Der Theatermacher - Kay Voges vernichtet in Dortmund mit Thomas Bernhard Schimpftirade die Schauspielkunst alten Typus
Das Ende des Theaters
von Gerhard Preußer
Dortmund 3. März 2018. Die Wiederholung ist das Schlimmste im Theater. Immer dasselbe sagen, immer dasselbe sehen, immer dasselbe schreiben. Immer wieder Thomas Bernhards "Theatermacher", immer wieder in Utzbach, in Dortmund, in Bochum. Die Theaterwiederholungsqual. Kay Voges hat sie nun für alle erfahrbar gemacht, nicht nur für die Schauspielerinnen und Schauspieler, nicht nur für die Kritikerinnen und Kritiker, für das ganze Publikum.
Der Berserker auf der Theater-Baustelle
Wie konnte man auch meinen, der Dortmunder Schauspielintendant und notorische Theatertechnikinnovator, könnte eine ordentliche Thomas-Bernhard-Inszenierung abliefern? In der ersten Dreiviertelstunde wird man in diesem Glauben gelassen. Die Bühne ist eine Baustelle (wie das Dortmunder Schauspielhaus immer noch, obwohl dort schon wieder gespielt wird). Sichtbeton, Staub, eine Sprinkleranlage, zwei Rolltore, vier Feuermelder, fünf Notbeleuchtungen, neun Feuerlöscher. Sehr vorschriftsmäßig (Bühne: Daniel Roskamp).
Andreas Beck ist ein mächtiger Bruscon, ein Theatermacher, der alle Fiesheiten, Schelttiraden, die ganze größenwahnsinnige, selbstzerknirschte, frauenverachtende Schimpfsuada auskostet: Sottisen gegen Schauspieler ("Ein talentierter Schauspieler ist so selten wie ein Arschloch im Gesicht"), Staatstheater ("In den berühmtesten Theatern von Deutschland wird heute gesprochen, das einer Sau graust"), Frauen ("Schwerfälligkeitsmenschen"), Kritiker ("Inkompetenzschmierer"), die ganze Welt ("fatale Weltkonstruktion“). Er fügt aber auch neuartige Sprechübungen ein: "Intendantenpippi, Intendantenpimmel, nimm ihn in den Mund." Etwas stutzig macht auch der Wirt. Uwe Rohbeck ist ein kleiner, schmaler Mann mit Lockenkopf, der immer wieder seinen enormen Gast nachstudiert, kopiert. Warum das?
Am Räuberrad der Volksbühne drehen
Nach der Konstatierung der "lebenslänglichen Theaterkerkerhaft" ertönen noch einmal die ersten Takte der Verdi-Ouvertüre zu "La forza del destino", dann beginnt alles von Neuem. Wieder: "Was? In dieser muffigen Atmosphäre? In diesem Utzbach!" Diesmal spielt Andreas Beck mit verschärftem Tempo, gelockerter Zunge und würzt den alten Text mit improvisierten aktuellen Anspielungen. (Utzbach liegt nun in Westfalen, aus Hitler wird Stalin, Bruscon beschimpft seine Frau als "vegane Votze", aus der Tirade gegen die Proletarier wird eine gegen die Feuerwehr). Ein Eisbär, dessen Augen rot glühen, wird auf die Bühne geschoben und schließlich, um deutlich zu machen, wer der wichtigste Theatermacher im Lande ist, ein zur Hakenkreuz-parodie erweitertes Räuberrad. Sohn Feruccio hat nicht nur einen Arm gebrochen, sondern gleich zwei Gipsarme. Die Spielweise wird etwas schlampiger.
Wieder am Ende angekommen, beginnt das Spiel noch einmal von Neuem und die Darsteller von Bruscon und Wirt tauschen die Rollen: ein hüpfender, spillriger Theaterdespot und ein monströser, böser Wirt mit riesiger Lockenperücke. Jetzt wird das Schema klar. Über der Bühne bemerkt man eine Reihe von Zahlen von eins bis neun. Die Vier leuchtet auf. Christian Freund, bisher der Sohn Ferruccio, singt nun, grässlich musicalartig vertont, den Text Bruscons, während Andreas Beck als voll vergipster Sohn im Elektrorollstuhl herumfährt. Das Tempo beschleunigt sich weiter, die Späße werden gröber.
