Wohlfühlfilmtheater

von Dorothea Marcus

Bochum, 24. Februar 2018. Alles ist schön an diesem Bahnhof von Bühnenbildnerin Lydia Merkel: leuchtend blaue Kacheln, blaue Wände, pittoreske Bogenfenster: nostalgisch renovierter Charme. Nur die Uhr hat keine Zeiger, und da merkt man: dieser Transitraum ist aus der Zeit gefallen. Die junge Frau Nil (Almila Bagriacik) tigert gelangweilt darin herum, im Zwischenreich von Tod und Leben gibt es weder Handy-Empfang noch Netflix-Streaming, ganz zu schweigen von Zugverbindungen.

Ins Koma gefallen

Auf der anderen, der realen Seite der Welt - unerbittlich dreht die Bühne die Räume des Dies- und Jenseits vorbei - lauern lediglich: ein Krankenhaus, der stete Rhythmus des EKG, eine hektische Friseurinnen-Mutter, die den Kundentermin verschiebt und sich am Krankenbett der Tochter sogleich in bitterböse und lustige Streitereien mit dem Kindsvater und Exmann verstrickt. Der ist ein hundertprozentiger griechischer Patriot, der sich mit seinen jungen Geliebten brüstet. Und im Krankenbett der ins Koma gefallenen Tochter Nil liegt - ein Cello. Ein Bild zwischen Banalität und Übermut: Schön, wie hier mit wenigen Strichen eine Meta-Ebene eingezogen wird, die man spirituell lesen kann - oder auch einfach ironisch. Was könnte besser die Sphären des unbegreiflichen Übergangs zwischen Leben und Tod beschreiben als Musik - und was könnte diese Metaphysik zugleich besser ironisieren als ein nie gespieltes Musikinstrument?

traeumweiter 560 DianaKuester uEs fährt kein Zug ins Nirgendwo: Dennis Herrmann (Patrick) und Almila Bagriacik (Nil)
© Diana Küster

Die filmpreisgekrönte Dortmunder Drehbuchautorin Nesrin Șamdereli (Almanya - Willkommen in Deutschland) hat mit sicherer Komik und in flotter Sprache eine Art interkultureller Komödie geschrieben, bei der es aber mehr um Familienentfremdung und Gender-Konflikte als um den Dauerbrenner Migration geht. Am Bett der Koma-Patientin versammelt sich das türkisch-griechische Ex-Paar und rupft gehässig alte Hühnchen miteinander im nachehelichen Verarbeitungs-Wettlauf, während das Tochter-Cello vor ihnen mehr oder weniger unbeachtet im Koma liegt. Schnell stellt sich heraus, enthüllt von der strengen Transgender-Chefärztin (Dennis Herrmann), dass Tochter Nil lesbisch gelebt hat - etwas, wovon die eher konservativen Zuwanderer-Eltern ebensowenig wussten wie von ihrer angeblichen Epilepsie.

Komödienpersonal

Sehr geschmeidig und lustig hat Șamdereli in ihrem Stück aufgeschrieben, wie störrisch und penetrant der Vater seinen griechischen Nationalstolz hoch-, wie seine Ex-Frau trotzig ihr Osmanentum dagegenhält - letzte Rettungsanker der Identität im Exil - kurz bevor sie durch die Enthüllung der sexuellen Orientierung der Tochter völlig aus ihrem Konzept gebracht werden. Schön ist auch, wie ignorant und latent rassistisch die Chefärztin, die in jeder Szene mit neuen Prachtperücken und schick tailliertem blauen Arztkittel die herrische Dame von Welt gibt, den Vater "Papadakoulous" nennt - denn irgendwie heißen die ja alle so - und wie das immer einfach so hingenommen wird.

traeumweiter 560a DianaKuester uVon wegen "Träum weiter!", schwer was los im Krankenzimmer in Bochum  © Diana Küster

Sensibel und dennoch lustig ist auch die berufstätige Mutter, die hingebungsvoll das Cello poliert und dabei vom schlechtem Gewissen gepeinigt ist, aber ihrem Ex-Mann die Akupunktur-Nadeln ins Bein rammt, als seien es Klappmesser. Und dann ist da auch noch die freigeistige Freundin von Nil, deren Erscheinen am Krankenbett Schockwellen auslöst, mit ihrem erotisierten Helferkomplex, der sich am liebsten an traumatisierten Flüchtlingen entzündet - weswegen sie sich auch von Nil, die ja nur Gastarbeiterkind ist, schon getrennt hat.

