Der Volksbühnen-Vagabund

von Christian Rakow

14. Februar 2018. Diese Ehre, in die lebendige Theatergeschichte einzugehen, wird nicht jedem Journalisten zuteil. "Ich sterbe für das Haus und für dich, Frank!" war auf einer der Comic-Zeichnungen zu lesen, mit denen Vegard Vinge und Ida Müller ihr "Nationaltheater Reinickendorf" eröffneten, im Juli 2017, am letzten Spieltag der Volksbühnen-Intendanz von Frank Castorf.

Der düstere Abschied eines Märtyrers: "Peter Laudenbach schreibt seine letzte Kronik für den TIP / Befor er schneidet seine Pulsader / Auf in die Badewanne", stand da noch über dem Leichenbildnis, das der Tradition großer Wannentoter von Seneca bis Uwe Barschel entstammte.

Kamikazehafter Kampf

Das Haus, für das es sich so zu sterben lohnt, ist also die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz unter Intendant Frank Castorf in den Jahren 1992 bis 2017. Und der Journalist Peter Laudenbach (Autor u.a. für die Süddeutsche Zeitung, das Wirtschaftsjournal "Brand eins" und eben auch das Berliner Stadtmagazin TIP) hat hier über Jahre tapfer gefochten. Als Interpret der Werke von Frank Castorf (und Christoph Schlingensief, Christoph Marthaler, René Pollesch, Herbert Fritsch). Und zuletzt auch als erster Kombattant im Ringen um die Zukunft der Volksbühne. Mit Texten wie Freiheit für Chris! schrieb er wie kaum ein anderer gegen die Übernahme der Intendanz durch den Museums-Kurator Chris Dercon an. Ein Ringen, das mitunter kamikazehaft kühn, mitunter auch lächerlich wirkte. Beidem, dem Mut zur Selbstaufgabe wie zur Peinlichkeit, huldigte das Vinge/Müller-Badewannenbild.

Jetzt legt Peter Laudenbach mit "Am liebsten hätten sie veganes Theater" eine Serie von Interviews vor, die er – größtenteils für den TIP – in den Jahren von 1996 bis 2017 mit (dem notorisch Interview-scheuen) Frank Castorf geführt hat. Ein Gespräch mit Castorfs kongenialem Bühnenbildner Bert Neumann (aus dem Tagesspiegel im Jahr 2015, kurz vor Neumanns plötzlichem Tod geführt) gibt's obendrauf.

Castorfs Disposition zur Gedankenflucht

Den Auftakt macht ein frischer Dialog, in dem erste Ergebnisse der Intendanz Dercon einträchtig verlacht werden. Wobei die schärfsten Spitzen bereits durch die Gazetten geisterten: "Das sind des Kaisers neue Kleider. Jeder weiß, dass der Typ nackt ist", sagt Castorf über Dercon.

Buchcover Frank Castorf 3D Das mag sachlich nicht verkehrt sein in Anbetracht von Spielplanlücken, der Minimierung des Eigenproduktions- und Repertoirebetriebs, des Ensemblerückbaus und was man sonst noch über den wackeligen Auftakt von Dercons "Volksbühne Berlin" erzählen könnte. Aber es ist als Intro in eine Gesamtwerkschau doch etwas deplatziert. Erst auf einem lahmen Pferd herumprügeln und dann in einen anderen Sattel steigen. Sottisen, die im Geschäft der Tagespresse noch einen kecken Witz versprühen, wirken zwischen Buchdeckeln ungut überhöht.

