Das Gedächtnis ist ein gnädiges Organ

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 14. März 2018. Dem Rotstift sind die Frauenfiguren zum Opfer gefallen. Alle drei. Und es sind manche Situations- und Handlungsschilderungen gestrichen worden, denn Claudia Bossard will ihre Grazer Inszenierung von Thomas Melles Stück "Bilder von uns" wirklich auf das zentriert wissen, was ihrer Meinung nach den Nukleus ausmacht: die Manns-Bilder der Mannsbilder. Diese heraus zu schälen bedarf es, so scheint ihre These, keiner Katalysatoren. Und der Stichwortbringerinnen schon gar nicht.

Manns-Bilder unter Beobachtung

Das ist gewiss nicht zum Schaden dieses Bühnentextes, dem man etwas nicht nachsagen kann: Wortkargheit. Thomas Melle holt mächtig aus, mit Hang zum philosophischen Exkurs. Sowieso lässt er keinen Zweifel daran, dass er sich als Kronzeuge sieht. Wenn schon nicht als solcher der Anklage, so doch als jener des scharfblickenden Beobachtens: Schließlich spielt sein Stück über Missbrauchsopfer in jenem deutschen Jesuitenkolleg, in dem er selbst zur Schule gegangen ist. Als die echten Missbrauchsvorwürfe im Aloisiuskolleg in Bad Godesberg aufgekommen sind, war er vermutlich überhaupt nicht überrascht.

bilder von uns pascal goffin 560 c lupi spuma 059Mit Bärenkostüm: Pascal Goffin als Konstantin im Bühnenbild von Frank Holldack © Lupi Spuma

All das drängt Claudia Bossard aber möglichst zurück. Sie und ihr Bühnenbildner Frank Holldack stellen die vier Männer in einen schwarzen Kobel, der von zwei Seiten fürs Publikum einsichtig ist und von vielerlei Lichtquellen überzogen ist. Neonröhren, Scheinwerfer, Diaprojektoren. Da wirken die Selbst-Bilder der Männer nicht nur ins Licht gestellt, sondern ins Licht gezerrt und mit einer gewissen Brutalität durchleuchtet.

Die Kraft der Verdrängung

Der Plot ist ja schlicht: Jesko bekommt ungefähr zwei Jahrzehnte nach dem Abitur per SMS und bald auch auf anderen Wegen Bilder zugespielt. Er als Zwölfjähriger, nackt. Pater Stein hat diese Fotos gemacht. Jesko fällt aus allen Wolken, er hat die Begebenheit vergessen. Das Gedächtnis ist ein gnädiges Organ. Jesko kontaktiert Schulkollegen und verdächtigt jeden von ihnen, der anonyme Absender zu sein. Es kristallisiert sich heraus, dass sie alle ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben, aber ihre Bewältigungs-Strategien grundverschieden sind.

"Ich habe mich – den Anderen – total verdrängt", heißt es einmal. Den Satz könnte jeder der vier sagen, denn für sie alle gilt: "Verdrängung ist die Kraft, die uns über Wasser hält." Ein Grundgesetz nicht nur der Physik, sondern auch der Psychohygiene?

Draufgänger und Zauderer

Die Männer-Konzentriertheit der Aufführung in Graz hat ihre Meriten. Bossard arbeitet in der tollkühn, meist rasant geschnittenen Szenen- und Monolog-Folge die innere Zerrissenheit und die darin gründenden Wandlungen der Figuren sehr klar heraus. Jesko (Nico Link), der die Bilder bekommen hat, ist skrupulös, zurückhaltend, zaudernd, vor allem dann, wenn es ums Aufdecken geht. Malte (Fredrik Jan Hofmann) ist ein Draufgänger, der schier birst vor Tatendrang. Er möchte lieber gestern als heute alles ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wissen. Johannes (Mathias Lodd), der Jurist, trägt zumindest dem äußeren Schein nach den Unberührten zur Schau. Viele seiner Wortmeldungen geraten zum Plädoyer in eigener Sache – aber eben nur viele, nicht alle. Am schlimmsten hat es Konstantin (Pascal Goffin) erwischt. Er hat die Füße nicht auf den Boden gekriegt, läuft in dieser Inszenierung meist im Bärenkostüm herum. Ein Fall für die Psychiatrie.

bilder von uns goffin hofmann link 560 c lupi spuma 129Ein Mann als Opfer? Pascal Goffin und Fredrik Jan Hofmann, abseits Nico Link © Lupi Spuma

Jeder in diesem auf emotionales Gleichgewicht in der Gruppe eingeschworenen Ensemble hat aber nicht ausschließlich die beschriebenen Eigenschaften. Diese Figuren entwickeln sich, werden verunsichert und fassen wieder Fuß. "Einige leben einfach so weiter … und andere nicht." Ihre im Lauf der Jahre wissentlich oder unbewusst zurecht gelegten Selbstbilder bekommen mit erzwungener Erinnerung deutliche Flecken, Risse und Sprünge. "Für mich war das ein Ding … aber vielleicht nicht so ein Ding wie für die anderen", sagt der Jurist. Aber den Satz könnte man auch jedem von ihnen in den Mund legen.

"Bilder von uns" ist kein geschmeidiger Text, und das ist er auch nicht in Claudia Bossards Lesart. Immer wieder kommen Sentenzen gestelzt daher, aber das hat man in Graz, in der österreichischen Erstaufführung des Stücks, gut im Griff. Wichtig: Es geht um Psychoanalyse, nicht um Schuld und Sühne, schon gar nicht um Stimmungsmache gegen die Kirche. Ein Kernsatz fällt gegen Ende: "Ein Mann als Opfer, was soll denn das sein?"

 

Bilder von uns
von Thomas Melle
Österreichische Erstaufführung
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Frank Holldack, Kostüme: Karoline Bierner, Dramaturgie: Jennifer Weiss.
Mit: Nico Link, Pascal Goffin, Fredrik Jan Hofmann, Mathias Lodd.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com



Mit Bilder von uns in der Bonner Uraufführung durch Alice Buddeberg war Thomas Melle 2016 erstmals zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Claudia Bossards Inszenierung hebe das Stück "auf eine sehr abstrakte Ebene", findet Thomas Trenkler im Kurier (16.3.2018), der Abend dekliniere "nebenbei Männerrollen durch". Fazit: "Heftig."

"Claudia Bossard weiß, wie man ein Tabuthema mit der nötigen Behutsamkeit aufrollt", schreibt Katrin Fischer in der Kleinen Zeitung (16.3.2018). Es gehe nicht darum, den Missbrauch "in all seinen Facetten auf die Bühne zu zerren", sondern darum ihn überhaupt sichtbar zu machen. "Dafür reichen vier einfühlsame Schauspieler." Thomas Melles "feiner Wortwitz samt gut pointierten Phrasen" tue sein Übriges.

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