Der Kaufmann von Venedig - Karin Beier lässt am Hamburger Schauspielhaus Shakespeares Figuren sich selbst hinterfragen
Warum macht der das?
von Falk Schreiber
Hamburg, 28. Januar 2018. Shylock ist eine coole Socke. Da verlangt die höhere Tochter Portia, dass Hochzeitskandidaten sich einem lächerlichen Spiel aussetzen, indem sie aus drei Kästchen dasjenige erraten, welches Portias Bild enthält, und gleich der erste Freier tippt auf das goldene Kästchen. Worauf Shylock ans Mikro tritt und zu einem langen Vortrag anhebt über die Goldsymbolik in der Kunstgeschichte, Rembrandt, "Der Mann mit dem Goldhelm", Klimt. Der Vortrag ist detailreich, besserwisserisch, er ist gehalten mit der Souveränität eines Mannes, der weiß, dass er ein sehr gutes Blatt auf der Hand hat, der es sich sogar leistet, den Freier noch einmal raten zu lassen, inklusive des Hinweises, das mit dem Gold vielleicht nochmal zu überdenken. Worauf der sich richtig anstrengt, nur um dann ein zweites Mal das goldene Kästchen zu wählen. Und Shylock so: "Ist diese Figur wirklich so blöde, oder tut die nur so?"
Jede Frage aussprechen
Dieses "Oder tut die nur so?" ist ein Schlüsselsatz zum Verständnis von Karin Beiers "Der Kaufmann von Venedig"-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus. Weil hier nicht einfach nur ein Schauspieler aus seiner Rolle tritt und das Publikum anspricht, sondern weil hier die Inszenierung tatsächlich über die Motivation ihrer Figuren nachdenkt. In Shakespeares Vorlage verhalten sich die Personen mehr als einmal unlogisch, der Skeptiker ist wie aus heiterem Himmel vertrauensselig, die Romantikerin ist mit einem Schlag abgebrüht, da darf, da muss man zwischenfragen: Warum macht der das? Und die Souveränität, mit der Joachim Meyerhoff als Shylock diese Frage stellt, die hält die ganze Inszenierung zusammen.
Den "Kaufmann von Venedig"-Stoff gab es vor gar nicht langer Zeit schon einmal am Schauspielhaus zu sehen: Ein Pfund Fleisch hieß die Überschreibung durch Albert Ostermaier vor fünfeinhalb Jahren, ein knalliger Wirtschaftsthriller, der Shakespeare aller Zweideutigkeiten entkleidete und die Geschichte vom Kaufmann, der sich Geld vom jüdischen Wucherer leiht und mit seinem eigenen Leib die Schuld abbezahlen soll, als Allegorie auf einen menschenfressenden Kapitalismus las. Gerade Beier, die sich schon ihre gesamte Regiekarriere an Shakespeare abarbeitet, musste diese Lesart als unzulässige Verkürzung vorkommen; entsprechend ist ihre eigene Beschäftigung mit dem Stoff eine Inszenierung, die gar nicht den Verdacht aufkommen lässt, dass hier etwas verkürzt werden soll. Stattdessen wird jede Frage, die sich bei der Lektüre stellt, auch ausgesprochen.
Literaturwissenschaft ...
Dieser "Kaufmann von Venedig" gibt also keine Antworten, er stellt Fragen. Das ist nicht unsympathisch, weil hier eine Inszenierungshaltung durchscheint, die nicht behauptet, zu wissen, wie man Shakespeare zu lesen habe. Es ist aber auch eine Haltung, die keine echte Theaterposition zum Text einnimmt: Beiers Interesse am Stoff ist primär ein literaturwissenschaftliches, und wer da erwartet, ein nicht unproblematisches Stück in die Gegenwart gespiegelt zu bekommen, wird erst einmal enttäuscht.
