Dialektik des blinden Flecks

von Sophie Diesselhorst

20. Februar 2018. Unlängst hat Frank Castorf ein langes Radio-Interview gegeben. Die NDR-Kultur-Sendung heißt "Klassik à la carte", was man im Zusammenhang mit dem Weltenzerschmetterer Castorf unfreiwillig komisch finden kann. Andererseits ist Castorf ja selbst längst ein Klassiker. Und in dem Interview bietet er ein launiges Best-of seiner politischen und ästhetischen Positionen – wobei er es als einer, der "sagt, was andere nicht sagen", natürlich strategisch erschwert, seine Äußerungen in solche Kategorien einzusortieren.

Kolumne 2p diesselhorstDas ist auch gut so! Diese schillernde Freiheit zur Ambivalenz wird allerdings auch von einer Öffentlichkeit ermöglicht, genauer gesagt einem Publikum, das bereit ist, symbolisch die Gesellschaft zu bilden, außerhalb derer der freie Künstler sich positionieren und provozieren kann. Als Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hat Castorf über 25 Jahre einen magnetischen Ort geschaffen für genau so eine Öffentlichkeit: einen Ort, an dem man von Herbert Fritsch hysterisiert, von Vegard Vinge angekackt und von Castorf selbst programmatisch in die Verzweiflung des "Es nicht länger Aushaltens" getrieben wurde. In vier- bis achtstündigen Inszenierungen konnte die Drehbühne wie ein korrumpierter Kompass in den x-ten Exkurs rotieren, während dabei immer unklarer wurde, wo genau sich der Erkenntnishorizont befinden könnte. Und immer öffnete er sich irgendwann, wenn auch manchmal wolkenverhangen.

Verunsicherung durch Hashtagdebatten

Castorf ist also ein Experte der (künstlerischen) Leidenserzeugung. Und wenn jetzt – auch im Theaterbetrieb – emanzipatorische Debatten wie #MeToo mit Leidensgeschichten angefüttert werden im Aufbruch für ein neues ethisches Bewusstsein, dann nimmt es nicht Wunder, dass er diese unkünstlerische Leidenserzeugung stümperhaft findet und gegen den "Proporz" wettert. Er fühlt sich selbstverständlich angegriffen.

In seinen schönen Worten "das Licht des eigenen Denkens anlassen" wollend glaube ich aber, dass es der gesellschaftlichen Resilienz nicht schadet, sich von "Hashtagdebatten" verunsichern zu lassen. Im Gegenteil nutzt es ihr: Die eigenen Urteilskriterien neu zu hinterfragen, sich zu sensibilieren für andere, unterschiedliche Wahrnehmungen, entspricht doch gerade dem Anspruch, die Offene Gesellschaft nicht als etwas Gegebenes hinzunehmen und in Dekadenz zu verrotten, während im Mittelmeer Flüchtende ertrinken. Nochmal Castorf: "Wir müssen als Künstler gucken, wenn Leid außerhalb unseres Konsens geschieht."

Einen aktivistischen Schritt zurück, bitte!

Was im Zuge solcher Bekundungen, egal von welcher Seite, schnell unter den Tisch fällt: Egal auf welches Leid man schaut, man schaut auf ein anderes nicht und bildet also neue blinde Flecken aus. Das ist im menschlichen Auge so und in der menschlichen Psyche. Ohne blinden Fleck sind wir blöderweise gar nicht in der Lage zu sehen, also auch nicht in der Lage, uns von etwas angegriffen zu fühlen! Einen aktivistischen Schritt zurück braucht aus genau dem gleichen Grund auch die Fantasie die Zusicherung des blinden Flecks.

Wer auf seinen bestehenden blinden Flecken beharrt, nachdem sie ins gesellschaftliche Blickfeld gerückt sind, wer zum Beispiel negiert, dass die Objektivierung von Frauenkörpern eine Geschlechterungerechtigkeit erhält, dem unterstelle ich ein mangelndes Vertrauen in die Entwicklungskraft dieses wichtigen Selbstschutz-Mechanismus.

Produktives Angegriffen sein

"Schauspielerinnen in furchtbarer Straffung der kosmetischen Industrie sagen mir, was Wahrheit sein soll?" sagt Castorf in dem Radio-Interview und tut die #MeToo-Debatte in gewohnt provokanter Manier als hohle Wichtigtuerei ab. Ja, sehr verehrter Frank Castorf, vielleicht war es diesmal kein Kind, das des Kaisers neue Kleider nicht sehen konnte, vielleicht gaben den Anstoß mehr oder weniger gestraffte Schauspielerinnen, sowenig Sie ästhetisch und auch sonst von ihnen halten mögen.

