Die Kunst des Diebstahls

von Sascha Westphal

Düsseldorf, 25. Januar 2018. Die Zeiten der "Animal Farm" sind längst vorüber. George Orwells Allegorie auf den Terror Stalins und den letztendlich zwangsläufigen Verfall der Ideale der Oktoberrevolution hat ihre Dringlichkeit verloren. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist sie zu einem historischen Dokument geworden. Die Tiere, die sich in Orwells düsterer Vision gegen den Bauern Jones aufgelehnt und ihn vertrieben haben, sind seit langem tot. Insofern ist es nur konsequent, dass zu Beginn von Felix Ensslins Fortschreibung der Animal Farm mit anderen Mitteln die Enkel der Orwellschen Tiere die Bühne betreten. Man kehrt zurück und will doch etwas ganz anderes machen.

Das Ende der Geschichte

Dafür bürgt die von Daniela Scheuren verkörperte Cat. Ausgerüstet mit Peter Sloterdijks Idee vom Menschenpark will sie auf den Trümmern der sozialistischen Utopie eine rein wissenschaftliche Zukunftsphantasie Wirklichkeit werden lassen: "In der Maßnahme brauchen wir Kapital und Intelligenz, keine Revolutionen. Anstatt den Menschen zu befreien, sollte man ihn überwinden!"

"Befreien" und "Überwinden" mögen in der Selbstoptimierungslogik des Menschenparks, der etwas Neues, Über-Menschliches züchten soll, zwei Pole sein, zwischen denen ein Ausgleich undenkbar ist. Aber in der Kunst geht das eine durchaus Hand in Hand mit dem anderen. "Animal Farm – Theater im Menschenpark", die erste Zusammenarbeit des deutschen Regisseurs Felix Ensslin mit dem belgischen Theaterkollektiv AGORA, ist ein Akt der Befreiung und zugleich auch ein Versuch, das Bestehende zu überwinden. Ensslin und die sieben Spielerinnen und Spieler erlösen das Theater aus der Umklammerung der Erzählung. Motive aus Orwells Roman blitzen zwar gelegentlich auf. Aber es gibt keine Geschichte mehr, die noch erzählt werden müsste.

AnimalFarm6 560 Willi Filz uOrwells Erben. Bühne: Céline Leuchter © Willi Filz

Das AGORA Theater produziert hier anders als in seinen früheren Arbeiten, die weniger auf Sprache und dafür noch deutlicher auf die Biographien der Ensemblemitglieder gesetzt haben, nur noch Szenensplitter und Assoziationsfetzen. Es ist praktisch unmöglich, allen Verweisen und Anspielungen auf philosophische wie auf literarische Texte, auf politische Ereignisse wie auf religiöse Vorstellungen zu folgen. Dafür ist Felix Ensslins Text- und Bild-Collage einfach zu umfassend. Sprünge von Lenin in Zürich zu fehlerhaften Bibelübersetzungen sind ebenso selbstverständlich wie Hinweise auf den Eispickel, mit dem Trotzki in Mexiko ermordet wurde, und die heute gängige kulturelle Praxis der Appropriation, die das Ensemble übrigens meisterhaft beherrscht.

Im Strudel der Zeichen

Mit Blick auf Eminem, der in einem geloopten Ausschnitt aus dem Musikvideo zu seinem Hit The Way I Am fortwährend in die Tiefe stürzt, heißt es zwar einmal "appropriation is theft". Aber Diebstahl ist eben auch eine Kunst, vor allem wenn sich Karen Bentfeld in einem grandiosen Monolog Bruchstücke aus Madonnas Like a Virgin aneignet und im gleichen Zug den Mythos von der Jungfrau Maria dekonstruiert, während sie die Pose einer Madonna aus einem Renaissance-Gemälde nachahmt. Nur hält Karen Bentfeld statt eines Babys ein Mikrophon im linken Arm, und mit den Fingern der rechten Hand formt sie eine Pistole, die auf das Mikrophon zielt.

Alleine dieser eine Moment zieht einen in einen Strudel der Zeichen und Bedeutungen hinein. Gewissheiten lösen sich auf, und neue Verbindungen entstehen. Das Theater im Menschenpark führt die Idee der Selbstoptimierung, die immer auch eine Selbstbeschneidung und -Beschränkung ist, ad absurdum. Als Bodybuilder mag Eno Krojanker das Publikum zu einer aktiven Gestaltung des Körpers auffordern. Nur ist auch das wieder eine Sackgasse. Der gezüchtete Mensch wird genauso fallen gelassen wie sein Vorgänger.

AnimalFarm3 560 Willi Filz uKunst unter Gleichen © Willi Filz

Aber Ensslin und das Ensemble umreißen mit ihren politischen und wissenschaftlichen Utopien, die nur als Dystopien enden können, nicht nur die Kampfzonen der westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Sie thematisieren auch immer wieder die Geschichte des AGORA Theaters, das 1980 von Marcel Cremer im belgischen St. Vith gegründet wurde. Die damalige Idee weist durchaus Parallelen zu der Welt aus "Animal Farm" aus. In dem Theaterkollektiv sollte jeder alles machen. Die Spielerinnen und Spieler halfen mit beim Bühnenaufbau, während die Techniker und Technikerinnen mitspielten. Diese Strukturen zitiert Ensslin ausgiebig. So ist der Techniker Joé Keil fest als siebter Spieler in die Inszenierung eingebunden.

Anders als in Orwells Allegorie kann in der Kunstproduktion der Gedanke der Gleichberechtigung aller zumindest in Teilen funktionieren. Und selbst wenn er scheitert, erwächst daraus kein Terror. In dem geloopten Videoschnipsel schlägt Eminem niemals auf der Straße zwischen den Wolkenkratzern auf. Ikarus stürzt und stürzt und stürzt, und man kann ihn sich tatsächlich als glücklichen Menschen vorstellen. Perfektion ist eine zerstörerische Phantasie des Menschenparks, der das AGORA Theater die befreiende Idee des produktiven Scheiterns entgegenhält.

 

Animal Farm - Theater im Menschenpark
vom AGORA Theater
Text: Felix Ensslin mit Mona Becker
Regie: Felix Ensslin mit Daniela Scheuren, Technik & Spiel: Joé Keil, Bühne: Céline Leuchter, Lichtdesign: Jasper Diekamp, Ton: Christopher Hafer, Kostüm: Petra Kather, Musikalische Leitung: Wellington Barros, Choreografie: Catharina Gadelha, Film: Ludwig Kuckartz, Plakat: Nicolas Zupfer, Fotos: Willi Filz; Produktionsleitung und Regieassistenz: Judith Thelen, Dramaturgie: Mona Becker, Felix Ensslin, Künstlerische Leitung AGORA: Kurt Pothen.
Mit: Karen Bentfeld, Galia De Backer, Catharina Gadelha, Roger Hilgers, Eno Krojanker, Daniela Scheuren.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.agora-theater.net
www.fft-duesseldorf.de

 

mehr nachtkritiken