Einiges fängt das Ensemble auf, neben Meyerhoff auch Carlo Ljubek als ernster, weicher, lebensüberdrüssiger Antonio, der sich danach zu sehnen scheint, sein Fleisch hergeben zu dürfen, Jan-Peter Kampwirth als missgünstiger Diener Lanzelot mit unheilschwangerer The-Joker-Narbe, Gala Othero Winter als Shylocks Tochter Jessica, die sich dem trockenen Intellektualismus von Beiers Inszenierung mit exzessiver Düsternis in den Weg wirft. Überhaupt, wie gut dieses Ensemble miteinander harmoniert, wie sicher alle Beteiligten von exzessiver Körperlichkeit zur kalten Ironie wechseln und zurück, und wie sie die eigene Sicherheit von Zeit zu Zeit bewusst sabotieren, das kann einen begeistern, während einen die Inszenierung eher beschäftigt als begeistert. Und auch Johannes Schütz' Bühne ist ein sinnliches Element im eher unsinnlichen Regiekonzept: eine wuchtige Bausünde, die nach einiger Zeit in einem gewaltsatten Pogrom zerschlagen wird und den Rest des Stückes eine staubige Trümmerlandschaft hinterlässt, die wenig Hoffnung macht, dass aus dieser Gesellschaft noch etwas werden könnte.
... mit offenem Visier
Der Abend funktioniert also, aber er funktioniert anders als erwartet: Er funktioniert, weil sich hier vieles gegen einen befriedigenden Theatergenuss sperrt, und weil man zusehen kann, wie sich die Inszenierung immer wieder selbst in Frage stellt. "Der Kaufmann von Venedig" ist deswegen ein schwieriges Stück, weil Shakespeare hier unbekümmert Märchen, Liebesgeschichte, Verwechslungsschwank und, warum auch nicht, politische Analyse zusammenführt, das Stück ist schwierig wegen seiner schwer auszuhaltenden antisemitischen Motive (die sich gleichzeitig immer wieder selbst in Frage stellen), es ist schwierig, weil Blut fließt, weil am Ende ein Mensch gebrochen wird, und als Genre steht dann "Komödie" über dieser Geschichte der Abwertung und des Hasses. Und all diesen Schwierigkeiten stellt sich diese Inszenierung mit offenem Visier.
Beier lässt Shakespeares fieses, kaum erträgliches Happy End spielen, im schattigen Hintergrund, kaum sichtbar, kaum zu hören. Und vorn, an der Rampe, sitzt Winters Jessica, mümmelt ein trockenes Brot und wartet auf den Wahnsinn, der sicher kommen wird. "Da bin ich nun, ein Tier mit multiplem Herzen." Ein Abgrund.
Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare, Deutsch von Werner Buhss
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Eva Dessecker, Musik: Jörg Gollasch, Ton: Hans-Peter "Shorty" Gerriets, Lukas Koopmann, Licht: Annette ter Meulen, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Jonas Hien, Jan-Peter Kampwirth, Matti Krause, Carlo Ljubek, Joachim Meyerhoff, Angelika Richter, Maximilian Scheidt, Gala Othero Winter, Musiker: Dirk Dhonau, Vlatko Kucan, Yuko Suzuki.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.de
"Karin Beier erzählt die Geschichte mit viel Tempo und Spaß an Verkleidung und Mummenschanz", gibt Katja Weise auf NDR Kultur (28.1.2018) zu Protokoll: "Wir sehen eine kapitalistische Gesellschaft, die Identitäten anprobiert wie Kostüme, Sicherheit sucht in Abgrenzung und Anpassung fordert." Bis zur Pause gehe dieses Konzept wunderbar auf – "mit einem toll aufspielenden Ensemble um einen ebenso gemeinen wie mitleiderregenden Joachim Meyerhoff". Doch nach der Pause stocke der Abend. Im "Showdown" "mystische Sätze aus dem Mund von Shylocks zum Christentum konvertierten Tochter, diese Wendung ist schwer nachzuvollziehen. Schade."
