Deutscher Geist und deutsches Saufen

von Janis El Bira

Berlin, 17. März 2018. Anfangen muss man vor dem Beginn. Lange bevor die Saaltüren geschlossen und die Lichter gelöscht sind, pinselt an diesem Abend im Berliner Ensemble ein kleiner Junge auf einer meterhohen Reproduktion von Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer herum. Blutrot übermalt er die Felsvorsprünge, besprenkelt die Leinwand wie bei einem Actionpainting. Dann verschwindet wie von Geisterhand der Wanderer aus der Bildmitte, beginnt die Landschaft, sich nach und nach zu entmaterialisieren. Was Reproduktion schien, enttarnt sich als Video-Projektion. Sogleich werden die rotscheckigen Hartpappe-Reste vom herbeigeeilten Ensemble abgebrochen, zerschlagen, pulverisiert, bis nur noch ein klappriges Gerüst übrig bleibt. Auf diesem Schutthaufen schließlich beginnt und steht das Theater.

Trinksprüche und ratternde Repetitionen

Es ist eine grandiose Ouvertüre, mit der Regisseur Robert Borgmann die erste Komplett-Inszenierung von Rainald Goetz' 1986 entstandener "Krieg"-Trilogie eröffnet. Indem sie das romantische Subjekt aus dem Friedrich-Gemälde herausschneidet, anschließend die Natur als Lichtspiel zerfallen lässt und letztlich noch das Trägermaterial der Kunst zertrümmert, verbildlicht sie aufs Schönste das uferlose Wesen des Goetz’schen Schreibens: Alles ist Gemachtes und auch unter seinen Splittern liegen keine Anfänge, sondern bloß unendliche Kombinationsmöglichkeiten dessen, was man Sinn nennt. "Wo man hintritt, wird Boden", heißt es einmal, und so schnappt sich der Schauspieler Aljoscha Stadelmann kurzerhand einen der Fetzen, die eben noch den CDF-"Wanderer" trugen, knickt ihn in der Mitte und beginnt, wie mit einem prähistorischen Klapphandy zu telefonieren.

Krieg 1 560 JulianRoeder uWo sie hintreten, wird Kunst: Constanze Becker, Stefanie Reinsperger, Veit Schubert, Aljoscha Stadelmann   © Julian Röder

Aus seinem Mund purzeln die Stummelsätze, Floskeln und Behelfsvokabeln, denn Goetz' "Krieg" ist eine kolossale Sprachsprengung. Tiefe Bombenkrater klaffen in diesem Text und drumherum flirren nervös die Zeichen: Revolution, Klassenkampf, deutscher Geist und deutsches Saufen, Heidegger, Stammheim und Stockhausen. Manchmal ballt sich alles zu einer Parole zusammen ("Politische Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre"), dann wieder schlingert die Sprache zwischen Trinksprüchen und ratternden Repetitionen. Der junge Rainald Goetz, auch das macht dieser Abend greifbar, stand mitunter auf kuriose Weise ebenso nah bei Konrad Bayer wie bei Thomas Bernhard oder Heiner Müller.

Elektrifizierte Latex-Medea

Dass "Krieg" indes bei aller Sperrigkeit kein Text gegen, sondern für die Bühne ist, das zeigt in Borgmanns Inszenierung ein Haus-Ensemble, wie es derzeit wohl außer Konkurrenz sein dürfte. Vor allem im ersten der drei Stücke, "Heiliger Krieg", dem die komplette erste Hälfte gilt, zerspringen die ohnehin permeablen Grenzen zwischen Schauspiel und Performance, wenn etwa Stefanie Reinsperger in einem fiebrigen Monolog über die "befreite Frau" ihren nackten Körper malträtiert. Man erschaudert ob der weltläufigen Schreibtischtäter-Eleganz, mit der Ingo Hülsmann viele Minuten lang am Bühnenrand über die "Säuberung der Partei" spricht und man wird von Constanze Becker hypnotisiert, wenn sie wie eine elektrifizierte Latex-Medea unter einer gewaltigen, vom Schnürboden herabgelassenen Uhr und im Maschinen-Techno-Takt von Berghain und Stahlfabrik das Theater in Brand setzt. Es ist ein Unmaß an Schauspieltalent, das diese ersten zwei Stunden mühelos trägt.

Krieg 2 560 JulianRoeder uSchreibtischtäter-Eleganz: Ingo Hülsmann  © Julian Röder

Umso mehr wähnt man sich mit Beginn der zweiten Hälfte zunächst eindeutig an der falschen Adresse ausgespuckt. Aufgeräumt gibt sich die Bühne, aufgeräumt auch das Spiel. Was eben noch lichterloh brannte, scheint in zwanzig Pausenminuten auf ein mattes Stadttheater-Feuerchen eingedämmt worden zu sein. Ein bisschen Familienhölle rund um einen nicht-malenden Historienmaler in "Schlachten" und ein langer, sehr klassisch-moderner Sterbemonolog von Aljoscha Stadelmann in grotesk großen Klamotten zum Schluss in "Kolik". Das war's.

