Die Tortur auswegloser Selbstverstümmelung

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 15. März 2018. Den österreichischen Dramatiker Felix Mitterer zum 70. Geburtstag im Theater in der Josefstadt ausgerechnet mit seinem Stück "In der Löwengrube" zu feiern, ist doppelt passend. Erstens gehört diese Story hierher: Mitterer verarbeitete die Geschichte vom Schauspieler Leo Reuss, der die Nazis mit einer rechten Schwejkiade hinters Licht führte. Reuss, als Jude ohne die leiseste Chance auf berufliche Betätigung, schlüpfte in eine andere, eine "arische" Identität. So gelang es ihm, in der vermeintlich judenfreien Josefstadt einige Vorstellungen zu spielen.

Wie seine wahre Identität dann aufflog, darüber kursieren unterschiedliche Varianten. Reuss jedenfalls gelang der Weg ins amerikanische Exil. Prominente Leute des Wiener Theaters, von Helene Thimig und Max Reinhardt über Adrienne Gessner und Ernst Lothar bis zu Heinrich Schnitzler (den Sohn von Arthur Schnitzler), waren in die Causa, die gar böse hätte ausgehen können, verwickelt.

Warum ist "In der Löwengrube", wiewohl angeregt vom damaligen Josefstadt-Chef Otto Schenk, vor zwei Jahrzehnten nicht hier, sondern im Wiener Volkstheater uraufgeführt worden? Mitterers Stück schien Schenk zu starker Tobak für das damals – sagen wir euphemistisch: wertkonservative – Publikum hier. Die Premiere jetzt ist also auch eine Wiedergutmachung.

Nachspüren in der Tiefe

Und was für eine Aufführung! Stephanie Mohr ist unterdessen auch Mitterer-Spezialistin. Sie hat in der Josefstadt zuvor schon drei seiner Stücke inszeniert und dabei das rechte Gespür für die Tiefenschichten in Mitterers Dramatik entwickelt. Die Plots kommen gerne in banalster Direktheit daher. Das Querdenkerische, das Entlarvende, die Ungeheuerlichkeiten einer sich so unverstellt wie ungeniert offenbarenden Wirklichkeit zeigen sich erst auf den zweiten oder dritten Blick. Das ist in diesem Stück nicht anders.

InderLoewengrube9 560 Moritz Schell uDer Vorzeige-Arier wird begutachtet. Tobias Reinthaller (Jakschitz), Peter Scholz (Theaterdirektor Meisel), Florian Teichtmeister (Kirsch/Höllrigl), Alexander Absenger (Strassky) © Moritz Schell

"In der Löwengrube" geriert sich erst einmal als scheinbar derber Bauernklamauk. Da kommt ein angeblicher Tiroler Tölpel daher, gibt sich voll instrumentalisiert von der Nazi-Ideologie. Unbedingt will er Theater spielen. Den "Kaufmann von Venedig" vielleicht? Den "Schailockch", sagt er in breitester Tiroler Mundart, den könnte er viel besser als jeder Jud'. Fast schämt man sich, darüber zu lachen. Doch der Brachialwitz hat bei weitem nicht einen so langen, falschen blonden Bart wie der zum deutschblütigen Bühnen-Musterknaben mutierte Schauspieler.

Hinters Licht geführt

Die Rolle des Arthur Kirsch (so heißt er bei Mitterer) bietet reichhaltige Möglichkeiten. Die bereitete die Regisseurin mit dem wunderbaren Florian Teichtmeister berührend auf. Wie traurig dieser falsche Arier hinter seiner folkloristischen Mummenschanz-Verkleidung auf den Erfolg blickt, der ihm von einer tumben Clique quasi in den Schoß geworfen wird. Wundert er sich über das Verhalten seiner Kolleginnen und Kollegen, oder hat er ihnen die amoralischen Torsionen ohnedies schon immer zugetraut? Die geschiedene Frau des Mimen ist die Letzte, die das so wahrhaftige Falschspiel durchschaut, und das ist vielleicht die allergrößte Tragik hinter der Figur des Arthur Kirsch. Florian Teichtmeister macht einsichtig, dass da einer nicht nur die Nazis hinters Licht führt, sondern sich selbst vorzuführen gezwungen ist. Die Tortur auswegloser Selbstverstümmelung.

InderLoewengrube10 560 Moritz Schell uWer gibt die Regieanweisungen im falschen Spiel? Florian Teichtmeister (Kirsch/Höllrigl), Pauline Knof (Helene Schwaiger, Kirschs Frau), Alexander Absenger (Strassky) © Moritz Schell

Mit ähnlicher Akkuratesse sind alle Figuren durchgezeichnet in diesem an Personen reichen Stück. Peter Scholz als Theaterdirektor, zum Harlekin degradiert von den neuen Machthabern, kommt gar nicht heraus aus dem Händeringen und tut es doch mit souveränem Verständnis für die Unabänderlichkeit der Situation. André Pohl ist der Schauspieler-Kollege Polacek, Prototyp des eiligen Mitläufers. Ein deftiger Typ, für den man letztlich doch Mitleid empfindet. Stephanie Mohr arbeitet mit jeder und jedem im Ensemble sehr glaubwürdige Zwischentöne heraus.

