Im Digitalen Vormärz

18. Februar 2018. Theater ist traditionell ein Verhandlungsort bürgerlicher Öffentlichkeit. In der neuen Netzkultur muss sich auch das Theater digitale Orte abseits der kommerziellen Plattformen suchen, wenn es seine soziale Rolle weiterhin erfolgreich einnehmen will.

Von Esther Slevogt

Im digitalen Vormärz

von Esther Slevogt

8. Februar 2018. Im Transformationsprozess, den die traditionelle bürgerliche Öffentlichkeit unter dem Druck der Digitalisierung gegenwärtig durchläuft, könnten die Theater eine zentrale Rolle spielen: als Motor und Entwickler neuer, digitalbasierter Formen von Öffentlichkeit und Vernetzung, die keinen wirtschaftlichen Interessen unterworfen sind, als datengeschützte Plattformen gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Labore für die demokratische Meinungs- und Willensbildung der Netzgesellschaft – sie könnten also wesentliche Mitgestalter des Raumes Internet im Digitalzeitalter sein.

In diesem Kontext muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass das Theater nicht allein eine Kunstform, sondern auch eine gesellschaftliche Praxis ist. Theater bestehen ja nicht nur aus den Bühnen, auf denen die Kunstform Theater sich abspielt. Sie sind gleichzeitig soziale Räume, wo Kunstrezeption mit sozialer Praxis kurzgeschlossen wird. Diese Praxis besteht im Wesentlichen darin, dass sich unterschiedlichste Mitglieder einer Gesellschaft gemeinsam an einem Ort versammeln, um einer szenischen Darstellung zu folgen. Der Gegenstand dieser Darstellung stammt dabei in der Regel aus einem gemeinsamen gesellschaftlichen oder kulturellen Erfahrungsraum. 

Ort der gesellschaftlichen Selbst-Performance

Die Verständigung des Publikums über den jeweiligen Gegenstand dramatischer Verhandlung auf der Bühne ist wiederum ein Prozess zwischen individueller und öffentlicher Meinungsbildung, der oft bereits im Theater selbst als Kommunikation zwischen Zuschauer*innen in den Pausen oder nach der Vorstellung, in Foyers, Wandelgängen oder Bars beginnt. Dafür halten Theater neben der Bühne als Plattform der künstlerischen Darbietung stets ausreichend Raum bereit, wo auch das Publikum sein nicht unerhebliches performatives Potenzial entfalten kann: sei es durch das Vorzeigen mehr oder weniger spektakulärer Garderoben oder Frisuren beziehungsweise das mehr oder weniger demonstrative Negieren solcher Kleiderordnungen, bis hin zu mehr oder weniger demonstrativ zur Schau getragenen Formen des wissenden Umgangs mit dem jeweiligen Gegenstand der Darbietung. Theater ist also in hohem Maße auch ein Ort, an dem die Gesellschaft sich selbst performt.

Auch als Bauten waren Theater stets Abbilder der jeweils herrschenden Vorstellungen von Gesellschaft. So waren Theaterbauten des Barocks Spiegelbilder der feudalistischen Ordnung der Klassengesellschaft. Im Begriff "Rang" ist dieser Sachverhalt bis heute erhalten. Und ebenso wie die Guckkastenbühne auf die Zentralperspektive des Herrschers zugeschnitten war, bildete der Zuschauerraum die hierarchisch strukturierte Klassengesellschaft ab und deren – entsprechend ihrem Rang – der Perspektive des Herrschers nachgeordneten Sicht auf das Bühnengeschehen. Im 19. Jahrhundert ist mit der Entwicklung des parlamentarischen Gedankens eine Enthierarchisierung der Sitzordnung im Zuschauerraum ebenso zu beobachten wie eine Erweiterung der Begegnungsmöglichkeiten für das Publikum jenseits des Zuschauerraums.

giovanni paolo pannini 560 uZu Zeiten des Ancien Regime war das Theater hell erleuchtet, damit die höfischen Zuschauer*innen auch/vor allem einander bewundern konnten: Giovanni Paolo Panninis Bild (1747) zeigt eine "Fête Musicale" des Kardinals de la Rochefoucauld im "Theater Argentinia" in Rom.

