Noch einmal mit Gefühl

von Jan-Paul Koopmann

Hamburg 17. März 2018. Als der endlose Monolog nach ein oder zwei Stunden beim Thema Kokaingeschwätzigkeit anlandet, wissen vor der Bühne längst alle Bescheid. Sehr viel reden und wenig zuhören sind neben Koks und Kotzen schließlich die Hauptzutaten von Benjamin von Stuckrad-Barres Autobiografie "Panikherz". Dass kein einziger Dialog drin steht, ist ein Gag, ein Kokettieren mit der Ich-Bezogenheit des Erzählers, ein so schlüssiges wie beklemmendes Stilmittel zur Klärung seiner Isolation.

Beim Wort genommen

Auf der Bühne aber macht's einen dann doch irgendwann mürbe, dass da nie wer mit dem anderen spricht. Zeitweise bis zu sieben Stuckrad-Barres stehen da in Christopher Rüpings "Panikherz"-Inszenierung am Thalia Theater – und tragen das gar nicht mal so dünne Buch bemerkswert wörtlich und erschreckend wenig gekürzt vor. Ja, Rüping hat sich nicht so recht ran getraut an das große Buch, rückt ihm nicht zu Leibe, versucht gar nicht erst, ihm ein Geheimnis zu entlocken oder es zu dekonstruieren.

Faulheit war das nicht. Ganz im Gegenteil veranstaltet Rüpings Inszenierung einen Riesenaufwand, um nur ja nicht am Text zu rütteln. Wenn etwa die Mutter im Rückblick vorkommt, dann erzählt Oda Thormeyer darüber – trägt, wenn man so will, ihre indirekte Rede selbst vor. Sagt also mit Stuckrad-Barre sowas wie: "Meine Mutter versteht mich nicht und sagt mir dies oder das." Und das ist auch wirklich ganz lustig und verleiht der Ich-Erzählung tatsächlich eine Dynamik, die einen die drei Stunden immerhin ganz gut unterhalten absitzen lässt.

Panikherz 1 560 Krafft Angerer uHorrorshow oder Abenteuerland? © Krafft Angerer

Das ist die bekannte Geschichte Stuckrad-Barres: Landjugend in Niedersachsen und dann der Lange Marsch über Göttingen nach Hamburg, nach Berlin und nach Zürich. Der durchschlagende Erfolg seines Romandebüts "Soloalbum" macht den Popjournalisten Struckrad-Barre selbst zum Popstar – mit allem, was dazu gehört: Drogen, Magersucht, Absturz. "Panikherz" ist seine Lebensbeichte und als solche funktioniert sie auch im Theater.

Harmonie statt Reibung

Erzählt wird das aus der Rückschau des inzwischen Ausgenüchterten, in einer von Freund und Lebensretter Udo Lindenberg verordneten Hotel-Auszeit in Los Angeles. Hier gibt Sebastian Zimmler einen geläuterten Stuckrad-Barre und hält so den Abend zusammen. Da drückt er sich stets so am Bühnenrand entlang und begleitet das Scheitern der jüngeren Stuckrad-Barres mit dezenten Blicken und Gesten. Er weiß es besser, sagt zwar nichts, aber akzentuiert doch treffsicher das Spiel der anderen. Auch sonst spielen sich die Stuckrad-Barres die Bälle zu, bieten sich als Projektionsflächen oder Verstärker an. Spielen harmonisch zusammen, ohne Reibungsfläche zwar, aber doch mit dem nötigen Gespür auch für die kleineren Brüche in der Biographie ihrer gemeinsamen Rolle. Das funktioniert alles ganz wunderbar, auch wenn Bernd Grawert sich hier und da verblödelt und Pascal Houdus den richtig jungen Stuckrad-Barre etwas zu knabenhaft undurchtrieben gibt.

So entfaltet sich das Geschehen über die Tiefe des weitgehend leeren Bühnenraums. Hin und wieder wird der mit Nebel geflutet, in den Videos projiziert und in dem die Lightshows für die Musik von Christoph Hart abflackern: Nirvana, die Bates – und nach kurzem Gerangel zwischen zwei Stuckrad-Barres und dem Musikchef am Pult dann auch endlich Udo Lindenberg.

