Decolonize me!

von Geneva Moser

Basel, 8. Februar 2018. Selten fiel an einem Tag das Wort "decolonize" so häufig. Ist etwa das, was für die Schweiz und ihre Theaterwelt dringende Aktualität und Notwendigkeit hat, bereits zum Modewort geworden? Ist jener politisch-aktivistische Begriff nicht schon ausgehöhlt, wenn er hier, bei staatlich finanziertem und großangelegtem Zusammentreffen etablierter internationaler Kunstschaffender eine mantra-artige Verwendung findet? Diese Frage lässt sich sicherlich stellen. Und doch: Für die Kritikerin – auf ihre eigenen Stereotypen zurückgeworfen und emotional sozusagen komplexitäts-bewegt – sind die Inszenierungen "Also the real thing" und "Black Off" am Festival Crossroads genau das: eine intensive, dekolonisierende Theatererfahrung.

Unter dem Titel "Crossroads – Internationale Perspektiven auf Kultur, Kunst und Gesellschaft" feiern drei der internationalen Partner-Länder der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia ihr rundes Jubiläum. Indien (10 Jahre), Südafrika (20 Jahre) und Ägypten (30 Jahre) stehen im Fokus des Festivals für internationalen Kulturaustausch. Die von der DEZA, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, und Pro Helvetia finanzierte Veranstaltung findet in Zusammenarbeit mit der Kaserne Basel, dem Festival Antigel in Genf und dem Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel statt. Ein breites Programm mit Podien, Performances und Konzerten gibt eindrücklich Beispiel für die Möglichkeiten vernetzter Kulturproduktion und -Förderung.

Recherchen in Neu-Delhi

Der Basler Regisseur Boris Nikitin beispielsweise arbeitete, finanziell gefördert von Pro Helvetia, in Neu-Delhi. 2013 riefen er und die Regisseurin Zuleikha Chaudhari zu einem Vorsprechen für das Theaterprojekt "Also the real thing" auf. Aus den Auditions von sechs aus über hundert Schauspieler*innen entwickelten Chaudhari und Nikitin ihr Stück. Aus dieser Ausgangslage, die zunächst jener von Mohammed Al Attars Iphigenie ähnelt, kreieren Chaudhari und Nikitin eine mehrstündige Rauminstallation. Die Schauspielerin Gaurangi Dang zeigt nun in Basel mit ihrem 15-minütigen Vorsprechen ein Teilstück der Dauer-Performance im Live-Loop.

AlsoTheRealThing 560 KaserneBasel uEcht oder gespielt? Gaurangi Dang erzählt in "Also The Real Thing" © Kaserne Basel

Gaurangi Dang erzählt aus ihrem Leben (den Unfall ihrer Schwester), erklärt ihr Selbstverständnis als Schauspielerin (Emotionen aus der eigenen Biografie schöpfen!) und spielt einen Monolog von Juliane Moore in "The Hours" (Es war der Tod – ich wählte das Leben!). Sie ist gleichermaßen Teil eines Vorsprechens und einer Installation, sie ist "echt" und "gespielt", bedient voreingenommene Seherwartungen und bricht diese mit überraschenden Überblendungen, bringt Echtheit und klare Identität ins Wanken.

Mithilfe Whitefacing und blonder Perücke

Identität ist denn auch Dreh- und Angelpunkt in "Black Off" von Ntando Cele. Identität als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion einerseits. Und Identität als ganz reale, materielle Existenzbedingung. Was nun ernst und wissenschaftlich klingt, ist in Celes Performance alles andere. Nämlich: Standup-Comedy. Cele entwickelt ihre Performance in Zusammenarbeit mit den Musikern Simon Ho, Patrick Abt und Pit Hertig zur locker-flockigen TV-Show mit rieselndem auf der sonst praktisch leeren Bühne live gespieltem Jazz-Sound weiter.

BlackOff 560 KaserneBasel u Die Welt weiß verständlich gemacht, bis dann Vera Black auftritt: Ntando Cele in "Black Off"
beim Festival CROSSROADS © Kaserne Basel

Showmasterin Bianca White, Celes Alter Ego, whitefaced und mit blonder Perücke, führt gurrend und säuselnd durch den Abend. Charmant und locker vergisst sie bisweilen wo sie ist (sowohl räumlich, als auch im Text), verwechselt gut und gerne mal ISIS mit Iris und fordert lässig zum Applaus: Dear fellow white people, give me a big round of applause. Vor allem aber lässt Bianca White kein rassistisches Vorurteil, keine Klassiker des Alltagsrassismus und auch keine weißen Selbstbestätigungen aus.