Nun kommen die Damen dran: Mutter (Janine Kreß) und Tochter (Xenia Snagowski) spielen den Theatermacher und verkehren alle Machosprüche in ihr Gegenteil: "Mit Männern Theater machen ist eine Katastrophe." Jeder darf mal Theatermacher oder Theatermacherin sein. Das ist die Demokratisierung der Kunst. Die Theatertechnik zieht ein Register nach dem anderen. Harte Beats, rotierende Scheinwerfer, wirbelnde Schriftprojektionen von Schimpfwörtern, verzerrte Stimmen. Der Text wird zermanscht, zersetzt, verulkt. Die Bekleidung der Akteure wird spärlicher, Theaterblut fließt ("Blutwursttag"). Drei als Hitler kostümierte Figuren tanzen im Tutu. Nicht Utzbach wird immer schrecklicher, sondern das Theater. Die leuchtenden Zahlen über dem Bühnenportal wechseln ziemlich schnell von 5 bis 9. Das schön geordnete Theaterspiel, die "jahrtausendealte Perversität, in die die Menschheit vernarrt ist", löst sich auf in chaotische Effekte. Nun muss, nun muss das Ende kommen.
Und nach mehr als zweieinhalb Stunden kommt die erlösende Durchsage: "Ein technischer Defekt ist vorgefallen, bitte verlassen sie das Theater." Das Theater ist am Ende. Kay Voges hat erfolgreich demonstriert, wie man es zu Grunde richtet. Und über diejenigen gespottet, die mit großem rhetorischen Aufwand das gegenwärtige, nach-castorfsche Theater als Untergang des Theaters beschreien. Großes Gelächter.
Der Theatermacher
von Thomas Bernhard
Regie: Kay Voges, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Mona Ulrich, Dramaturgie: Michael Eickhoff, Matthias Seier, Licht: Sibylle Stuck, Video-Art: Tobias Hoeft, Mario Simon, Sounds: T.D. Finck von Finckenstein.
Mit: Andreas Beck, Janine Kreß, Christian Freund, Xenia Snagowski, Uwe Rohbeck.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause
www.theaterdo.de
Zuletzt zeigte Kay Voges Das 1. Evangelium frei nach Matthäus und Pasolini am Schauspiel Stuttgart (1/2018).
Kritikenrundschau
In der Kurzfassung seines Beitrags für Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (4.3.2018) fragt Stefan Keim, was der Kunst, dem Theater durch den Sturz der "allmächtigen Intendantenregisseure alten Stils" verloren gehe. In Voges' "grandioser" Inszenierung erlebe man das Ensemble "sprühend". Den ersten Teil inszeniere Voges "ganz klassisch als Sprechtheater". Dann springe die Aufführung wieder an den Anfang. Insgesamt gebe es "neun Annäherungen an das Stück". Eine "Musical-Version", einen "Punksong", "Bilder zwischen Horror und Groteske, Parodie und Huldigung an den Theaterwahnsinn".
"Das Theater von Kay Voges ist derzeit das Innovativste, das man weit und breit sehen kann – und 'Der Theatermacher' von Thomas Bernhard ist der vorläufige Höhepunkt", schreibt Bettina Jäger von den Ruhrnachrichten (4.3.2018). "Der Ritt durch die Regiestile von 1985 bis heute dürfte ein noch nie da gewesener Coup sein." Der Abend dekliniere die Möglichkeiten von Modernisierung durch. "Er spiegelt aber auch die Suche des Regisseurs Voges nach einem neuen Theater voller überbordender technischer Fantasie wider." Für den Besucher dieses theatralischen Meisterstücks bleibe vor allem der Riesenspaß, die Unterschiede der neun Varianten zu entschlüsseln.
