dann, wenn aufgedrehter Aktionismus angesagt ist, weil der weiße Wal angeblich erspäht wurde, wiegt der Schiffstorso hin und her wie im Sturm, und die Elektrik-Sounds von Live-Musiker Matthias Grübel switchen vom Meditationsmodus in Metal-Gitarrenschrammeln.
Wilde Wogen des vertanen Lebens
Die Spannungskurve stimmt zunächst: Ahab, den Wolfgang Michalek erst noch als Coolen spielt, dreht sich immer schneller im Hamsterrad seiner existenziellen Grübeleien, bis er völlig verwirrt und weiß bepinselt von der Decke hinunterfährt auf die Bühne, wo die "Pequod" – dank beleuchtender Verwandlungskunst – walartige Umrisse angenommen hat. Wobei jetzt spätestens klar wird, dass Moby Dick eben vor allem eine Projektionsfläche für Ahabs Allmachtstreben und Sinnsuche darstellt. Und so spricht Ahab seine letzte Worten nicht wütend, sondern begreifend für sich: "Aus allen Meeren strömt herbei, ihr wilden Wogen meines ganzen vertanen Lebens, und türmt euch auf zu diesem einen Brecher meines Todes."
Die Crew hat der Alte mit ins Verderben gezogen. Ahabs Gegenspieler Starbuck, der rationale, dennoch gläubige Schiffsmaat: Das ist eine große Rolle für Christian Schneeweiß, der dem Publikum die Bibel-Geschichte von Jona und dem Wal mit wahrhaft sektenverführerischem Furor um die Ohren haut
Aus Walknochen Puppen bauen
Und der Ich-Erzähler des Romans, Ismael? Zerhackt (Wal-)Knochen und baut Puppen daraus. Regisseur Gockel hat dafür den Mainzer Schauspieler Michael Pietsch mit ins Boot geholt, der auch Puppenbauer und -spieler ist. Und er hat dem sechsköpfigen Ensemble verblüffend ähnliche Mini-Doubles, kleine Stockpuppen, an die Seite gestellt, mit denen nun die Sinnlosigkeit der Suche nach Moby Dick auf die Spitze getrieben wird. Wer denkt da nicht an Kleists Essay "Über das Marionettentheater", in dem es ja auch um die Themen Unterordnung des Ichs (Crew), Scheitern am freien Willen (Ahab), verlorene Unschuld (alle) geht. Wirkungsvoll: zum Beispiel Ahab als kleine Puppe, von ihm selbst geführt, zitternd in Albträumen gefangen. Das wirkt glaubwürdig. Etwas kitschig dagegen die niedliche Möwe, die Pietsch am Ende zum Radiohead-Song Street Spirit (Fade Out) an Fäden durch die Lüfte gleiten lässt.
Lust am Untergang
Und manchmal sucht der Ernst die Entladung im Humor. Wie in der Szene "Taifun", wenn's um die harten Bedingungen an Bord geht: "Wenn ein Mann durch und durch nass ist, dann ist es schwierig, vernünftig zu sein", sagt Steuermann Stubb. Und Starbuck im Ölzeug kriegt nicht nur vom Harpunier Queequeg penetrant-monoton Wasser ins Gesicht gespritzt, sondern von Stubb gleich einen ganzen Eimer in die Latzhose geschüttet. Jetzt endlich reißt Starbuck der Geduldsfaden, und er springt im Quadrat.
Die Routine des Tötens, die zunehmende Besessenheit, Todesangst oder Ahabs Lust am eigenen Untergang – das vermittelt sich an diesem Abend Stück für Stück. Schwächen? Monologe, die zuweilen die Kollegen zu Statisten degradieren. Dass die Rolle des Queequeg so unterbelichtet bleibt. Der Einbruch der Spannungskurve nach eindreiviertel Stunden. Und doch: Es ist ein sehenswerter Theaterabend, der der Vorlage mit den Mitteln des Theaters erfolgreich gerecht zu werden versucht. Das ist wahrlich kein Kinderspiel.
Moby Dick
nach dem Roman von Herman Melville
Bühnenfassung von Jan-Christoph Gockel, Katrin Spira und Ensemble
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne und Kostüme: Julia Kurzweg, Musik / Hörspiel: Matthias Grübel, Puppenbau / Puppendesign: Michael Pietsch, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Wolfgang Michalek, Christian Schneeweiß, Robert Kuchenbuch, Felix Mühlen, Komi Mizrajim Togbonou, Michael Pietsch, Matthias Grübel (Live-Musik).
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Melvilles hochkomplexer Roman biete sich hier als gelungene Bemühung an, der Gefahr des nur Hörspielhaften durch einen sinnfälligen visuellen Kontrapunkt zu den Worten zu entgehen, so Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten (22.1.2018). "Wo der Schiffsrumpf auf der Bühne mit der Mannschaft hin und her schwankt und die Lichtregie das Ihre dazu beiträgt, lässt sich sehr bühnenwirksam ein veritabler Sturm auf See imaginieren: Theaterzauber der feinen Art." Kurz vor Ende lege die Inszenierung Ismaels Gedanken in abgewandelter Form dem Farbigen Queequeg in den Mund. "Sie geraten zu einer Anklage der Weißen und des Kolonialismus – und zu einem Bekenntnistext für die Critical Whiteness Studies unserer Tage." Fazit: "Als Romanadaption gehört dieser Theaterabend zur gelungenen Sorte."
Vielschichtig, überraschend und mit Humor erzählten Jan-Christoph Gockel und seine großartigen Schauspieler*innen die Geschichte des besessenen Kapitän, meint Karin Gramling bei SWR2 (22.1.2018). Für menschlichen Größenwahn und seine zerstörerische Kraft finde Gockel "grandiose Bilder". Allerdings konzentriere er sich "zu viel auf den düsteren, zweiflerischen Ahab". Und zu oft greife er auf den Erzähler und Monologe der Schauspieler zurück, um die Handlung voranzutreiben – das "zieht die Inszenierung leider immer wieder in die Länge", so Gramling.
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