Akzeptieren wir also den Blinden Fleck als Selbstschutz-Mechanismus, damit wir uns weiterhin allesamt produktiv angegriffen fühlen und so überhaupt eine Öffentlichkeit bilden können. Wenn wir den Anspruch haben, dass es in unserem Zusammenleben besser und gerechter zugehen könnte, muss er sich aber bewegen dürfen. Für das Publikum, und damit auch für die Künstler*innen, die ihm ja idealerweise und bei Castorf definitiv, wenn auch als weit vorauseilende Avantgarde, angehören.

 

Sophie Diesselhorst ist Redakteurin bei nachtkritik.de. Vorher hat sie mal drei Wochen in einem Call Center gearbeitet, wo sie dazu angehalten wurde, möglichst schnell "Ich aktiviere Sie jetzt!" zu nuscheln, um krumme Deals zu besiegeln, ohne dass der arme Mensch am anderen Ende der Leitung es merkt. In ihrer Kolumne versucht sie deutlich zu sprechen.

 

In ihrer letzten Kolumne plädierte Sophie Diesselhorst u.a. für einen Theaterbetrieb mit gleichen Aufstiegschancen für alle.

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Kommentare  
Kolumne Diesselhorst: solidarisch?
Es ist auch so eine Frage der "Solidarität" um die es Castorf zuletzt in dem Gespräch und auch letztendlich einzig ging: Wem gegenüber verhalte ich mich solidarisch? Kann ich mich überhaupt solidarisch verhalten, wenn ich draußen, außerhalb des Theaters, gar nichts sehe und niemanden treffe? Kann ich mich theoretisch solidarisch verhalten nur durch Theater?
Kolumne Diesselhorst: genau hinhören
vielleicht hören sie mal genau hin, was herr castorf sagt und fragt in diesem interview - nämlich: warum haben schauspielerinnen sich nicht gewehrt und die herren bei strafrechtlich relevantem vorgehen angezeigt, sondern lieber - und eben nicht auf grund reinen talentes - karriere gemacht? und sich erst dann beschwert, als sie reich und berühmt geworden waren?
das ist eine vollkommen legitime und richtige frage.
was er wohl meint und womit er wie ich finde recht hat ist: diese ganze meToo debatte wird einseitig geführt, ist heuchlerisch und tut so, als waren frauen immer nur opfer und jongliermasse. niemand zwingt eine frau auf eine besetzungscouch - für anderes als besetzungsfragen.
Kolumne Diesselhorst: nicht teilbar
ich habe in dem interview mit castorf wesentlicheres gehört und seine nebensätze zum tagesaktuellen #meetoo-thema wurden in angemessener knappheit und würze auf den für ihn entsprechenden platz verwiesen. was ist das für eine gesellschaftliche debatte, die sich als einziger priorität sexualisierter macht-spiele (ich meine nicht straftatbestände) widmet? (die schauspielerinnen in seinen inzenierungen werden ihm wohl verstärkt durch nackt-auftritte FREIWILLIG ihre solidarität bekunden - keine ahnung, ob die sich in interviews dazu äußern würden ...

WARUM picken sie sich gerade diese nebensätze des interviews heraus?

der satz "vielleicht war es diesmal kein Kind, das des Kaisers neue Kleider nicht sehen konnte" klingt für mich, als würde das kind etwas nicht sehen, was da ist - und nicht so, als würden alle anderen etwas behaupten und bewundern, was es gar nicht gibt >>> doch die lektion heißt doch: genau dies zu unterscheiden und BENENNEN und weder die nicht vorhandenen kleider zu feiern - noch allseits lauernde gewalt der männer als das hauptproblem der "zivilisierten" gegenwart medial zu bedienen - ein blick in die entwicklung der menscheitsgeschichte (welche castorf AUSFÜHRLICH studiert hat) würde auf das WESENTLICHE der probleme verweisen - was ja castorf im interview getan hat.


ps. noch abstruser ist ja die quoten-debatte - jedenfalls aus meiner sicht - wenn der weltweite ansatzpunkt 1 : 30.0000.000 der reichtumsverteilung genommen wird - und auf jeden beliebigen teilbereich heruntergebrochen würde

(Die 1.125 Dollar-Milliardäre, die es weltweit gibt, halten zusammen ein Vermögen von ca. 4,4 Billionen Dollar. Damit besitzen sie etwa vier mal so viel wie die untere Hälfte der Weltbevölkerung (etwa 3,3 Milliarden Menschen) zusammengenommen.)