Boten Theaterbauten dem neu auf der Bühne der Geschichte in Erscheinung tretenden Bürgertum zunächst nur pompöse Rahmungen an, wo sie in großer Garderobe höfisches Leben imitieren konnten, wurden Theater in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Orten einer neuen städtischen und damit bürgerlichen Hochkultur. Die dort zelebrierten Rituale haben mit der zunehmenden Überschreitung von Schicht- und Standesgrenzen und im regen Austausch mit dem damals neuen Medium Zeitung und seinen expandierenden Feuilletons die Entstehung der modernen Öffentlichkeit und ihrer politischen Kultur, deren Erosion unter dem Druck der Digitalisierung wir gerade erleben, enorm beeinflusst.

Am Modell Theater wurde symbolisch im späten 19. Jahrhundert auch das Modell parlamentarische Demokratie eingeübt. Das Publikum begann, Gefühle sozusagen an die Darsteller*innen auf der Bühne zu delegieren, die stellvertretend für sie (nicht immer auflösbare) gesellschaftliche und private Konflikte verhandelten – so, wie sie später Entscheidungs- und Willensbildung an die gewählten politischen Repräsentanten delegierten. Parallel zur Vorstellung und über ihre Dauer hinaus wurde dann in einem komplexen Prozess der Meinungsbildung im Dialog mit dem (am Anfang des 19. Jahrhunderts noch vollkommen neuen) Medium Zeitung darüber befunden, wie gut die stellvertretende Konfliktverhandlung des Kunstwerks jeweils gelungen war.

Gustav Klimt 560 uTheater als Demokratieübungsplatz: das (alte) Burgtheater Wien 1888 gemalt von Gustav Klimt

In den Zeitungen ergriffen damals völlig neue (bürgerliche) Stimmen das Wort, die zuvor vom Diskurs ausgeschlossen waren. Die in den Jahren des deutschen Vormärz (die aktuell stark aus dem Fokus des Geschichtsbewusstseins gerückt sind, tatsächlich aber viel Potenzial bieten, den gegenwärtigen Transformationsprozess besser zu verstehen) langsam entstehende bürgerliche Öffentlichkeit hat das Führen eines öffentlichen Gesprächs samt Entwicklung der Spielregeln in seiner Implementierungsphase stark am Sprechen über das Theater eingeübt, damals ein ebenfalls vollkommen neues Medium der sich herausbildenden bürgerlichen Öffentlichkeit.

Das allgemeine Krisengefühl, das dem gefühlten Kontrollverlust der (damals noch feudalistisch strukturierten) Mainstreamgesellschaft über seine Diskurshoheit geschuldet war, ist an den hektischen Theater- und Zeitungszensurgesetzen jener Zeit bis heute gut ablesbar. Und gleicht in gewisser Weise dem Krisengefühl, das in der aktuellen Implementierungsphase digitalbasierter Medien und Kulturtechniken unsere Gegenwart prägt.  

Öffentlichkeits-Erosion

War die Öffentlichkeit bisher stets Marktplatz und zivilgesellschaftliche Instanz, wo sich die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft mit ihren Wahrheiten und Meinungen in der Auseinandersetzung mit Fakten, allgemein zugänglichen Informationen und vernünftigen Argumenten zu behaupten hatten, ist unter dem Druck der Digitalisierung der tradierte Öffentlichkeitsbegriff erodiert und in ein diffuses, enthierarchisiertes Gewirr von Öffentlichkeiten zerfallen. Gehörten Medien, denen man vertraute, zu den Konstanten dieser Öffentlichkeit, wird heute jede*r Einzelne zum Kämpfer auf dem Meinungsmarkt, via Social Media mit eigenem Medium.