"Bernhards Theatermacher ist Punk-Operette, Bad Taste im Showspielhaus, todgeweihte Nummernrevue und reichlich Selbst-Zitat", schreibt Lars von der Gönna in der Westfälischen Rundschau (4.3.2018). "Das Ensemble setzt diese Intendantenfreuden virtuos um. Dass es das Wahnwitzige unendlich viel besser beherrscht als das Wahrhaftige, es ist ja so gewollt." So sei dieser lange, mal putzige, mal quälend bemühte Bernhard-Abend alles, bloß nichts Überraschendes, sondern ein Gang ans Eingemachte, die abonnierte Dortmunder Avantgarde.
"Das ist große, klassische Schauspielkunst, mit der Dortmunds Schauspiel-Intendant Kay Voges Bernhards Stück inszeniert. Und Beck kann hier brillieren, weil er kongeniale Mitspieler hat wie den schmächtigen Uwe Rohbeck, der den Wirt der Kaschemme verkörpert", beschreibt Ralf Stiftel vom Westfälischen Anzeiger (4.3.2018) den Beginn des Abends. Später forme Voges Bernhards genialen Text in eine Folge immer knapperer, immer grellerer szenischer Loops um. Es sei eine Abstraktion, die mehr biete als nur die Selbstreflexion der Theatermacher. "Diese Inszenierung handelt nicht nur von dem, was auf der Bühne passiert. Sie bildet tatsächlich nach, was im Netz und auf der Straße passiert. Die Wut, die Vorurteile, die Selbstgefälligkeit."
"Man kann Voges an diesem Abend vorwerfen, er hätte sich in seiner Inszenierung einfach nicht entscheiden können. Man kann sagen, er habe keine echte Haltung zu Bernhards Stück entwickelt, sondern einfach alle möglichen Haltungen durchexerziert", schreibt bei den Ruhrbaronen (4.3.2018) Honke Rambow. "Na und? Wenn es fast drei Stunden lang so irre komisch ist, wenn es die Zuschauer so ratlos und gleichzeitig voller spannender Fragen und Anknüpfungspunkte zurück lässt, wenn es solch ein unglaubliches Schauspielfest ist, ist es dann nicht richtig?" Wenn das Theater versuche, die Welt zu erklären und Antworten zu geben, werde es überheblich. "Wenn Voges aber uns in seine Assoziationsstrudel hinabzieht, dann ist das Theater ganz bei sich selbst", so Rambow. "Dann ist es gleichzeitig erschöpfend und nervig, zutiefst beglückend und ehrlich, wahnsinnig und verwirrend wie die Wirklichkeit – nur eben in schön."
Martin Krumbholz befindet in der Süddeutschen Zeitung (online 6.3.2018, 18:52 Uhr) Bernhards Text sei heute eigentlich "unspielbar", er strotze vor "Misogynie, Misanthropie, Homophobie, patriarchaler Egomanie". Heute, glaubt Krumbholz, ginge ein derartiges brüskierendes Verhalten nicht mehr folgenlos durch. Entsprechend werde der "Theatermacher" in Dortmund "neun Mal (!)" gespielt. Da spiele etwa in einer der Wiederholungen der "erste" Wirt Uwe Rohbeck, "im gleichen Anzug, wie ihn auch Regisseur Kay Voges trägt", den ersten Brucson Andreas Beck "roh an die Wand" und nach und nach gerate Bernhards Text in eine Dekonstruktions-Schleife, die es in sich hat. Zuletzt performe "die herrlich koboldhafte Xenia Snagowski" den Super-Macho als Punk, "dessen ganz und gar nicht Bernhard'sche Parole "Fickt eure Väter" in groben weißen Lettern auf der Jeansjacke prangt". Was aber bleibe von Thomas Bernhard? "Der Text. Immerhin."
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Nun zitiert er die Essenz der letzten Arbeit Ragnar Kjartanssons an der Volksbühne im letzten Frühjahr, ein grandioser, von der Kritik gefeierter Abend mit Bernhard Schütz, Kathrin Angerer und Kjartansson selbst, die die knappe 15 minütige Handlung immer und immer wieder von vorne beginnen, über mehrere Stunden lang in immer neuen Variationen wiederholen: dramatisch, unbeteiligt, gelangweilt, in großen Musical Gesten oder einfach nur stumm... Ein Ereignis bei dem diese besonderen Schauspieler über sich selbst erfinderisch hinauswachsen durften. Leider wurde der Abend in der knappen Enddisposition der Volksbühne nur drei mal gezeigt. Sonst wäre er zum Klassiker geworden.