prognose: sobald die groko-regierungsdebatte vorbei ist wird sich auch die mediale hobbylobby ganz anderen existenziellen problemen zuwenden - denn die soziale frage ist nicht in geschlechter, rassen, religionen teilbar
Kolumne Diesselhorst: outdated
Castorf sagt doch, dass sich die doofen reichen Schauspielerinnen nicht beschweren dürfen, sondern nur die gute alte Lidl-Kassiererin. Was er verschweigt, ist, dass die Schauspielerinnen, die sexuelle Übergriffe angezeigt haben, nicht in erster Linie die erfolgreichen waren. Die meisten Namen kannte man doch gar nicht! Ich finde seine Auslassungen total daneben, vor allem, weil das in seinen Inszenierungen propagierte Frauenbild wirklich nicht mehr up to date ist.
Dürfte sich denn etwa Lilith Stangeberg beschweren, wenn sie ausgiebig nackt Kohlen schaufeln muss oder sagt man bei Castorf darf?
Kolumne Diesselhorst: Vierfruchtmarmelade
Wie Sie, Frau Dieselhorst, bei Frank Castorf immer noch eine „weit vorauseilende Avantgarde“ erkennen wollen, ist mir schleierhaft. Diese ganze Diskurshuberei auf der Drehbühne fühlt sich für mich nur noch so an, als wenn Vierfruchtmarmelade durch einen Ventilator auf eine dreidimensionale Leinwand geschossen wird. Kein neuer Fokus, keine Konzentration, nur eine ausgefranste, nostalgische Ästhetik ohne Zukunft.

Wer sich in Gender- und Geschlechterfragen auf das Theater des Herrn Castorf verlässt, ist schon verloren. Soviel ist sicher. Wenn er sich wenigstens gefragte hätte, wie viel „Stalinismus ohne Stalin“, ohne die Notwendigkeit einer zentrale Kontrolle durch eine Person, sich in dem System Hollywood verbirgt, dann hätte ich mich vielleicht interessieren können. Aber die Verantwortung allein auf die dort agierenden Schauspielrinnen und Schauspieler zu verlagern, nur um sagen zu können, sie hätten doch alle juristisch klagen können, zeigt eine solche Unkenntnis der Lage von Opfern in solchen Systemen, dass ich statt gesellschaftlicher Avantgarde nur den berühmten Backlash erkennen kann. Von Castorf erwarte ich mir schon lange keine Zukunftsvision mehr. Er hadert ja immer noch mit dem Problem, dass er nicht darum gebeten hat in der BRD beheimatet zu sein. Nein, er bat nicht darum, aber offensichtlich ein großer Teil einer Bevölkerung, mit der er einstmals gemeinsam die DDR abbildete. Lang, lang ist es her.

Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, es gibt mittlerweile eine fortschrittliche Feminismus-Kritik, die weit nach vorne schaut, während Castorf noch mit dem Buchstabieren beschäftigt ist.
Kolumne Diesselhorst: Castorf, Frauen, Kohle
@4: Ihre letzte Frage beantwortet Castorf im Prinzip glasklar im NDR: Wenn etwas vorläge, solle sie es anzeigen; alles andere wäre feige.

Ich habe da übrigens eine weiße rich bitch Kohlen schaufeln sehen und nicht Lilith Stangenberg.
Kolumne Diesselhorst: Kurzschluss, Schwäche, Machtspiel
Warum die Frauen das nicht angezeigt haben? Guter Einwurf, aber:

Erstens, ist denn klar, dass sie es tatsächlich nicht getan haben? Oder gab es vielleicht Anzeigen, die aber, wie sich alle hier sicher denken können, gern mal von theatereigenen und/oder -befreundeten Rechtsanwälten (aus der Politik) verschoben werden können (merke: Recht und Macht haben auch etwas mit Geld zu tun, nicht wahr, Kaiser Jones?).

Und das zweite Problem bei solchen Anzeigen wird (vorhersehbar) sein: Es steht Aussage gegen Aussage, zwangsläufig, weil es keine Zeugen gibt/gab. Zumindest im Falle der intimen Begegnungen auf dem sogenannten Besetzungssofa. Die verbalen Entäußerungen bzw. Herabsetzungen von RegisseurInnen auf der Probe sind nochmal ein anderes Thema.