Faszinierende Konzept-Rotation

Man muss sich schon an Stefanie Reinspergers letzten Auftritt unmittelbar vor der Pause erinnern, um die so faszinierende wie provokante Konzept-Rotation zu erkennen, die Borgmann hier wagt. Dort nämlich hatte Reinsperger dem Theater vor dem Vorhang die Liebe erklärt. Verdruckst zwar und mit viel Säure, aber doch völlig ironiefrei. Borgmann nimmt diese skeptische Hass-Liebe Rainald Goetz' zum Theater nun beim Wort, gerade indem er den Rausch der ersten mit einer völlig anders gearteten zweiten Hälfte unversöhnt konfrontiert. Das Performative verwandelt sich zurück in psychologische Rolleneinfühlung, der Konzertflügel im Atelier des Malers steht – sauber naturalistisch und der Regieanweisung gehorchend – spielbereit auf der Bühne. Gefühlt schaut man dem Abend beim Verglühen zu, während er in Wahrheit bloß tut, was Theater eben tut. "Theater ist das letzte", schreibt Goetz, "aber es ist das Leben." Etwas anderes haben wir nicht.

 

Krieg
von Rainald Goetz
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Bettina Werner, Licht und Video: Carsten Rüger, Musik: Rashad Becker, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Constanze Becker, Ingo Hülsmann, Gerrit Jansen, Annika Meier, Stefanie Reinsperger, Veit Schubert, Aljoscha Stadelmann.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Könnte man die Lautstärke herunterdrehen, die Gesten verkleinern, das Grimassige dämpfen!" ruft Rüdiger Schaper im Tagesspiegel und den Potsdamer Neuesten Nachrichten  (19.3.2018) aus. Der Inszenierung, "die ja ins Risiko geht", fehle ein Grundgefühl für Sprachmusik. "Das große Goetz-Ich, wie tönt es hohl, wie fett wird es illustriert." "Robert Borgmann, Schlachtenmaler" verwechsele Dröhnen mit Intensität.

"Robert Borgmann war drei Jahre alt, als sich Goetz in Klagenfurt die Stirn aufschnitt und so andeutete, dass es ihm ernst war mit seinem Leiden an der Fremdheit der Sprache, mit seiner romantischen Sehnsucht, Kunst und Leben wenigstens momentweise in eins zu setzen." Auch Borgmann finde sich "mit diesem Riss, mit dem schon Shakespeare spielte und an dem Kleist so litt" nicht ab. Das schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau (19.3.2018). "Konsequent wäre es, nun das Theater zu zerlegen und dem Publikum jenen Kunst-Leben-Moment zu verschaffen, indem man es abschlachtet." Stattdessen bekomme die Kunst "eine neue Chance". "Irgendwie muss es ja weiter gehen. Also hält man sich an das, was man hat, die Sprache, und spielt damit." "Eine Wonne" sei es, Annika Meier, Aljoscha Stadelmann und Stefanie Reinsperger beim "sauberen Austoben" zuzusehen, "auch die eher aufs Tragisch-Manierliche Fach geeichten Heldenmimen Constanze Becker und Ingo Hülsmann haben furchtlos frohe Momente", bedenkt Seidler das Ensemble mit Lob und Liebe: Und Veit Schubert "zieht in guter Seelenruhe seinen Sprechspielstiefel durch, führt seine gepflegte spitze Zunge und macht, was er immer macht: Menschen aus Text, und mag der Text auch noch so zerstört sein."

Borgmanns Bilder sind "so schön wie imposant", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung (19.3.2018). Rainald Goetz' Sprachmarathon bewältigten die Schauspieler bravourös, "sieht man von Gerrit Jansens mal bräsiger, mal brüllend Salat spuckender Künstlerverzweiflung im Mittelteil 'Schlachten' ab". Doch "sowieso alle Mäkelei vergessen lässt die engelsgesichtige, aufgedrehte, umwerfende Stefanie Reinsperger."

Ro­bert Borg­mann "zeigt zu­neh­mend un­auf­ge­reg­ter, wie sehr er an die­sen Tex­ten hängt und wie ge­nau er in sie hin­ein­zu­hor­chen ver­steht", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.3.2018). "Je spä­ter der Abend, des­to prä­gnan­ter die äs­the­ti­schen Mit­tel, die Ro­bert Borg­mann ein­setzt, um den sich ra­di­kal ver­en­gen­den Text­fluss zu ge­stal­ten. Ge­ra­de­zu lie­be­voll hält er sich an die Vor­la­ge und hat das be­geis­tern­de En­sem­ble of­fen­bar von de­ren Wert und Wich­tig­keit über­zeu­gen kön­nen."

"Klar, wenn man Rainald Goetz inszeniert, darf man alles und jeden zitieren. Und das tut der Regisseur Robert Borgmann auch. Sinn hin oder her", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (22.3.2018). Das Energielevel sei in der ersten Hälfte hoch und das Schauspiel famos (Meiborg: "Allein der Schauspieler wegen muss man ja zurzeit ins Berliner Ensemble gehen."). Nach der Pause allerdings sei "die Bühne aufgeräumt und alle Energie verpufft", die "Manierismen" von Borgmann nervten mitunter etwas, und von der "Kunstanstrengung bleibt nur Anstrengung übrig".

 

 

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