Erklären, Verklären

von Frank Kurzhals

Hannover, 15. März 2018. Jede Schöpfungsgeschichte erzählt von gescheiterten Hoffnungen. So auch die "Edda", die jedem Isländer von Kindheit an literarisch vertraut ist. Als heidnischer Schöpfungsmythos ist sie in Island im Alltag so gegenwärtig wie das dort um das Jahr 1000 eingeführte Christentum. Das zumindest behaupten Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason, die jetzt ihr Verständnis von Anfang und Ende der Welt à la "Edda" in Hannover fulminant auf die Bühne gebracht haben. Ganze drei Monate probten sie, um den schier unendlich verwobenen Stoff bühnenreif werden zu lassen. Gekürzt und konzentriert auf dreieinhalb Stunden atmet die Inszenierung das wohlige Pathos des Großen und Ganzen, dekoriert mit skurrilen Petitessen.

Eine davon ist der überraschende Auftritt von Donald Trump als Karikatur seiner selbst. Migration, der Bau von Grenzen und Geld sind seine wenig überraschenden Themen, die den Abend der nordischen Mythen in die Gegenwart hinein aktualisieren sollen, das wirkt leicht schal. Aber es gibt auch kleine wetterleuchtende Sternstunden des Theaters, etwa wenn die Seherin Völva (Susana Fernandes Genebra) gleich zu Beginn in tragendem Duktus vom Entstehen der Welt berichtet, nur um kurz darauf deren Untergang voll erschöpfter Verzweiflung konvulsivisch herauszuschreien: "Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, vom Himmel schwinden die heiteren Sterne."

edda54 560 Katrin Ribbe uDie Aufhängung der Weltenesche © Katrin Ribbe

Autor und Regisseur haben den überlieferten isländischen Textkorpus neu bearbeitet, im Englischen zusammengeführt und dann ins Deutsche übersetzen lassen. Und weil wohl nur noch im Fragment das Ganze sichtbar werden kann, und eine Schöpfungsgeschichte nun mal das Ganze darzustellen versucht, kommt die Inszenierung in der Stadt von Kurt Schwitters als Collage daher. In einem eisbärenähnlichen Kostüm führt ein "Herr Müller" (Christoph Müller) eine zusammengewürfelte Truppe auf schneebedeckter Bühne durch die Geschichte der "Edda", erdet sie in schnoddrigem Ton. In der halbstündigen Pause tritt zudem ein akademischer Experte auf, der vor dem eisernen Vorhang die Unterschiede von zyklischer und linearer Zeitauffassung kurzweilig erläutert. Auch hier wird dem Publikum kein weiterer Puzzlestein geboten, der aus einzelnen Theaterstückchen ein Ganzes werden ließe, sondern ein weiteres Collage-Element wird zum Besten gegeben, das erklärend verklärt.

Collage: Jonglage, Persiflage

Das alles ist rund um die in der Mitte des kargen Bühnenraums zentrierte tote Weltenesche, die von den Bühnenarbeitern während des Spielgeschehens aufgehängt wird, als Reigen des spielerischen "anything goes" arrangiert. Sif, schönste Frau der Welt und Thors Gattin, verliert ihr goldenes Haar, Loki, Halbgott des Feuers und Gestaltenwandler tragischer Güte, gewinnt die Zwerge in einem höchstkomischen Dialog dazu, es echtgolden wieder zu erschaffen. Gottvater Odin (Hagen Oechel), der sein linkes Auge für mehr Weisheit gab, treibt alle und alles an, um einer ewig zyklischen Geschichts-Erzählung Linearität und Spannung zu geben. Köstlich sind auch die Dialoge zwischen Loki (Philippe Goos) und Freya (Johanna Bantzer), die zwischen tragendem Stil und Umgangssprache changierend schlicht hinreißend ist. Alles ist Jonglage, als Slapstick, Persiflage oder ironische Brechung um die ewigen Menschheitsthemen der Schöpfung und Erkenntnis, und immer wieder erinnert tödlicher Ernst an die ursprüngliche Dramatik der Erzählung. Eben eine Collage, mit allen Klebstoffen, die es so gibt.

edda148 560 Katrin Ribbe uPhilippe Goos, Sarah Franke © Katrin Ribbe

Einer der wichtigsten Klebstoffe ist die Erzählung vom Autor Mikael Torfason und dessen Vater, der Zeuge Jehovas war und deswegen verbieten wollte, dass sein kranker Sohn als einzig lebensrettende Möglichkeit eine Bluttransfusion bekommt. Torfason mußte gegen den Willen seines Vaters von den Ärzten vor dem Tod gerettet werden. Als ein vorhergesagter Weltuntergang zu seines Vaters großer Enttäuschung nicht eintrat, kündigte der seinen Glauben auf und wechselte wieder zu isländischem Heidentum, später ertrank er des Lebens müde im Alkohol. Diese tragische, aus dem Off erzählte Geschichte wird parallel gesetzt mit der großen Götterwelt der "Edda", das Allgemeine und das individuelle Schicksal spiegeln sich.