Die überspitzte weiße Selbstinszenierung erlaubt der Performerin die Dinge beim Namen zu nennen, zu kritisieren und gehört zu werden: die erlebte konstante Markierung als "die Andere" und "die Fremde" (darf ich deine Haare anfassen? Wie spricht man deinen Namen aus? Wann gehst du zurück nach Hause?), bis hin zum offenen Hass, der People of Color, getarnt als diffuses Angstkonstrukt, oftmals entgegenschlägt oder auch die unaufgearbeitete Rolle der Schweiz als Akteur und Profiteur im Kolonialismus.

Showmasterin "in Drag"

Die weiße Selbstinszenierung benennt hier für einmal die sonst unmarkierte "Norm": Als Zuschauerin bin ich permanent als Teil eines weißen Kollektivs adressiert, eines, das ordentlich ist und organisiert, komplizierte Kunst mag, über schlechten Sex spricht, zwar "lonely", aber "fucking happy" ist. Und auch eines, das natürlich nicht rassistisch ist, aber zu viel Zuwanderung als problematisch bezeichnet und sich erschreckt zeigt, über die vielen schwarzen Drogendealer, das kleine schwarze Kinder noch süß, als Erwachsene dann aber bedrohlich findet …

Was Ntando Cele hier tut, funktioniert nicht nur konzeptuell großartig, sondern ist auch Satz für Satz, Geste für Geste messerscharf gesetzt: "In Switzerland color doesn't matter – as long as you are white" lauten sie etwa, die nachhallenden Sätze des Abends. Aber "Black Off" ist nicht nur deshalb ein starkes Beispiel für dekolonisierende Theaterpraxis, weil eine vielschichtige und ausdrucksstarke Performerin äußerst geschickt Rassismus benennt. Ntando Cele gräbt in die tiefen Schichten, entlarvt die Konstruktionen von schwarz-sein und weiß-sein, zeigt die Mechanismen auf. Bianca White ist quasi Showmasterin "in Drag" und ihre Performance funktioniert nur vor dem Hintergrund des Gedankens "Eigentlich ist sie schwarz" und des gleichzeitigen Gedankenloops: "Moment, was ist denn das Eigentliche, das Wahre am schwarz-sein, wenn nicht die vorgefertigten Bilder und Stereotype?"

Blickwechsel zu Vera Black

Nach der Pause sind whiteface und Perücke dann verschwunden: Mit Vera Black rockt die Punk-Version von Franz Fanon (nicht metaphorisch gesprochen, sondern ganz wörtlich: Punk-Songs aus Fanon-Texten) die Bühne. Vera Black, ein weiterer Alter Ego von Ntando Cele, ist das nun die Wahrheit (Vera) über Schwarz-sein? Nach einer erster Begeisterung über empowertes Kampf-Punk-Gebrüll und kluge identitätspolitische Statements, wird auch hier die Persiflage deutlich: Cele performt die selbstbewusste Aktivistin mit Netzstrumpfhose und lauter Stimme. Auch weil ich, weil wir sie so sehen wollen – sexy und unabhängig und für alle People of Color sprechend? Weil der weiße Blick sie so konstruiert?

"Black Off" ist indirekt ein Appell, vorgefertigte Bildern und Seherwartungen zu ver- und andere, neue Bilder und Muster zu er-lernen. Wie es Jasper Walgrave, der Leiter des Festivals "Crossroads" im Interview gegenüber der bz-Basel formuliert hat: "Es dauert lange bis wir die Komplexität der Begegnung begreifen". Dekolonisieren, das heißt vielleicht, jene Komplexität, die jenseits von gelernten Stereotypen liegt, zu erlernen.



CROSSROADS
Festival  Internationale Perspektiven auf Kultur, Kunst und Gesellschaft

"Also the real thing"
von Boris Nikitin & Zuleikha Chaudhari. Mit: Gaurangi Dang.
Dauer: Loop à 15 Minuten

"Black Off"
Idee, Konzept, Spiel, Gesang, Video: Ntando Cele, Text, Co-Regie, Ton: Patrick Urweider, Musik, Komposition, Sidekick: Simon Ho,
Musik, Sidekick: Patrick Abt, Pit Hertig, Lichtdesign: Tonio Finkam.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.prohelvetia.ch
www.kaserne-basel.ch

 

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