So entstehen Suböffentlichkeiten und Blasen, in denen partikulare Sichtweisen und alternative Fakten blühen, die kaum Widersprüche zu fürchten haben und keine Vernunft: Denn es findet zwischen den einzelnen Meinungsblasen und Suböffentlichkeiten keine Osmose, geschweige denn Kommunikation mehr statt. Inzwischen können auch die alten Grundverabredungen, wer für wen spricht, oder wer von wem zum Sprechen (über wen) überhaupt ermächtigt ist, nicht mehr als allgemein verbindlich gelten, und zwar im Theater ebenso wenig wie in der Politik.

Wider die Zuschauerbeteiligung: die Internetseiten der Theater

FeststiegeBurgtheater 280 GeorgSoulek uFür eine prächtige Zukunft muss das Theater
noch mehr tun. Nämlich neue Zugänge schaffen.
Die Feststiege im Burgtheater, ursprünglich
Mitgliedern k.u.k.'er Familien vorbehalten
© Georg Soulek
Doch statt auf seine fast zweihundertjährige Erfahrung als Plattform, Medium und Erfahrungsraum öffentlicher Auseinandersetzung zu rekurrieren, verschanzt sich das Theater hinter seinem (moralischen) Anstaltsgedanken. Nachdem die Digitalisierung als Phänomen lange überhaupt nicht als relevant für den eigenen Diskurs zur Kenntnis genommen wurde, beschränkt sich das Nachdenken über ihre Folgen inzwischen lediglich auf ästhetische, inhaltliche oder technologische Aspekte, die sich allein auf das Kunstwerk beziehen. Immer häufiger ist in diesem Kontext auch von digitalen Bühnen und Formaten die Rede, allerdings ausschließlich als Distributionskanäle für Produktionen, als Mediathek für Abgespieltes und als Archiv, wo die flüchtigste aller Kunstformen zumindest digital dingfest gemacht werden soll. Als elektronisches Leporello und Marketingtool sowieso.

Doch sind die Internetseiten der Theater hermetisch gegen Zuschauerbeteiligung abgeschirmt. Das Interaktivste, was dort in der Regel möglich ist, ist der Ticketkauf. Damit aber bieten die Theater, die stets so selbstbewusst auf ihre Nichtmarktorientiertheit verweisen, auch nicht mehr als ganz normale Internethändler an.

Digitale Formate entwickeln!

Doch Theater, das (auch im Netz) keine Orte mitdenkt, an denen das Publikum noch etwas anderes sein kann als Kunstkonsument und Frontalunterrichtsempfänger, verfehlt seine jahrtausendealte Tradition als Erfahrungsraum von Demokratie und Plattform öffentlichen Gesprächs. Es muss deshalb ein notwendiges Zukunftsprojekt der Theater sein, auch den digitalen Raum zu denken und zu gestalten: ihre Internetseiten zu mächtigen Social-Media-Plattformen auszubauen, digitale Theaterformate zu entwickeln, die den Ort des Publikums mitdenken, statt dieses Publikum lediglich mit einer versiegelten medialen Oberfläche zu konfrontieren, während es vor dem Bildschirm im Nichts versackt.

Das Theater muss also auch digital nicht nur als Kunstform, sondern auch als Ort und soziale Praxis gedacht werden, mit deren Hilfe die (Spiel-)Regeln der digitalen Demokratie ausdifferenziert werden können.

Esther Slevogt ist Redakteurin, Mitgründerin und Geschäftsführerin von nachtkritik.de und gehört zum Organisations- und Kuratorenteam der Konferenz Theater & Netz von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, die seit 2013 die Folgen der Digitalisierung für das Theater untersucht und diskutiert. Diesen Text hat sie im Auftrag der Böll-Stiftung geschrieben, in deren Magazin Böll Thema 1/2018  er erstveröffentlicht wurde.

