In der Mordmaschinerie

von Christian Muggenthaler

Memmingen, 16. März 2018. Erst wurden sie im Dritten Reich propagandistisch gebrandmarkt, als "lebensunwert" und "unnütze Esser", dann zwangssterilisiert und schließlich massenhaft und systematisch ermordert: psychisch kranke Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit irgendeinem Fehlverhalten. Medizinisch wurde das als Euthanasie bezeichnet, ideologisch als Schutz der Rasse verbrämt, auf Seiten der Täter – zumeist Pflegepersonal – sprach man von Mitleid mit solchen, die ohnehin nichts mehr vom Leben hätten. In speziell dafür eingerichteten Tötungsanstalten wie Hadamar, Hartheim und Grafeneck wurden vor allem jene zu Tode gebracht, die als nicht mehr arbeitsfähig galten. Allein in Grafeneck wurden im Jahr 1940 mehr als 10.500 Menschen mit Kohlenmonoxid vergast.

In Anstaltskleidung vor Gericht

Nach 1941 wurden die Kranken dann, um weniger Aufsehen zu erregen, in den Pflegeanstalten selbst umgebracht, mit Gift oder einer so genannten "Hungerkost". Über eines der damals umgekommenen Kinder hat der Journalist und Autor Robert Domes eine Romanbiografie geschrieben, über Ernst Lossa, der 1944 als asozialer Psychopath in einer psychiatrischen Anstalt in Kaufbeuren durch eine tödliche Injektion ermordet wurde. Und weil Erinnerung oft lokal am eindringlichsten wirkt, hat sich jetzt das Landestheater Schwaben dieser Biografie angenommen und Domes' Roman "Nebel im August" in einer Bühnenversion von John von Düffel auf die Bühne gebracht.

Nebel Im August 3 560 Forster u"Nebel Im August" mit von links nach rechts Elisabeth Hütter, Georg Grohmann, Jan Arne Looss,  Regina Vogel, André Stuchlik © Forster

Düffel nutzt als historische Quellen für sein romanbasiertes Dokumentartheaterstück vor allem Gerichtsprotokolle aus den späten 40er Jahren, weshalb es naheliegender Weise als Gerichtsverfahren konstruiert ist. Die Theaterleiterin und Regisseurin Kathrin Mädler nimmt diese Vorlage auf, hat sich von Ausstatter Ulrich Leitner einen Nachkriegs-Schwurgerichtssaal bauen lassen, die Spieler in Anstaltskleidung gesteckt – und damit auch entpersonalisiert. Diese sprechen nun in klarem, weißem Licht Texte vornehmlich der Angeklagten, haben keine eindeutig festgelegten Rollen, wohl auch, weil die Täterschaft eben ein komplexes, abstraktes System darstellte, in dem nur ein Rädchen gewesen zu sein später auch zur Exkulpation dienen kann. Aber das, was diese Rädchen sagen, drückt die Zuschauer in die Sitze.

Ernst Lossas stellvertretendes Schicksal

Denn es sind ja eben keine Monster, sondern ganz normale Menschen, die Monströses begangen haben: Die Darsteller machen das ganz großartig, wie sie entweder verdruckst oder kühl sachlich Unglaubliches zugeben, dann auch wieder sichtbar von schlechtem Gewissen übermannt sind, selten einmal in Wut geraten, noch seltener in Trauer, aber stets glaubwürdig kainsmalgezeichnet sind. Mädler löst die starre Prozessordnung schnell auf, lässt die Angeklagten herumgehen, somnambul grübeln, manchmal paarweise Text sprechen, manchmal zusammenkommen wie eine Schafherde, die plötzlich ohne Führer dasteht, Blickkontakte suchend, sich nicht erinnern wollend, auch mal zusammen ein Lied anstimmend, weil gefeiert hat man früher ja auch gemeinsam nach dem Tötungsfeierabend. Die Regie bekommt mit derlei sich permanent ändernden Bildmotiven erstaunlich viel Dynamik in die eigentlich statische Gerichtssituation. Und währenddessen bemalt ein Kind die Bühnenwände: Weil immer etwas bleibt. Auch von Ernst Lossa.