"Meyerhoffs Shylock, Gala Othero Winters Jessica, die Portia von Angelika Richter und die Männer-Bande drumherum und zwischendrin – dieses Ensemble wäre schon genug für eine starken 'Kaufmann von Venedig'", schätzt Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur Fazit (27.1.2018). "Karin Beier will und ihr gelingt mehr: der wache Blick der Zeitgenossin auf ein ewiges Stück Theater." Voll "beispielhafter Erinnerungsarbeit" stecke ihre Inszenierung, "voller kluger Fragen und weiß keine Antwort. Das ist ihre Stärke", so Laages. "Und sie bezieht Haltung zum Stück – ignoriert zum Beispiel das eher verquatschte Finale im Haus der reichen Erbin, wo ja nur noch ein paar unwesentliche Fragen zur männlichen Untreue geklärt werden; unwichtig, findet Beier und lässt vom 5. Akt nur ein kurzes Palaver ganz rechts hinten im Dunkel der Bühne übrig."
"Lieber ein Bruch im Kunstwerk als ein Bruch in der Zivilisation. Aber wie dicht liegt das beieinander. Wie sehr ist beides verstrickt: Das aufzureißen gelingt Beier, die mit Klischees spielt, bis es kracht", schreibt Stefan Grund in der Welt (29.1.2018). Doch "so virtuos die Brüche in der Regiearbeit auch gesetzt sind, so fantastisch die exzellenten Darsteller auch spielen und mitreißen; so klar dem Zuschauer auch die Analyse eingehämmert wird: Der Rassismus schlummert in jedermann; so klar der Appell ausfällt: gebt acht, nie wieder, wehret den Anfängen; so hilflos bleiben die großen Bilder, und alle neben der Spur."
Ob die Welt wirklich so herzlos sei, wie Karin Beier sie zeichne?, fragt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.1.2018). "Angesichts des Ficki-Ficki-Jargons von 'volksnahen' AfD-Politikern, von Burschenschaften, die Lieder singen, die den Holocaust preisen und jungen Muslimen, die meinen, sie dürften die Beleidigung ihres Propheten damit rächen, dass sie mit Lastwagen in friedliche Menschenmengen fahren, neigt die Antwort vermutlich zum 'Ja'." Und weiter: "Das Porträt einer unversöhnlich gespaltenen Gesellschaft, die trotz ihres Wohlstands keine vermittelnde oder sympathische Figur mehr kennt, wirkt wie ein schlierenfreier Spiegel der aktuellen politischen Bühne." Diesem statischen Konflikt gegenseitiger Verachtung gebe Karin Beier den größten Raum.
Mit viel Spektakel und fantastischen, furiosen Kostümen von Eva Dessecker bringe Beier das Stück in einer modernen, sprachklugen Übersetzung von Werner Buhss auf die Bühne, so Katrin Ullmann in der taz (30.1.2018). "Der Mensch, das Individuum wird an diesem Abend als Kunstwerk gefeiert, schon das Opening gleicht einer Modenschau selbstverliebter Fashion-Victims." Und weiter: "Nach gut eineinhalb Stunden klug, spielfreudig, aber weitgehend unpolitisch erzähltem Shakespeare beendet Beier ihre Inszenierung völlig unvermittelt mit einer ungefähren, dystopischen Szenerie. Kunstvoll zwar, aber zugleich kryptisch und pathetisch."
Karin Beier inszeniere das Stück "in einem Gestus, als sei es ein Parcours voller Sprengfallen", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (1.2.2018). "Hindurch führt sie ihre Spieler wie eine Schar sympathischer Tretminensucher." Die Inszenierung stehe derart unter dem Druck des Richtigmachens und der Selbstbeobachtung, dass sie sich immerzu entlaste. Gerade die hellen Szenen wirkten ein wenig belehrend: "Es sind Clownsspiele, aber unter den Clownsmasken verstecken sich Pädagogen. Von denen distanziert sich Meyerhoff in seinem Rollen-Ausfall, der nichts anderes ist als Eigensinn, ein Aufstand gegen Pädagogik und Zwang, in einem Wort: Comedy."
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Wenn er zum berühmten Monolog „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“ ansetzt, wird es ganz still im Saal. Auch sein Deal, den er mit Antonio schließt, und die Gerichtsverhandlung, in der zwischen Shylock und Antonio geschlichtet werden muss, gehören zu den wenigen starken Szenen, in denen „Der Kaufmann von Venedig“ seine Betriebstemperatur erreicht.