 

Mehr über das Theater im Zeitalter der Digitalisierung hier.

mehr debatten

Kommentare  
Digitalisierung: angenehm
Wie angenehm, das endlich auch hier zu lesen! Hat es die Süddeutsche auch schon gekauft? Oder hat sich der Simon Strauss dafür schon für die FAZ verwendet? - Das wäre doch sehr zu empfehlen und einmal eine echte Debatte wert! - Danke, Esther Slevogt.
Digitalisierung: Kongress
Das Theater Dortmund veranstaltet mit Unterstützung der Boell-Stiftung vom 23.bis 25.2.2018 einen Kongress zum Thema Digitalisierung.
Einzelheiten hier: https://enjoy-complexity.de/
Leider scheint der Kongress bereits ausgebucht zu sein.
Digitalisierung: Aufbruch
Ein ganz hervorragender, lesenswerter Text. Es steht zu wünschen, daß Theater anfangen, auf dieser Grundlage zu diskutieren und das weite Feld vor allem als Chance, nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Antworten hat Frau Slevogt (zum Glück) noch keine, aber dafür wäre ja auch die Denkmaschine Theater da und die vielen Menschen, die da mitdenken. Auf geht's!
Digitalisierung: Hartz 4
solange hartz4 nicht kulturkompatibel - bzw. die theatereintrittspreise nicht hartz4 kompatibel sind, ändert sich an der gut-bürgerlichen-blase nichts.

oder soll das publikum aus den theatern verschwinden, weil das netz die aufführungen kostenlos ins haus bringt?
Digitalisierung: Gespräch
vielen Dank!
Digitalisierung: Widerspruch in sich
Ja sehr lesenswerter Artikel. Der Digitalisierung entkommt keiner, auch die Theater nicht, dennoch ist für mich ein „digitales Theaterformat“ ein Widespruch in sich. Ich persönlich liebe das Theater deshalb, da es der letzte unmittelbare Schlupfwinkel der Kunst zu sein scheint. Menschen treffen auf Menschen. Ich diskutiere auch lieber persönlich mit jemanden, als mir auf digitalen Plattformen anonym das Maul zu zerreißen. Vielleicht bin ich da old faishoned, aber das ist mir in dem Fall egal.
Digitalisierung: keine Spielwege
#6: Sie sind da garantiert nicht older fashioned als alle anderen Menschen auch. Die haben nur nicht mehr so tolle Bedingungen dafür, das wie gehabt zu tun sofern sie noch die althergebrachten Gesprächsstile kennengelernt haben und erst recht nicht, wenn die die nur noch vom Hörensagen kennen - auch gute Leseempfehlung, ganz schnell erledigt, lange zu genießen: die letzte Rede von Roger Willemsen vom Juli 2015. Sein letztes, zum Vermächtnis einer letzten Rede geschrumpftes Buch: "Wer wir waren", erschienen bei Fischer. Wenn das Theater keine digitalen kreativen Kommunikationsformen mit Publikum findet (vielleicht hat es ja schon, und es weiß nur noch keiner? - ich meine damit nicht Borderline-Prozession oder wie bringe ich echter als in Echtzeit meine Mimen auf den Flattervorhang, während sie in der Kantine so tun, als würden sie interagieren...), wird auch Theaterstreamingdienst NICHTS nutzen. Denn das sind keine Spielwege, sondern verfolgbare digitale vorgegebene Pfade - soziale Netzwerke sind vorgegebene digitale Pfade z.B. - ich hoffe, der Dortmunder Kongress wird erleuchtet! - Ich bin etwas unglücklich mit dem Titel oben: Vormärz! - war diese Revolution nicht gescheitert?
Digitalisierung: persönlich bleiben
Mir gefällt der Artikel wegen der Aufarbeitung,zu was die Theater in Jahrhunderten benutzt wurden.Aber gerade deshalb gefällt mir das Resultat des Artikels,quasi der Aufruf zur Digitalisierung des Theaters, überhaupt nicht! Und es als negativ zu werten,dass das Publikum zuschaut!
Die Digitalisierung hat den Menschen im täglichen Leben voll erfasst. Es gibt kaum jemanden ohne "Stöpsel"im Ohr,ohne handy,ohne Laptop etc. Und das wird sich rasant verstärken.
D.h.für mich aber: wir brauchen Freiräume für den Menschen,wo er als Mensch einem Menschen zusehen/zuhören kann.
Ich bin ja viel viel unterwegs und gucke Theater -bis in die kleinsten Häuser und da erlebt man bei jeder Vorstellung,wie gut die Theater besucht sind und wie froh das Publikum ist einfach zu gucken,Menschen zuhören zukönnen,mit/über ihn zu weinen,zu lachen,einfach nur Mensch zu sein.
Es gibt eine Studie die besagt,je mehr die Digitalisierung unser Leben bestimmen wird und das wird sie,desto mehr braucht,sucht sich der Mensch LEBEN -LEBENSRAUM.
Frau Grüters hat erkannt,was die Theater -bis zu den kleinsten - auf diesem Gebiet leisten,leisten können (ich hoffe,sie kann weiter wirken/bewirken).
Ich wünsche mir,dass die Theater -Oper/Ballett/Musical/Schauspiel- weiterhin und verstärkt Theater mit Menschen für Menschen machen , ganz persönlich für jeden Einzelnen und er sich das "herausfiltern"kann,was für ihn persönlich wertvoll ist.
Digitalisierung: kritisches Bewusstsein verdrängt
#8