Und da war Sie bereits, die dramaturgische Idee Kunst mit Theater zu verbinden, das was die neue Leitung an der Volksbühne gerne würde schaffen wollen, aber irgendwie nicht hinbekommt, warum auch immer: reines Unvermögen allein kann es nicht sein.
Vielleicht ist Voges ja ein Kandidat für die Volksbühne, wenn die aktuelle Leitung endlich hin schmeißt. Das wäre was, jemand der nicht, wie Petras oder Langhoff, für das ewig gleiche steht und zum fünften Mal das gleiche KOnzept verballert, jemand der inszenieren kann und vor allem Leute mobilisieren, Stimmungen schafft, nicht nur auf der Bühne auch dahinter, auch wenn er seit längerem etwas zu munter und etwas zu müde klaut.
Vielleicht wird es jetzt doch mal Zeit für Voges eigene, inhaltlich und ästhetisch große Geste um zu zeigen wofür er wirklich steht.
Nr. 1: Danke, dass Sie hier an diesen bemerkenswerten Schauspieler-Abend an der Volksbühne erinnern, der den Schauspielern ohne kontrolliertes selbstreflektierendes Diskurs-Gequatsche die Macht über ihre eigene Kunst überlassen hatte...
Ja, es gibt ein paar Witzeleien auf Kosten namhafter Regieführender – aber es werden eben auch eigene Regie-Elemente Voges' gnadenlos demontiert, inklusive der Borderlineprozession. Man hat den Eindruck, dass aktuelle Debatten nicht bagatellisiert oder ignoriert werden (und höchstens mal im Interview vage mit dem Zeigefinger in Richtung der Anderen gewackelt wird), sondern mit einem kritischen Blick auf das eigene Theaterschaffen aufgegriffen werden.
Ein toller Theaterabend. Ich hätte mir lediglich mehr Raum für Janine Kreß und Xenia Snagowski gewünscht. Es beißt sich mit der Kritik am Betrieb, dass sie erst im späteren Verlauf die Rolle des Theaterschaffenden übernehmen dürfen, als alles schon dekonstruiert, akustisch und visuell überreizend ist, so dass sie etwas untergehen, auch stimmlich. So bekommen zwei interessante Schauspielerinnen genau wieder die Rolle zugeschasst, die Schauspielerinnen oft nur bleibt: ein optischer Knaller zu sein. Kennt man aus zu vielen anderen Stücken zur Genüge, aber hier ist's doppelt ärgerlich.
Der destruktiven steht die konstruktive Gefahr entgegen, dem Hakenkreuz das Volksbühnen-Räuberrad, wenn auch noch mit der Gefahr überwuchert, ersteres zu werden. Das Theater als Endlosschleife der Vergeblichkeit – neunmal, durchgezählt mit einer Art Fahrstuhlanzeige, setzt das Bernhard-Stück an – läuft sich tot und trägt in sich doch die Chance zur Erneuerung. Die Ambivalent ist: Der Zerstörungsfuror eines Frank Castorf etwa erscheint hier als letzte Chance und längst zu Überwindendes. Das Theater bleibt am Abgrund, es schafft sich hier am Ende im Feueralarm selbst ab. Und hat doch, wie ein ehemaliger Bayern-Trainer sagen würde, noch lange nicht fertig. Dieser Abend ist ein Theaterwunder, ein selbstzerstörerischer Spaß, ein verzweifeltes Anrennen gegen das eigene Verschwunden und ein rotzig trotzigen Dagegen-Anspielen. Es macht sein eigenes Theater, ohne „Genies“, Tyrannen, Zertrümmerer – und braucht sie doch alle. Als Antreiber oder ans Feindbilder, als Mitstreiter oder als zu Überwindende. Der Vorhang geht zu, alle Fragen bleiben, wie eins bei Brecht offen. Das Niemandsland bleibt und es bleibt lebendig.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/25/theater-als-niemandsland/