Allerdings liegen gerade darin, dass der Abend so sehr auf den Stargast vom Burgtheater zugeschnitten ist, weitere Probleme: Auf dem schmalen Grat zum Overacting droht er kurz abzustürzen, als er sich allzu verzweifelt als Schmerzensmann krümmt. In einem längeren Solo bietet er einen Streifzug durch die Kunstgeschichte und berauscht sich an seinem Können. Dieser kleine Exkurs ist zwar unterhaltsam, kann aber die Schwächen des restlichen Abends nicht überdecken.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/27/der-kaufmann-von-venedig-als-joachim-meyerhoff-show-am-schauspielhaus-hamburg/
http://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Joachim-Meyerhoff-spielt-in-Der-Kaufmann-von-Venedig-am-Schauspielhaus-Hamburg
"...Stattdessen gehört das Finale dieses umbarmherzig klarsichtigen, brillant gespielten Theaterabends Gala Othero Winter als Jessica. ..."
(Liebe*r Hannes, es wird eifrig daran gearbeitet. Demnächst, ganz bald, gibt es eine Kritikenrundschau. Herzlich, sd/Redaktion)
Sie haben den Abend in Münster offenbar nicht gesehen, es ist ja hier auf dem Portal Nacht-Kritik schon hinreichend diskutiert worden, was ihn auszeichnet. Die Haltung der Aufführung in Münster geht weit über "pöbelnde Statisten" hinaus, auch wenn es begreiflicherweise der Teil ist, über den die Presse am meisten berichtet. Für mich war viel wichtiger, daß die Vielzahl der Randgruppen dort auf der Bühne zuerst verspielt und dann verbissen gegeneinander um das Vorrecht auf ein Opfertum kämpft. Dabei kommt ihnen jegliche Solidarität abhanden. Aber bei aller inhaltlicher Aussage des Regisseurs war es, - jetzt wiederhole ich mich, das sei einmal erlaubt - das Ensemble, was mich so nachhaltig beeindruckt hat, in seiner offenen Art, nicht zu wissen, sondern zu suchen. Eine Haltung, die mir bei dem Thema angeraten scheint.
In der Aufführung wartet man vergebens um eine Relativierung, oder gar Distanzierung. Na klar, ganz Feinsinnige spüren, dass es nicht antisemitisch gemeint ist. Wir verbannen den "Negerkönig" aus "Pippi Langstrumpf", das "Zigeunerschnitzel" aus der Mensa, aber wir haben Kirchen in Deutschland, die sich mit der "Judensau" schmücken und wir hören, " Vergebung" ist- christlich und "Rache" ist - jüdisch, in Hamburg im Theater. Antisemitismus ist salonfähig und ich bin nachhaltig entsetzt, was uns das Theater in Hamburg da anbietet.
stellvertretend für eine eigene persönliche antwort, möchte ich ihnen gern folgenden artikel zum lesen anbieten. (da er nur mit anmeldung lesbar ist - hier einen auszug daraus):
" ... Man kann die Intervention der Berliner Studentinnen als Interpretationsübung verstehen. Gegen den Strich zu lesen, Ebenen zu erschliessen, die dem an der Oberfläche liegenden Sinn eines Textes zuwiderlaufen oder ihn konterkarieren, ist legitim. Es zeigt den Reichtum von Texten auf, in denen immer mehr steckt, als die Verfasser intendiert haben. Und es ist spannend, auch wenn man einer Interpretation nicht folgt. Man kann Goethes «Heidenröslein» als Protokoll einer Vergewaltigung lesen. Ob man damit die Intention des Autors trifft, ist die eine Frage. Ob man dem Gedicht ganz gerecht wird, eine andere. Bedenklich wird es, wenn bestimmte Lesarten kanonisiert – und damit andere ausgeschlossen – werden. Und noch bedenklicher ist es, wenn Werke mit einem Bann belegt werden, weil sie in einer bestimmten, wie auch immer legitimierten Lesart irgendjemanden verletzen, beleidigen oder verunsichern könnten...