Mehr davon

Nach der Aufführung hat Felix Mitterer eine Ehrung durch die Gemeinde Wien bekommen, Drei Tage nach dem 80-Jahre-Gedenken an den Anschluss Österreichs und den jubelnden Empfang für Hitler bot das natürlich Anlass, auf das Bedenkliche der gegenwärtigen politischen Stimmungslage im Land hinzuweisen. Vielleicht sollte man, da schon Felix Mitterers Siebziger zu feiern ist, auch möglichst rasch sein Stück "Kein schöner Land" aufführen, auf möglichst vielen Bühnen. Mechanismen der Machtübernahme durch Nazis im Dorf sind dort anschaulich aufgeschlüsselt. Wäre auch im AfD-Land ein Stück der Stunde. Dass Mitterer, der unermüdliche Schreiber auch von Fernsehplots, einst die "Piefke-Saga" geschrieben hat, eine gar böse Satire auf den Tourismus und seine stärkste Klientel in Österreich, hat man ihm hoffentlich auch nördlich des Weißwurstäquators unterdessen verziehen.

 

In der Löwengrube
von Felix Mitterer
Regie: Stephanie Mohr, Bühnenbild: Miriam Busch, Kostüme: Nini von Selzam, Musik:
Stefan Lasko, Video: Philine Hofmann, Dramaturgie: Matthias Asboth.
Mit: Alexander Absenger, Florian Teichtmeister, Pauline Knof, Tobias Reinthaller, Alma Hasun, Peter Scholz, Alexander Strobele, Claudius von Stolzmann, Gerhard Kasal, Jörg Reifmesser, Matthias Böhm.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.josefstadt.org

 

Kritikenrundschau

Stephanie Mohrs "feine Neuinszenierung" etabliere den historischen Hall- und Resonanzraum der Erzählung und lasse die Figuren Tiefe gewinnen, schreibt Ronald Pohl im Standard (16.3.2018). Auf den ersten Blick eine kuriose Fabel, enthalte Mitterers Stück auf den zweiten, nachdenklichen Blick "eine geradezu hasserfüllte Polemik auf die Verbiegungskünste, die das Wesen des Schaustellergewerbes (auch) ausmachen", so Pohl. Teichtmeister spiele nicht nur um das Leben der Figur Kirsch. Er zeige buchstäblich "die Überwindung, die es kostet, unter lauter Charakterschwachen selbst das größte Schwein zu sein. Fast scheut man sich zu sagen: Kirsch findet Freude an seinem überlebensnotwendigen Mummenschanz". Regisseurin Mohr scheue in der Inszenierung "jeden Anflug von Versöhnung". Umso "herzzerreißender" sei der Beifall für den 70 Jahre alt gewordenen Autor, bemerkt Pohl: "Mitterers notorische Bescheidenheit passte gut zum 15. März – dem Tag, an dem vor 80 Jahren ein anderes Großmaul vor Zehntausenden am Heldenplatz sein Gebrüll anstimmte."

"In die bewegte, ja irre Lebensgeschichte des Leo Reuss hat Mitterer etwas zu glättend eingegriffen", schreibt Barbara Petsch in Die Presse (17.3.2018). Regisseurin Stephanie Mohr führe "die verborgene Theatersatire vor, die in diesem im Grunde tragischen Werk steckt". Florian Teichtmeister habe die Hauptrolle "konzentriert einstudiert und sorgt mit stoischer Miene und seinem kantigen Tirolerisch – das manchmal schwer zu verstehen ist – für Verblüffung und Heiterkeit." Da Teichtmeister seine Kollegen spielerisch quasi beiseite fege, fielen die Schwächen in der Besetzung kaum auf. Die Aufführung sei "dicht und aus einem Guss – und hat für fast drei Stunden mit einer Pause kaum Längen."

 

Kommentare  
Löwengrube, Wien: wichtige Nachfragen
"Warum ist 'In der Löwengrube', wiewohl angeregt vom damaligen Josefstadt-Chef Otto Schenk, vor zwei Jahrzehnten nicht hier, sondern im Wiener Volkstheater uraufgeführt worden? Mitterers Stück schien Schenk zu starker Tobak für das damals – sagen wir euphemistisch: wertkonservative – Publikum hier." Ist das verbürgt? Darüber erführe man gerne mehr. Dass Otto Schenk das Stück aus Gründen der Gesinnung nicht aufführen ließ, kann man ausschließen. Worin also bestand der vermutete "starke Tobak" für das wertkonservative Publikum? In der Tatsache, dass es viele Mitarbeiter an der Josefstadt wie an der Burg und anderswo eilig hatten, in die NSDAP einzutreten und der Entlassung und Vertreibung ihrer jüdischen Kollegen widerstandslos oder gar billigend zuzusehen? Was hatte Schenk vor zwei Jahrzehnten im Gegensatz zu Emmy Werner am Volkstheater von seinem Publikum zu befürchten? Die Antwort auf diese Frage bedeutete ein Stück Theatergeschichte, die Felix Mitterers Stück in das Nachkriegs-Österreich weiterführte.
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