Hamsterrad des Lebens

Eine Collage als weiterentwickelte moderne Form von Historismus besteht immer aus mehreren Schichten, deswegen spielt auch die (Live-)Musik (Gabriel Cazes) von Klassik bis Pop als Zauberer von Atmosphäre neben den Schauspielern eine fast gleichwertige Rolle. Als die kahle Weltenesche nach der Pause von einem Baugerüst umrahmt wird, wabernder Theaternebel das Licht bricht und "My Body is a Cage" von Arcade Fire wilde Assoziationen von Sklavenhandel und Freiheit, Zwang, Wille und Fügung aufkommen lässt, ist das Spiel zwischen Männern, die Frauen, die Männer sind, bereits bis zur perfekten Verwirrung getrieben. Das Baugerüst ist zum Hamsterrad des Lebens geworden.

Mit ihrem Wechsel zwischen High und Low sind diese Szenen die stärksten Bilder der ganzen Inszenierung. Baldur, Gott der Schönheit und bereits dem Tode nah (Maximilian Grünewald, er spielte auch den Pausen-Akademiker) leidet in dramatischen Tönen stellvertretend für die Menschheit. Wie Loki ist er rettungslos verloren. Nicht nur die Esche: der gesamte Stammbaum der Götter geht unter, die Welt versinkt im verschneiten Bühnenboden. Aber da hat sich der zyklische Charakter der "Edda" schon als Erkenntnis in den Zuschauerkopf eingeschrieben, so dass klar ist: Irgendwann folgt ein Neubeginn.

Die Edda
Neu erzählt von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Karen Briem, Musikalische Leitung: Gabriel Cazes, Dramaturgie: Judith Gerstenberg / Johannes Kirsten Übersetzung: Damiàn Dlaboha.
Mit: Johanna Bantzer, Susana Fernandes Genebra, Sarah Franke, Iza Mortag Freund, Philippe Goos, Maximilian Grünewald, Mathias Max Herrmann, Sophie Krauß, Wolf List, Christoph Müller, Hagen Oechel, Andreas Schlager, Live-Musik: Gabriel Cazes.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Verblüffende Bilder, wunderbare Lieder, starke schauspielerische Momente und, ja, auch das: tiefe Einsichten" hat Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (16.3.2018) gesehen. Sei die "Prosa-Edda" beim Lesen langweilig, wirkten die Geschichten bei Thorleifur Örn Arnassson "plötzlich gar nicht mehr langweilig. Sie haben etwas mit uns zu tun. Es geht um uns. Um unser Leben, um unser Sterben", so Meyer-Arlt. Die Hannoveraner "Edda" sei "keine Trailershow der besten Episoden", sondern spanne einen Bogen von der Welterschaffung zum Weltuntergang. "Es ist unmöglich, alles verstehen, aber man bekommt durchaus ein Gefühl für diesen Sagenstoff, der uns eher fremd ist." Vieles entwickle sich aus Sprache und aus Musik, "gleichzeitig sehr reich und ganz arm" sei das Theater von Arnasson. "Er arbeitet aus dem Geist der Improvisation, aber mit den Mitteln eines hochprofessionellen Theaterbetriebs." Trotz vier Stunden Spieldauer sei diese "Edda" nie langweilig, sondern immer "spannend und berührend".

Stefan Gohlisch schreibt in der Neuen Presse (17.3.2018): Arnarsson arbeite mit "großem Ensemble und großem Besteck" vom "Anfang und Ende der Welt", der "ewigen Wiederkehr des Gleichen", es sei dies eine üppige "göttliche Komödie", eine "menschliche Tragödie". Diese Geschichten riefen "archaische Weltweisheit" wach und führten manchmal "unverhofft" ins Heute. Arnarsson springe mühelos vom "albernsten Schabernack zur beklemmendsten Tragödie". "Alles drin, alles dran, ein großes Geschichtenkaleidoskop."

Eine "erst furiose, dann kurzweilig, schließlich Ernst machende Uraufführung" hat Jens Fischer erlebt und schreibt überwältigt in der taz (30.3.): Das Schauspiel Hannover wage sich "mit himmelhoch stürmendem, höllisch verzweifeltem Edda-Theater" "urück auf Anfang, zum Schöpfungsmythos".

Die Neuerzählung der "Edda" durch Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason am Schauspiel Hannover sei "ein doppelter Gewinn", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (3. April 2018). "Denn sie ist hochdidaktisch in ihrer Absicht, die Urmythen so verständlich wie möglich darzustellen, inklusive des Vortrags von Sekundärliteratur – und besteht aus vier Nachhilfestunden satter Bildfantasie."

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