Mit der gleichen Argumentation könnte man verlangen, dass das «Heidenröslein» aus den Gedicht-Anthologien entfernt wird, die an Schulen gelesen werden. Natürlich ist das absurd, aber an amerikanischen Universitäten sind solche «Säuberungen» schon seit langem im Gang. Shakespeares «Othello» oder der «Kaufmann von Venedig» sind in den Bibliotheken mit Warnungen versehen – da lauern Rassismus und Antisemitismus. In Ovids «Metamorphosen» geht’s dauernd um Vergewaltigung, das gehört auf den Index. F. Scott Fitzgeralds «Great Gatsby» enthält frauenfeindliche Passagen, und Chinua Achebes Roman «Alles zerfällt» zeigt auf schonungslose Weise rassistische Gewalt – ab in den Giftschrank...
Man kann das lächerlich finden. Man kann es aber auch für gefährlich halten. Schliesslich sind solche Massnahmen nichts anderes als eine Form von neopuritanischer Zensur. Sie gefährden die Freiheit der Kunst, denn das Unbequeme, das Bedrohliche, Beunruhigende, das Zweideutige, das Verwerfliche und das Schäbige sind genauso das Geschäft der Künste wie das Gute, Edle und Schöne. Mehr noch: Wenn Kunst nicht mehr anstössig sein darf – welchen Sinn könnte sie dann überhaupt haben?
Der Protagonist von Philip Roths Roman «Portnoy’s Complaint» zum Beispiel ist ein widerlicher Lüstling, aber welches andere Buch gibt so ungeschminkt und zugleich so feinfühlig Einblick in den Seelenhaushalt eines von sexuellen Obsessionen beherrschten Menschen? Ein Gemälde der Barockmalerin Artemisia Gentileschi in den Uffizien zeigt die biblische Judith in dem Augenblick, in dem sie Holofernes mit dem Schwert enthauptet. Eine furchtbare Szene. Aber wo könnte man eindringlicher sehen, was Rachedurst aus einem Menschen machen kann, als in Judiths von eiskaltem Hass verzerrten Gesichtszügen? Und wenn Elfriede Jelinek in der «Klavierspielerin» so grausam wie kalt eine Vergewaltigung schildert, dann ist das quälend zu lesen – lässt aber ahnen, in welche Katastrophen Schuld, Hass und Verdrängung führen können. Kunst kommt nun einmal nicht von korrekt. Wer sie als «tätige Reflexion des Menschen über sich selbst» (Novalis) ernst nimmt, darf ihr keine Fesseln anlegen...
https://www.nzz.ch/meinung/kunst-kommt-nicht-von-korrekt-ld.1354230
Karin Beiers „Kaufmann von Venedig“ ist nicht nur ausgezeichnetes Schauspieler*innen-Theater sondern auch eine exzellente Inszenierung. Diese Inszenierung ist eine Ensembleleistung in der außergewöhnliches von J-P. Kampwirth und A. Richter geboten wurde. J. Meyerhoff als Shylock überzeugte durch stringente Rollenführung eines rachesüchtigen, hasserfüllten Juden. Wie aktuell Shakespeare doch ist, in unserer Zeit, des erneut aufkeimenden Fremdenhasses und alltäglicher Mobbingerfahrungen stigmatisierter Gesellschaftsgruppen. Beiers Inszenierung oszilliert zwischen Emotion und Ratio. Viel Mummenschanz macht die Dekadenz unserer westlichen Kultur deutlich und die Hassreden des Shylock wirken, wie dem Volk aufs Maul geschaut. Sind wir schon wieder soweit? Nach aktuellen Äußerungen eines Politikers „Hartz IV bedeute nicht Armut“ kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Lagern (Juden – Christen; Winner – Loser; Reich – Arm; etc.) sind unüberwindbar. Die Utopie von Gnade und Verzeihen bleibt ein Traumbild. Im düsteren, aussichtslosen Schlussbild der Jessica, wird die Unveränderbarkeit der menschlichen Natur deutlich. Die Masse Mensch wird in globaler Ferne leiden und wenige Privilegierte auf ihre Kosten im Wohlstand leben. Karin Beier lässt dem Zuschauer Raum zum Reflektieren. Möge der Zuschauer seine Antwort finden und er entscheiden, wie ehrlich er mit seiner Antwort auf die angerissenen Fragen ist.