Dass in der Interviewpaarung Laudenbach/Castorf durchaus Potenzial steckt, merkt man besonders in den früheren Beiträgen. Wenn Castorf sich in Plattitüden über den Kosovo-Krieg ergeht, grätscht Laudenbach ihm dazwischen "Also sollen wir einen kleinen Völkermord akzeptieren, um keinen großen Völkermord zu provozieren?", oder er fragt auch mal geradeheraus "Ich lebe ganz gern in einer Demokratie. Wäre Ihnen die Diktatur irgendeiner kommunistischen Partei lieber?" Eine konkrete Antwort erhält er selbstredend nicht. Denn Castorf mäandert gern, häuft Material auf Material. Ähnlich wie in seinen Inszenierungen. Eine Disposition zur "Gedankenflucht" schreibt sich Castorf selbst zu, wie das Nachwort des Buches informiert.

Konzentration aufs Volksbühnenende

Die großen wilden Jahre der Volksbühne der 1990er kommen mit Ausnahme eines eher randständigen Interviews nicht vor. Das Gros der Texte liegt in den Jahren nach 2010, als sich das Ende der Intendanz Castorfs abzeichnet und der Gesprächston teils unerträglich larmoyant wird (anders übrigens die Inszenierungen dieser Phase, die nach einer Dürreperiode 2003 bis 2009 wieder an anarchischem Sinn und Schärfe zulegten). Immer wieder hadert Castorf mit der liberalen Konsenskultur oder damit, "dass von der Bühne eine spießige Moral verkündet wird" und die Neu-Berliner sich am liebsten ein "veganes Theater" wünschen (der knackige Begriff hat's denn auch in den Buchtitel geschafft).

Die enge Zusammenschau vormals unverbundener Texte macht die Anwürfe reichlich redundant. Auch wenn sie gelegentlich in herrliche Verdichtungen münden: "Heute hat Kunst vielleicht nur als etwas Partisanenhaftes eine Chance. Man kommt kurz von den Bergen runter, macht eine Strafaktion und zieht sich wieder zurück." Solch erfrischend überzogenes Pathos gibt's nach Heiner Müller eigentlich nur bei Castorf.

Castorf Frank 280 c Thomas Aurin xDer Interviewte: Frank Castorf © Thomas Aurin

Im Ganzen aber sind die Interviews doch sehr im Tagesgeschäft verhaftet. Castorfs frappierend offenes Lob für seinen früheren Chef-Dramaturgen Matthias Lilienthal oder sein Resümee zur versuchten "feindlichen Übernahme" durch den Kurzzeit-Chefdramaturgen Stefan Rosinski – so etwas hatte seinerzeit 2009 und 2010 sogleich Meldungswert. Mit etwas Abstand verblasst es zur Kantinenrandnotiz. Punktuell erhält man wertvolle Einblicke in Castorfs Lektüren von Dostojewski, H. C. Andersen oder von Giftschrankliteraten wie Céline und Malaparte. Aber über die Praxis des Regisseurs erfährt man wenig, sein Blick auf Spieler*innen und andere Künstler*innen, geschweige denn auf Künste abseits des Theaterfachs, fehlt weitestgehend.

Merke: Zweiter Aufguss ist nicht. Um tiefer zu schürfen, bleibt dem Doppel Laudenbach/Castorf nichts übrig, als beizeiten neu zusammenzufinden und dann mal gründlich die Jahre durchzugehen. Für eine frische Interview-Strecke vom Schlage der Müller-Raddatz-Bücher "Zur Lage der Nation". Oder warum nicht gleich eine Biographie im Dialog? Muss ja nicht "Krieg ohne Schlacht" heißen. Aber doch ein bisschen mehr als das hier dominante Motiv "Vagabund ohne Haus". Wie sagt es Castorf am Schluss zu seinem Status nach der Volksbühne: "Ich gehe jetzt als Brandstifter, als Vagabund durch die Welt. Welcher Rentner kann das von sich sagen, dass er noch so viel Unfug anstiften kann. Das ist ein Riesenprivileg." Also "Der Brandstifter". Das wäre es eigentlich.

Am liebsten hätten sie veganes Theater
Frank Castorf / Peter Laudenbach. Interviews 1996–2017.
Mit einem Interview mit Bert Neumann.
Berlin, Theater der Zeit, 2017, 141 Seiten, 15 Euro

 

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