Befragen möchte ich den von Sophie Diesselhorst genannten Kurzschluss, indem sie vom Anspruch, die offene Gesellschaft nicht als gegeben hinzunehmen über die "verrottete Dekadenz" auf die ertrinkenden Flüchtenden im Mittelmeer kommt. Das geht mir zu schnell. Das Absurde an der Menschheit ist doch eher, ob nun bei den Hippies, bei (dekadenten) Künstlern oder besser bei allen Menschen, dass sie ihren - mit W. Herrndorf formuliert - "Überlegenheitsaffekt" nicht verhüllen können. Ausserdem: Wenn wir davon ausgehen, dass wir alle schwach sind, fehlbar und chaotisch, dann müssten wir diese Schwäche nicht in anderen bekämpfen. Geht es hier, bei der #MeToo-Debatte, jetzt aber um das Bewusstsein der Schwäche im jeweils anderen oder ist es nicht eben doch das (geplante Sadomaso-)Machtspiel (und das kann natürlich von allen Menschen ausgehen, nicht nur von Männern)? Manche Menschen spüren ganz genau, wen sie vor sich haben. Und nutzen das gezielt aus. Auch für ihre Machtspielchen. Es gibt aber auch eine persönliche Verantwortung für die Gleichwürdigkeit, Gleichwertigkeit und Integrität des anderen.
Kolumne Diesselhorst: Zwangsehe DDR - BRD
#5

"Er hadert ja immer noch mit dem Problem, dass er nicht darum gebeten hat in der BRD beheimatet zu sein."

tja, nicht alle stehen auf "zwangsehe".

befragen sie doch mal die zahlreichen ensemble-mitglieder aus der ex-ddr, die schon zu mauerzeiten durch die ganze welt zu auftritten reisen konnten, warum die nicht GEBETEN haben in der brd leben zu dürfen ...
Kolumne Diesselhorst: Ironie
Vielleicht, Herr Baucks, ist das mit der weit vorauseilenden Avantgarde ironisch gemeint. Vielleicht sind auch die Sätze von Herrn Castorff nicht so pur zu nehmen, sondern geradezu provokativ, um den politisch korrekten Diskurs in Schwung zu bringen. (Man schläft ja ein sonst.) Frau Diesselhorst ist ja sehr klug und merkt so etwas und antwortet dann klugerweise mit etwas Ironie. Ich bin übrigens auch ziemlich klug, was sicher schon deutlich wurde.
Kolumne Diesselhorst: Verhandelt ist möglich?
@ Fairtrade: Das würde mich auch interessieren. Castorf erweckt hier den Anschein, als könne eine gute Schauspielerin mit ihm über ein Inszenierungskonzept diskutieren und somit Szenen (wie z.B. auch die des nackten Kohleschaufelns) gemeinsam verwerfen. Jeder kann sich denken, dass das konkret niemals der Fall sein wird. Entweder Stangenberg macht das einfach. Oder sie weigert sich. Mal sehen, was Castorf dazu sagen würde.
Kolumne Diesselhorst: der bessere Mensch?
@ Hans Zisch: Ja schön, lassen Sie Ihre Wut ruhig raus. Eine weisse rich bitch, also. Hass setzt Menschen auch in Beziehung, aber sicher nicht im Positiven. Sagt auch Castorf. Wer schwarz ist, auch im Metaphorischen (der Arbeiter, der Kohlen statt Kohle/Geld schaufelt), der ist also automatisch der moralisch bessere Mensch?
Kolumne Diesselhorst: Möglichkeit einer Differenz
Wenn ich (mal) wütend sein sollte, dann nicht vorwiegend auf das Weiße in/an uns (vgl. dazu Heiner Müller, Sasportas in "Der Auftrag": "Neger aller Rassen"), sondern auf die verschwimmende Tiefenschärfe bei der Debatte zu Form - Inhalt - Um-Welt.
Wer Bühnengeschehen ausschließlich als Realität des dort Geschehenden und nicht vorwiegend des zu Zeigenden versteht, wird vielleicht im Dokumentarfilmbereich besser bedient. Dort gilt: Eine Bitch ist eine Bitch ist eine Bitch. Auf dem Theater besteht die Möglichkeit einer Differenz. Mindestens.

Hass ist mir fremd, Neugier und Sehnsucht nach Tiefe vertraut. Mich langweilen Sieger. Ich kann Anstand und Stand auseinanderhalten. Ich liebe die Kunst. Insbesondere jene, die Sicherheiten infragestellt. Ansonsten gehe ich lieber in die Kirche oder ins Parlament oder ins Stadion. Das macht auch Fez (merke: nicht: Fetz).
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