Nebel Im August 2 560 Forster uMit fröhlichen Kinderzeichnungen im Hintergrund: die Geschichte von Ernst Lossa © Forster

Dessen Geschichte, dessen Sein, dessen offensichtliche Fröhlichkeit auch bestimmt den zweiten Teil des Bühnenverfahrens, der erste war den historischen Rahmenbedingungen einer Mordmaschinerie gewidmet. Domes, Düffel, Mädler zeigen an Ernsts Beispiel anrührend und eindringlich, wie Menschen der Welt weggenommen wurden, weil sie anders waren. Das kann man an diesem Abend besonders gut studieren: Eine Gesellschaft wird immer unmenschlich, wenn sie Andersseiende nicht ertragen kann.

Klar erzählt

Denn wie in ganz normale Menschen, die nicht einmal Nazis sein müssen, diese Inhumanität einsickert, bis Mord und Totschlag daraus werden, zeigen Text und Regie in quälender Nüchternheit. Wie Dokumentartheater lebendig wird: Hier kann man's sehen.

Am Schluss werden Schuldige und ihre Schuld intensiv beleuchtet, die Erinnerung an den Mord an Ernst Lossa bricht sich immer mehr Bahn mitsamt dem, was danach geschah: Nur ein kleiner Teil der Täter wurde nach dem Krieg überhaupt vor Gericht gestellt und – zumeist haarsträubend mild – bestraft. Die meisten kehrten in die ganz normale Gesellschaft zurück, aus der sie gekommen waren, und führten ein ganz normales Leben – auch als Ärzte und Pfleger. Der Haufen Angeklagte war zu Beginn schon auf der Bühne – und sitzt zuletzt genau so wieder da.

Nebel im August (Der Fall Ernst Lossa vor Gericht)
Dokumentartheaterstück nach der Romanbiografie von Robert Domes von John von Düffel
Regie: Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme: Ulrich Leitner, Musikalische Einstudierung: Bettina Ostermeier, Dramaturgie: Miriam Grossmann.
Mit: Georg Grohmann, Elisabeth Hütter, Jan Arne Looss, Jens Schnarre, André Stuchlik, Regina Vogel und Jannis Paulsen/Jonathan Schatz/Kolja Scheiter (Kind).
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.landestheater-schwaben.de

 

Kritikenrundschau

Klaus-Peter Mayr schreibt in der Augsburger Allgemeinen (online 18.3.2018): Bei "Nebel im August" verwandele sich das Landestheater in einen "Ort des Horrors, wo Monster wüten, die aussehen wie normale Menschen". Kathrin Mädler bringe mit der Euthanasie der Nazis  "Ungeheuerliches" auf die Bühne. John von Düffels Stück erzähle, im Gegensatz zu der Vorlage von Robert Domes aus Tätersicht. Er konstruiere eine Collage mit Faktenberichten und Spielszenen. "Fast zu lange" gehe es im ersten Teil um Euthanasie generell, in der zweiten Hälfte rücke Ernst Lossa ins Zentrum. Der Krankenzimmer-Gerichtssaal wirke wie ein "hermetisches Labor", in dem die Figuren sich "fast experimentell" bewegten und "die Perspektiven sich ständig verändern". Das Dokumentarische gehe fließend ins Gespielte über – und umgekehrt. "Beklemmend und bildstark" setzten die sechs Schauspieler des Landestheaters dies in Szene. Eine Geschichtsstunde ohne Mief.

In Die Lokale. Informationsmagazin für Memmingen und Umgebung schreibt "as" (19.3.2018): "Grau in grau, aber ungemein fesselnd, hervorragend gespielt und ausdrucksstark choreografiert ist Dr. Kathrin Mädlers Suche nach dem "Abgrund in uns allen". Prädikat: unbedingt sehenswert!"

 

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