"... gerade deshalb gefällt mir das Resultat des Artikels,quasi der Aufruf zur Digitalisierung des Theaters, überhaupt nicht!"

danke, ich kann mich nur voll anschließen - vor allem wenn ich die soziale abwärtsentwicklung seit der digitalisierung beobachte - welche ja weitergedacht roboterärzte-lehrer-soldaten-schauspieler bedeutet - die auf knopfdruck die wirklichen menschen ins abseits verdrängen. wie bei fast jeder technischen entwicklung (atom+gentechnik) hat sich die human-ethische seite NICHT durchgesetzt >>> sondern ALLES was technisch möglich ist wurde aus reinem profitinteresse der besitzer der technischen möglichkeiten - gegen mehrheitsinteressen der menschen "einfach" gemacht ... und orwell neue hohe verkaufsauflagen beschert.

dieses kritische bewußtsein soll jetzt SCHON WIEDER durch euphorische fortschrittsgläubigkeit - SOGAR am theater - verdrängt und geschwächt werden??? (natürlich!!! ist eine waschmaschine besser als ein waschbrett!!!) ... doch es geht um KÖRPERLICH!!! schwere arbeiten - und NICHT!!! um die abnahme von emotionalen und geistigen leistungen der menschen ... die digitalisierung (das netz) wurde vom militär erfunden - auf mathematisch-technischer grundlage >>> copy&paste ist eine feine sache - auch wenn viele schriftsteller weiterhin den computer NICHT benutzen (merkt man das den texten an??)

ps. und mal global gedacht, möchte ich keine ausbeuterische kinderarbeit in den textilfabriken der dritten welt für produkte zu meinem gebrauch - weil dort die menschen NOCH BILLIGER sind, als die digitale technik zu ihrer erleichterung einzuführen

wenn sich theater der technischen MÖGLICHKEIT UNTERORDNET >>> und DIES auch noch GEFÖRDERT wird ... ist es tot
Digitalisierung: auf die Socken machen
Es ist m.E. falsch zu glauben, die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung (im Theater) führe zu einer Abschaffung desselben. Theater hat in einigen tausend Jahren seiner Geschichte schon ganz anderes überstanden, ist aber vor allem dadurch relevant geblieben, weil es Bedeutung für das Leben der Menschen und für die Gesellschaft hatte. So, glaube ich, ist der Text zu verstehen, als Aufforderung an das Theater, diese Bedeutung zu erhalten, angesichts der faktisch stattfindenden und sehr herausfordernden Digitalisierung.
Entschuldigung, aber die in den Kommentaren teilweise zu lesende Klage führt nicht weiter, lediglich bessere Welten zu beschwören hilft 0,0. Davon abgesehen ist es nahezu lächerlich, panisch vor der Digitalisierung des Theaters zu mahnen und zu warnen, das Gegenteil ist doch der Fall: in Theatern landauf, landab (mit wenigen Ausnahmen, und da auch nur manchmal...) wird doch höchstens über Digitalisierung geredet oder geurteilt, aber doch nicht Digitales als Theatermittel eingesetzt.