Abrechnungen und Versöhnungen

Im aus der Zeit gefallenen Nichts des Bahnhofs dagegen, das immer wieder gegen die Krankenhauswelt geschnitten wird, erhält Nil Besuch von Gespenstern der Vergangenheit: ihr erster Freund, die Kunstlehrerin, und schließlich der Großvater mit Luftballons, der sich am Ende auch als Crossdresser entpuppt. Letztlich ist das Koma von Nil nur ein technischer Auslöser für viele Abrechnungen und Versöhnungen mit der Vergangenheit, um die sich "Träum weiter" wirklich dreht. Und darin bleibt das Stück auch stecken, so glänzend und geschmeidig es an diesem Abend von wirklich tollen Schauspielern auch gespielt sein mag - allen voran die für ihre jungen Jahre vielfach ausgezeichnete Fernsehschauspielerin Almila Bagriacik (z.B. im Kieler Tatort als Komissarin Mila Sahin) als Nil, die sehr schön erotisches Selbstbewusstsein, kindliche Lieblichkeit, trotzigen Ausbruchswillen und sehnsüchtige Verlorenheit in ihrer Figur versammelt. Aber auch Sabine Osthoff als berufstätige Mutter, die sich am Ende leichtherzig und froh für ihr Kind opfert, "unterschätze niemals die Menschen, die dich lieben", heißt es einmal - ist gut besetzt, auch wenn sie eigentlich für eine Schauspielerin mit echtem Migrationshintergrund nur eingesprungen ist. Doch da in "Träum weiter" das Thema Migration eben nur ein Hintergrundrauschen ist, das deutsche Normalität 2018 letztlich doch auch recht gut bezeichnet, fällt das nicht weiter unangenehm auf: sollte es nicht genauso normal sein, Migrantenrollen mit Biodeutschen zu besetzen wie umgekehrt?

Das erste Theaterstück der Drehbuchautorin Șamdereli hat das Zeug, zu einem leichtfüßigen und spritzigen Boulevard-Klassiker zu werden. Die Bochumer Inszenierung von Selen Kara, die in Istanbul Theater studiert hat, unterstreicht das Märchenhafte der emotionalen Komödie, bei der sich am Ende fast alle wieder lieb haben (bis auf die Mutter, die sich fast unbemerkt fröhlich für das Koma entscheidet): in extrem gut aussehender Kleidung und wunderschöner bunter Bühne in schicken Pastell- und abgetönten Bordeaux- und Blautönen wird hier letztlich vor allem erzählt, dass die gemeinsame Vergangenheit einer Familie schließlich das Allerwichtigste ist und dass so etwas wie Liebe, die sich immer durchsetzt, schon alle geschlechtlichen Normabweichungen tolerieren wird. Das ist schön und harmonisch, ein echter Gute-Laune-Abend. Aber letztlich bleibt er dann auch rechtschaffen harmlos.

 

Träum weiter!
von Nesrin Șamdereli
Uraufführung
Regie: Selen Kara, Bühne: Lydia Merkel, Kostüme: Emir Medić, Musik: Torsten Kindermann, Licht: Denny Klein, Dramaturgie: Sascha Kölzow.
Mit: Almila Bagriacik, Anne Eigner, Sabine Osthoff, Henrik Schubert, Dennis Herrmann, Veronika Nickl, Vedat Erincin.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"'Träum weiter' ist eine ebenso heitere wie berührende Auseinandersetzung mit den Fallstricken des Familienlebens und stereotypen Geschlechterrollen, die eben doch tiefer in der Gesellschaft und im Denken des einzelnen verwurzelt sind, als man das gemeinhin wahrhaben will", schreibt Nathalie Memmer auf lokalkompass.de (26.2.2018). Dass eine türkisch-griechische Familie im Mittelpunkt stehe, sei dabei gar nicht so entscheidend. "Auch wer einen anderen Hintergrund hat, dürfte sich in der einen oder anderen Figur wiedererkennen. Das ist auch das Verdienst der durchgängig gut aufgelegten Schauspieler." Regisseurin Selen Kara habe "Träum weiter!" "mit leichter Hand und leisem Humor inszeniert – ein Vergnügen für den Zuschauer".

Hauptdarstellerin Almila Bagriacik tue sich "manchmal noch schwer mit der Darstellung großer Emotionen, die die Bühne fordert, und was verhandelt wird, ist manchmal banal", schreibt Max Florian Kühlem in den Ruhrnachrichten (26.2.2018). "Trotzdem ist dieses Stück ein wichtiges Statement, weitet Toleranz-Grenzen und macht einfach Spaß."

Eine "locker leichte Angelegenheit" hat Sven Westernströer gesehen und schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (26.2.2018): "Für eine Komödie fehlt das Tempo, für ein handfestes Familiendrama fehlt die Tiefe."

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