Unbespielte Herzen

von Michael Wolf

6. Februar 2018. Man sieht es dem grimmigen Blick auf dem Foto nicht an, aber ich bin ein sentimentaler Typ. Meine schönsten Momente im Theater waren jene, in denen ich mich berühren ließ. Ich erinnere mich auch viele Jahre später noch genau: an den Ruf "Ich hänge am Leben" in einer der letzten Inszenierungen von Jürgen Gosch; an den hoffnungslosen Blicktausch am Schluss einer Ostermeier-Inszenierung, in dessen Verlauf sich ein Paar so verzweifelt liebte wie hasste; wie zärtlich und verwirrt ein Besucher die Haare einer SIGNA-Performerin streichelte ...

kolumne wolfSolche Erlebnisse sind wertvoll aber selten. Jeden Tag in jeder Stadt können wir Inszenierungen sehen, die einem Publikum zu denken geben, ein kanonisches Stück zeitgenössisch interpretieren, sich politisch positionieren wollen. Es mangelt nicht an klugen Gedanken und emanzipatorischem Ehrgeiz. Emotional ist das meiste Theater unserer Zeit hingegen unmusikalisch. Während mit Thesen auf die Köpfe der Zuschauer eingeschlagen wird, bleiben ihre Herzen unbespielt. Die großen Gefühle überlassen die Bühnen dem Musical, dem Kommerz oder der UEFA Champions-League.

Räume der Wut und der Melancholie

Dabei ist intensive Erfahrung kein Hexenwerk. Meine Ergriffenheit in den anfangs genannten Momenten war ganz sicher kalkuliert. Man muss sie nur herstellen können – und wollen. Theaterschaffende absolvieren eine harte Ausbildung mit dem Ziel, ihre Mittel so einzusetzen, dass sie spezifische Wirkungen erzielen. Leider hat ein Großteil entweder in diesen Stunden gefehlt, oder sie haben kein Interesse, ihr Publikum zu berühren. Mit fatalen Folgen. Ein Theater, dass nicht mehr darauf zielt, sein Publikum direkter und härter zu treffen als eine Netflix-Serie, kann den Betrieb getrost einstellen.

Schwer begreiflich, dass Theater immer wieder stolz als gesellschaftlicher "Denkraum" beworben und legitimiert wird. Mir erschiene ein Raum der Melancholie, der Wut, der Freude oder der Sehnsucht erstrebenswerter. Schon allein, um die Gedanken überhaupt auf die Reise zu schicken. Man muss nicht gleich den Begriff der aristotelischen Katharsis bemühen, um daran zu erinnern, dass es sehr lang genau darum ging: das Publikum bei seinen Seelen und seinen Körpern zu packen. Es muss nicht erst für ein Thema sensibilisiert werden, es ist sensibler als gedacht.

Lust und Erwartung

Natürlich ist rein gar nichts gegen ein intellektuell anspruchsvolles Schauspiel zu sagen. Nur liegt eben eine intellektuelle Fehlleistung in dem Glauben, ohne emotionalen Anspruch ließe sich eine Botschaft überbringen oder auch nur ein tieferes Interesse hervorrufen. Es ist geradezu peinlich, dass Populisten weltweit darum sehr viel besser zu wissen scheinen als die Profis an unseren Bühnen.

Das feinfühligste Spiel gibt es bezeichnenderweise zu entdecken, wo kaum Ruhm und Ehre zu gewinnen ist. Ich gehe selten ins Kindertheater, aber wenn, bereue ich es nie. Dort gehen Darsteller und Regisseure noch davon aus, dass nicht Bildungsbürger im Publikum sitzen, nicht Kulturinteressierte, mithin nicht Zuschauer – sondern Menschen, richtige Menschen: randvoll bis unter die Haut mit Gefühlen, mit Launen, mit Lust und Erwartung. Ich glaube, dass auch wir erwachsenen Theaterbesucher solche Menschen sind. Und ich bin jedes Mal traurig und glücklich und gespannt wie ein Flitzebogen, wenn Theatermacher das anerkennen.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.

 

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Kommentare  
Kolumne Wolf: das Eine nicht ohne das Andere
Publikum geht nicht nur wegen seiner Gefühle, die es bewegen, bezweifeln, bestätigt in der Realität berechtigt sehen und wiederfinden möchte, sondern auch wegen der Denkaufgaben, wegen seiner Lust Neues zu lernen, von dem es bisher noch nicht gedacht hat, dass es sich dafür interessieren könnte usw. Und das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Es geht durchaus, um sich kritisieren zu lassen für seine Haltungen, für seine Bequemlichkeiten für seine Unwissenheiten, für sein erschlafftes Menschsein - aber es flieht das Theater, wenn das Theater es grundsätzlich infrage stellt. Wenn Theater zeigt und damit behauptet: es gibt keine Liebe unter euch, ihr wisst nicht, was Treue ist, ihr wisst nicht was Wahrheit ist und wollt es auch nicht wissen, ihr habt keine Ehre im Leib, denn ihr wollte keine Freiheit usw. Damit wird nämlich das Theater übergriffig auf Menschen, die in es als Masse kommen, aber die Einzelne sind. Zusammengekommene Einzelne. Die ALLE, jeder für sich, irgendwie lieben, frei sein wollen, jemandem oder irgendeiner Sache treu sind, die versuchen, Wahrheit zu sehen, zu sagen, an sie zu glauben wie sie auch an die Kraft der Schönheit der Darstellung glauben, selbst wenn Hässliches dargestellt wird... Und diese Art respektlose, psychische Übergriffigkeit des Theaters auf sein Publikum, für das es sich als Kollektiv aus Einzelnen offenbar gar nicht interessiert, wird vom Publikum entsprechend quittiert und mit gleicher Münze heimgezahlt. Auch von dem Publikum, das nicht vom Fach ist. Und das ist auch gut so.
Ich mag ja meistens, wenn Herr Wolf kolumnet, gerade wieder.
Kolumne Wolf: unbespielte herzen
Ich habe diese Kolumne mit Freude gelesen. Um mich und andere daran zu erinnern: Das letzte Mal war mir im Theater zum Weinen und zum Lachen 2015 bei Turgenjews "Väter und Söhne", für die Bühne bearbeitet von einem Dramatiker, keinem Dramaturgen: Brian Friel (er starb 2015). Die Inszenierung am Deutschen Theater (Berlin) war auch zum Theatertreffen eingeladen. Warum die Regisseurin Daniela Löffner am DT nicht mehr beschäftigt ist, weiß ich nicht. Schade!
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