Wenn aber bei diesem Text gleich "wehret den Anfängen" gerufen wird, der Digitalisierung also diese Umwälzungskraft beigemessen wird, ist es dann nicht in der Tat unglaublich wichtig, daß Theater sich auf die Socken macht, experimentiert, sich die Medien aneignet? Ich finde: ja.

zu #2: mir scheint, daß man sich da noch anmelden kann.
Digitalisierung: der Geigenbauer
#10

NATÜRLICH WEISS JEDER, das es digitalisierung gibt - und sie wird sich NATÜRLICH immer weiter entwickeln.

kürzlich las ich von einem geigenbauer, dass er (trotz dem wissen) weiterhin seine instrumente mit der hand bauen wird - und nicht mit digital-technischen mitteln, was jetzt technisch möglich ist. ich frage mich nur, ob man IHN oder seine technisch-moderne konkurrenz FÖRDERN sollte und ob das, was dann da rauskommt einen KULTURWERT hat. und natürlich gibt es schon lange technisch produzierte gesangsstimmen ... ist ALLES schon lange möglich und wird gemacht ... und ist auch legitim ... aber sollte dies wirklich gefördert werden??? >>> also nix mit "wehret den anfängen" >>> sondern lauft nicht gedankenlos jedem trend hinterher - prüft ob er für eurer verantwortliches wertesystem sinn macht ... macht euch nicht gedankenlos zum sklaven der technischen möglichkeiten ... sondern besser zum meister des menschlichen potentials, was mehr als technik ist ... auch wenn dies (warum wohl???) in der gesellschaftlichen relevanz langsam zu verschwinden scheint ... und was mit sich bringt?? es ist zu spüren ..

