Archaisch und experimentell

von Ulrike Gondorf

Bonn, 27. Juni 2008. Auf diesen Abend lagen besondere Erwartungen. Eine Deutschlandpremiere war angekündigt und eine Begegnung mit den Studio Oyunkulari (The Studio Players) aus Istanbul. Die Truppe, die die Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Sahika Tekand vor 20 Jahren in Istanbul gegründet hat, ist längst über die Grenzen der Türkei hinaus zu einem Begriff geworden. Aktuell in ihrem Repertoire ist eine Bearbeitung der Ödipus-Trilogie des Sophokles von Sahika Tekant. In Bonn zeigte das Ensemble den letzten Teil: "Der Schrei der Eurydike" – besser bekannt unter dem Titel "Antigone". Und die gespannten und höchst konzentrierten (leider allerdings nicht sehr zahlreich erschienenen) Zuhörer wurden nicht enttäuscht. 

Staatsraison und Menschlichkeit

Die Geschichte folgt dem "Antigone"-Drama von Sophokles. Nach Ödipus ist Kreon an die Macht gekommen, kompensiert seine Unsicherheit mit Verabsolutierung der Staatsraison und drakonischer Strenge. Zwei Söhne des Ödipus kommen um im Bürgerkrieg um Theben. Der eine kämpfte für Kreon und wird von der Staatspropaganda zum gefallenen Helden aufgebaut; der andere war gegen die neue Macht und wird als Verbrecher und Verräter stigmatisiert.

Als abschreckendes Beispiel soll sein Leichnam nicht einmal begraben werden. Antigone aber, die Tochter des Ödipus und Schwester der beiden Rivalen, bricht dieses Gebot um der Götter und der Menschlichkeit willen. Rigide ahndet Kreon das mit der Todesstrafe, verliert damit jedoch auch seinen eignen Sohn Haimon. "Der Schrei der Eurydike", seiner verzweifelten Frau, beschließt die Tragödie.

Fast benommen ins Freie

Die Geschichte kennt fast jeder – der Abend vom Studio Oyunkulari ist trotzdem sehr überraschend. Acht Darsteller im Chor und sechs Solisten verhelfen dem alten Stoff zu einer theatralischen Überzeugungskraft und einer szenischen Wucht, die einen nach nur gut einer Stunde Spieldauer fast benommen aus dem Saal gehen lässt. Sahika Tekand entwickelt eine Bühnenform, in der Bewegung, Sprache und Licht eine packende Synthese eingehen.

Die Regisseurin (die in der Rolle der Eurydike selbst den beklemmend eindrucksvollen Schluss gestaltet) lässt gar nicht agieren im konventionellen Sinn eines Zusammenspiels verschiedener Figuren. Jeder ihrer 14 Darsteller steht auf leerer Bühne und im schwarzen Einheitskostüm frontal zum Publikum vor einem kleinen, eng fokussierten Scheinwerfer. In einer streng festgelegten Abfolge schnell wechselnder, tänzerischer Posen sprechen sie ihren Part und werden dabei von ihrem Scheinwerfer beleuchtet, der sofort erlischt, wenn jemand anderes das Wort ergreift.

Viele Lichtstände dauern nur Sekunden, und der Wechsel von Hell und Dunkel bringt ein stark rhythmisierendes, aufpeitschendes Element in den Abend hinein, das mit den kraftvollen, aber klaren und präzisen Körperbewegungen und der Dynamik des Textvortrags eine bezwingende Wirkung erzielt.

Tekand verfolgt diese Struktur mit derselben unerschütterlichen Konsequenz, die den Gang der geschilderten Ereignisse bestimmt. Im Anfang fragt man sich, ob dieses Schema ein ganzes Stück hindurch tragen könnte – bald kann man sich dem Sog nicht mehr entziehen. Denn die stilisierte Form macht es möglich, die einzelnen Szenen ins Extrem zu treiben, ein Pathos zu riskieren, das in jeder konventionellen Theatersituation lächerlich wirken müsste.

Emotionaler Mut

Mit ihrer Verbindung von choreographischem Theater, rhetorisch-strenger Sprache und musikalisierter Lichtregie findet Sahika Tekand einen spannenden, innovativen Weg zum antiken Drama. Interessanterweise erscheint das Resultat zugleich experimentell und archaisch.

Vielleicht liegt es auch am fremden, dunkel grundierten, melodischen Klang der türkischen Sprache, aber der Abend ließ immer wieder die Illusion aufblitzen, dass es so oder so ähnlich auch gewesen sein könnte vor 2500 Jahren. Seine Überzeugungskraft verdankt er dem hervorragenden Ensemble von Studio Oyunkulari, das begeisterte mit sprachlicher Virtuosität, perfekter Körperbeherrschung, höchster Präzision und emotionalem Mut.


Der Schrei der Eurydike
nach Antigone von Sophokles
Studio Oyunkulari, Istanbul
Text, Regie und Licht: Sahika Tekand; Bühne, Kostüme: Esat Tekand.
Mit: Cem Bender, Serif Erol, Arda Kursunoglu, Ridade Sarican, Sahika Tekand, Ulushan Ulusman u.a.

www.biennale-bonn.de

 

Kritikenrundschau

Ganz "umwerfend umgesetzt" habe Regisseurin Sahika Tekand die Geschichte der Randfigur des bekannten Antigone Stoffes, die Geschichte der Eurydike, Gattin von König Kreon, berichtet Stefan Keim in Fazit, dem mitternächtlichen Kulturmagazin des Deutschlandradios 17.6., 23:19 Uhr). "Männer mit nacktem Oberkörper" und Frauen, "auch wenig bekleidet", bildeten den "wuchtigen Chor", der "von der erstem Sekunde an" seine Texte mit "unglaublichem Tempo"  und einer "irren Lautstärke" brüllte, dass Stefan Keim am Ende froh war, nicht in der ersten Reihe gesessen zu haben.  

 

 

 

Kommentare  
Schrei der Eurydike: für Theaterleute ein Muss!
Dieser Biennale-Abend sollte für alle Regisseure und Schauspieler zur Pflichtveranstaltung werden, die je mit dem Gedanken spielen, sich mit der "Antigone", ja, mit der griechischen Tragödie allgemein zu beschäftigen. Ich hatte noch Stunden nach dem Besuch der Vorstellung eine Gänsehaut - intensiver, konzentierter und packender kann Theater kaum sein! Wer diese exzellente Chorarbeit erlebt hat, wird sich die Frage stellen, warum gerade auf deutschen Bühnen der antike Chor immer öfter gestrichen oder auf ein Minimum reduziert wird. Das Studio Oyunkulari hat endlich begriffen, was richtige Rhythmik, Aussprache und gemeinsames Atmen ausmachen können: jedes Mitglied ein Charakterkopf und trotzdem EINE Stimme, die so virituos und differenziert eingesetzt wird, dass dem Zuschauer der Atem stockt!

Die Solisten allesamt hervorragend, vielleicht gebührt hier dem Kreon-Schauspieler die heimliche Krone: wie er es schafft, dieses möderische Sprechtempo über eine Stunde lang durchzuhalten, ohne dabei einen Herzinfarkt zu bekommen, ist nur mit übermenschlichen Kräften zu erklären.

Auf jeden Fall die heutige (18.6), letzte Vorstellung besuchen! Die Aufführung reist im Anschluss zur Biennale nach Wiesbaden weiter.
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