Panikherz 5 560 Krafft Angerer uGoldregen in der Spaßgesellschaft © Krafft Angerer  

"Panikherz" ist eine Musikgeschichte einerseits, aber auch eine Erinnerung daran, welche Rolle Musik und ihre Aufsplitterung in diverse Genres einmal hatte. Es ist das Porträt einer Zeit, die viel verrückter war, als man ihr im Allgemeinen nachsagt. Die ideologie- und ereignislosen 90er Jahre nämlich, mit ihrer Ironie und den von MTV bis ins letzte Detail ausdifferenzierten Lebensentwürfen, quer durch die Subkulturen: das Karohemd von Kurt Cobain mitsamt drei-Wochen-Bart für Weltschmerzkandidaten, die Turnschuhe für Skater und andere Gegenwärtige oder die richtige Frisur für Ironiker aus England.

Traumschön umgesetzt

Richtig schön ist das gleich zweimal: wenn ein fast gesungener Monolog über die ganzen Typen, denen man auf dem Ehemaligentreffen der Schule begegnen könnte, mustergültig übergeht in Oasis' "Don't Look Back In Anger" – und nochmal ganz am Ende, als Stuckrad-Barre und eine angeflirtete Foucault-Forscherin ihren Abschied mit der gemeinsamen (und über die Jahre fast vergessenen) Liebe für Coolios "Gangsta's Paradise" feiern – traumschön umgesetzt von der um den Flügel versammelten Besetzung.

"Panikherz" ist das treffende Porträt einer Zeit, an der gerade nichts treffend war, und von der man so schlecht loskommt, weil sich eben nichts am anderen reibt. Das alles auf der Bühne, tja, das ist dann wenigstens ein bisschen wie die Ehemaligentreffen in der Schule – die Stuckrad-Barre zurecht so furchtbar findet.

 

Panikherz
nach dem Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre
Bearbeitung: Christopher Rüping
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Anna-Maria Schories, Musik: Christoph Hart, Licht: Jan Haas, Video: Su Steinmassl, Maske: Julia Wilms, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Bernd Grawert, Julian Greis, Franziska Hartmann, Pascal Houdus, Peter Maertens, Oda Thormeyer, Sebastian Zimmler, Wenyen You/Cheng Ding.
Dauer: Drei Stunden und fünf Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Rüping zeigt Drogenrausch, wie man ihn sich so vorstellt: Discoblitze zucken, aus den Lautsprechern donnern Bässe, und im Nebel tanzt ein halbnackter Mann bis zur Erschöpfung", gibt Daniel Kaiser im NDR (18.3.2018) zu Protokoll. Der Theaterabend bleibe sehr nah an von Stuckrad-Barres Text. "So nah, dass sich immer wieder der Eindruck eines bebilderten Hörspiels aufdrängt." Rüping versuche den Gedanken an eine Action-Lesung zu zerstreuen, indem er mehrere Von-Stuckrad-Barre-Darsteller auf die Bühne hole. "Nach dem ereignisreichen ersten Teil fällt der Schluss nach der Pause komplett ab", so Kaiser, sein Fazit: "Der Theaterabend ist bunt, laut und oft unterhaltsam. Aber wirklich: eine Stunde zu lang."

"Rüping inszeniert kein Stuckrad-Barre-Musical sondern eine Séance über Unruhe und frühe Vereinzelung, über die Verlorenheit, die Geltungssucht und den Welthass eines überempfindlichen Hochbegabten", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (19.3.2018). "Die existenzielle Traurigkeit und die Gnadenlosigkeit, mit der hier ein Autor auf sich und die Welt blickt, ist das Thema dieser Theaterarbeit, die sich erstaunlich wenig um die Entertainmentsehnsucht der Zuschauer zu kümmern scheint und doch in keinem Moment langweilig wird."

Schnell gelinge es Rüping, den großen Überwältigungswunsch, der den jungen Stuckrad-Barre ausmacht, auch beim Publikum zu entfachen, so Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (18.3.2018). Er lasse seine Spieler "weniger in die eigentliche Handlung springen, als vielmehr mitten hinein ins Gefühl". In keinem Moment irritiere die Vielstimmigkeit der Protagonisten. "Die Figuren entstehen durch Stuckrads Text, natürlich, aber eben auch durch eine ganz bewusste, ekstatische Körperlichkeit des mit spürbarer und sich übertragender Lust agierenden Ensembles. Rüping schafft Wahrhaftigkeit."

Ganz anders Stefan Grund in der Welt (19.3.2018). Christopher Rüping mühe sich "redlich" um eine Dramatisierung des Stoffes. "Drei Stunden lang. Und sehr. Erfolglos." Rüping werde keiner der Figuren des Romans in dramatischer Form gerecht. "Zu ehrfürchtig angegangen scheitert der Roman in seiner szenischen Lesung."

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