und ja: diskutiert darüber!!! aber in allumfassenden zusammenhängen
Digitalisierung: technisches Reglement
#Liebe/r marie: Ich denke nicht, dass heute noch viele Schriftsteller den Computer generell NICHT benutzen. Es mag viele geben, die vor ihren ersten Texteingaben in den Computer auf Manu-skripte im wahrsten Sinne zurückgreifen und: Ja!, DAS merkt man Texten an! Man merkt es ihnen an, weil die kürzeste geschlossene Inhalts-Form-Zusammenhangs-Verbindung vom Hirn zur Hand die Handschrift ist. Die Tastatureingabe ist hingegen bereits ein vor-geregeltes Hand-Schreiben: Das heißt, die Buchstaben-Notiz ist dabei gleichmachend für alle mechanisiert. Und nicht mehr individuell durch einen Verbundenheitsgrad, durch einen Finger-Abdruck des Temperaments (Ober- und Unterlängen, gewohnte spezifische Anstellwinkel der Handschrift, Punktfüllungsgrad etc. Verschliffenheitsgrad der Bogenbuchstaben, Andrucksunterschiede und Endungsverknappungen durch Stimmungsschwankungen beim Schreiben etc. Insofern istdas Schreiben beim Schreiben durch Tippen oder über Boards, welche Handschrift digital in Tastatur"eingaben" rechnerisch umwandeln, bereits ein durch TECHNIK k o n t r o l l i e r t e s Schreiben. Kontrolliert, was sowohl die Inhalte als auch die Formen anlangt. Und führt daher in JEDEM Fall zu entfremdeten Schreiben und damit zum Verlust der Authentizität beim Schreiben insbesondere von Literatur.
Der/die bei der PC-Eingabe auf seine/ihre eigene Handschrift rekurierende literarische Autor*in wird seine Hand(vor)schrift selbstkritisch mit seinem eigenen Geist prüfen, kritisch betrachten und authentisch nach seinem eigenen ethischen und ästhetischen Wertgefüge dabei korrigieren... Das so erstellte lektoratsfähige Skript ist daher auch dann authentisch seines, wenn er es DANACH selbst in den PC eingibt. Schon wenn er seine Eingabe einem anderen Schreiber oder einem Gerät diktiert, verfügt das Ergebnis nicht mehr die gleiche Authentizitätsstufe und ist also weniger originell-
Jetzt gibt es einen entscheidenden Beitrag von Verlagen und Redaktionen: sie dulden lediglich, will man als Schriftsteller heute "ins Geschäft" kommen, also veröffentlicht werden, KEINE literarischen handschriftlichen Einsendungen in die Lektorate. Vielmehr wollen sie bereits möglichst sogar computergeschriebene Texte bereits vorformatiert im Normseiten-Format. Das ist die nächste Einschränkung der künstlerischen Freiheit in der Literatur (aber auch der intellektuellen Freiheit im geisteswissenschaftlichen Denken). Jemand wie Peter Handke "darf" Texte noch so - also handschriftliche Skripte, einsenden. Denn er ist eine "sichere Bank" für einen Verlag, der in der Berechnung eines künftigen Absatzes auf dessen "Berühmtheit" setzen kann. Die er jedoch erlangt hat, BEVOR es das technische Reglement und damit die Totalkontrolle über die größtmögliche Aufgabe der Authentizität des/der Schriftstellers*in, des/der Literatur produzierenden Autors*in, gab. ... Ich würde sagen, das ist der Grund für eine "Orwell-Rückgriff-Schleife" in der wir festhängen und der Grund dafür, dass vieles von der uns heute als zeeitgenössische Literatur angebotenen Literatur keine große bis gar keine Kunst ist. Gleichwohl wird gerade sie "gefördert". Weil es egal geworden ist, ob Literatur originell, also auf Lebenserfahrung eines Einzelnen basierend, oder Originalität vortäuschend, also auf einer Lebenserfahrung die vor allem auf der Wahrnehmung der digitalisierten Welt eines Einzelnen basierend, hergestellt ist. Mit dem ein Verlag jedoch ohne große intellektuelle Anstrengungen (und d.h.: mit größtminimalisiertem Kostenaufwand), die sich auf den individuell geprägten Form-Inhalts-Zusammenhang eines Werkes beziehen, für den Absatz dieses Werkes werben kann. ... Ein weites Feld- und es lohnt sich bestimmt, es bis in die Dramatik als literarischem Genre hineinwirkend - und damit mit seinen Auswirkungen auch auf das Theater - zu denken-
Digitalisierung: Geigenbauer
"Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande."

Soviel zur Schrift als Technologie. Der Geigenbauer wird sich auch schwer tun, seine Geige ausschließlich mit Händen und Zähnen zu bauen. Und die Einführung der künstlichen Beleuchtung im Theater war eine umstrittene Entwicklung, hat auch zu einigen schlimmen Bränden geführt und ist möglicherweise der Grund dafür, weshalb Pfeifen dort noch heute verpönt ist.

Keiner hier spricht von blindem Fortschrittsglauben, von Digitalisierung des Theaters. Und wenn gefordert würde, nur noch eine bestimmte Art des Theaters zu fördern, nicht die Kunstform an sich, ist man in seiner illiberalen Regelungswut schon falsch abgebogen.
Digitalisierung: Handschrift
#13: Danke für das wunderbar gefundene und hier weitergegebne Zitat! -

Was ich für speziell nicht-entfremdete Literatur meinte, ist:

1. durch eine/n Autor*in handgeschriebene Vorschrift(stufen)
2. durch die gleiche Person, die dabei ihre eigene Vorschrift, dabei selbst ihre eigenen Stimmungen, sichtbbar werdenden Gefühle sowie den Stil und Ausdruck ihrer Gedanken beim Notieren derselben kritisch wahrnehmend, selbst korrigiert Eingabe in den Computer über Tastatur, eventuell weitere Korrekturstufen und weitere nachkorrigierte Eingabe = entspricht: selbst-korrigierte/selbst-kritische Transformation
3. Angebot zur öffentlichen Verbreitung an Medien
4. Entscheidung von Medien-Besitzern über die öffentliche Verbreitung

Daraus folgt: bei sofortiger Computereingabe unter Verzicht auf Hand-Vorschrift: Verzicht auf die Transformation von Originalität, die sofortige Computereinagbe ist bereits eine Fälschung von Selbst und damit Verzicht auf geistige Freiheit. Ein Verzicht auf das, was Autor-schaft WESENTLICH ausmacht. Die eine Voraussetzung für die Produktion von Kunst in der Literatur ist. Betrifft dies das Genre der Dramatik, hat das Folgen für die Schauspielkunst. Die nicht-diktierte Handschrift-Vorschrift garantiert als einzige die Authentizität eines Textes.

Der umgekehrte Vorgang ist ebenfalls interessant: Schreibt man Fremdtexte eigenhändig per Handschrift ab, lassen sich ebenfalls interessante Rückschlüsse ziehen auf die Wirkung von Texten, Textanteilen, Wörtern und auf das, was und wieviel von einem Text ein Geist als WAHRHEIT emfunden hat beim Lesen. Ich mache solche Sachen experimentell seit Jahren und kann dies zur Nachahmung empfehlen, wenn man sich unsicher ist darüber, ob ein Text automatisch generiert wurde, halbautomatisch selbst erstellt oder mechanisch selbst erstellt oder authentisch von jemandem selbst erstellt wurde. Nachteil des Verfahrens: macht sehrsehr viel Arbeit. Unbezahlte.
Vorteil des Verfahrens: unbezahlbarer Erfahrungszuwachs in einer Welt der durchkapitalisierten Textveröffentlichung.
Theater und Digitalisierung: Digitalisierung kann Theater del Arte nicht ersetzen
Als Werkzeug die digitalisierung des Kunst-kultur-spziales Netzwerk ist ein Mittel zum Zweck.Es kann negativ wie positiv instrumentalisiert werden.
Theater del Arte wird es wohl in der Form ,des privaten und öffentlichen Raum nicht ersetzen,kann es aber verdrängen.
Das wäre sehr schade,denn dann ist es kein Raum der Demokratie und wie im letzten Jahrhundert werden Klassen ausgegrenzt.Ich kenne noch die Theaterfestivals aus den 79/80ziger Jahre ,wo die Reformation Piscator Platz genommen hat.Das ist heute in unsere gespaltene Gesellschafft verloren gegangen.Im Wahlkampfstraßentheater ,habe ich Bewunderung erhalten und junge Generation kennt diese Form nicht mehr und ein älteres Publikum äußerte sowas gibt es heute nur selten....im Deutschen Theater im Theatertreffen sagte man:Theater del arte lebt heute nicht mehr und vor 2 Tage ist die Abrisskugel-Kudammbühnen Max Rheinhard-Komödien....eingeschlagen.Herr Lederer unser Kultursenat lachte mich aus als ich sagte ich mache jetzt weiter Theater del Arte....gerade aus der Tragödie und der Konservative im Öffentlichen Raum wächst auf den Marktplatz oder im Kellertheater der Austausch im Ganzheitlichen Sinne durch Tanz-Sprache-Malerei-Handwerk-Musik in analoge Form das Kulturelle und Soziale-im Reigen ....deshalb sehe auch eine große Gefahr der Kulturentwurzelung auch das Digitale.Es kann das Humanistische Stadt-Land-Marktplatz-des Volkes nicht ersetzen.In mein Wahlkampf habe ich mit mein Stadttheater 2% das ist für eine kleine Partei sehr viel und jetzt bin ich wieder Parteilos und arbeite analog und hier digital an meiner Neuen freien Volksbühne Berlin West.
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