Männerdämmerung

von Stefan Schmidt

Hamburg, 18. März 2018. Alfred Jarrys Zukunftsroman "Der Übermann" erinnert stellenweise an einen symbolistischen Softporno. Und die lose Szenenfolge "Die Liebe auf Besuch" des gleichen Autors suhlt sich über weite Strecken dermaßen anschaulich darin, (jung-)chauvinistische Potenzphantasien ins Groteske zu überzeichnen, dass sich für die Erstveröffentlichung im Jahr 1898 ein zweifelhafter Verleger fand, der ansonsten eher sinnstiftende Publikationen wie "Die Prostituierten des Throns" in seinem Programm hatte. Was macht nun Christoph Marthaler, wenn er gute hundert Jahre später, in Zeiten von #MeToo, gleich beide dieser dreckig detailverliebten Supermacho-(De-)montagen in den Titel seiner neuen Produktion für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg nimmt? Er eliminiert als erstes mal die Männer. Fast gänzlich. Und das keine zehn Minuten nach Beginn des Abends.

Kleiderhaufen

Erst dürfen sie aber noch selbstgefällig ihre Mäntel abgeben, bei der Garderobiere der Rosemary Hardy. Die englische Sängerin und Schauspielerin gehört zu Marthalers Stammpersonal - auch weil sie neben ihrer musikalischen Klasse einen sehr britischen sense of humour pflegt, etwa wenn sie völlig stoisch ein Stück Oberbekleidung nach dem nächsten an nicht vorhandene Kleiderhaken zu hängen vorgibt. Plumps. Und nochmal plumps. Unter einer Reihe bösartiger Kommentare ("Oh… a leopard? - Imitation!") entsteht so ein Berg von schrägen Jacken und blasierten Hüten und gleichzeitig ein großartig komischer Moment absurder Slapstick, der in seiner poetischen Sinnferne den Ton für den Rest der Inszenierung vorgibt. Allerdings wird das Lachen schnell leiser.

Zurück vor die Elektrifizierung

Wir erleben nämlich den Moment eines existenziellen Einschnitts in das, was wir Gegenwart nennen. Das Bühnenlicht zuckt und erlischt zeitweise. Eine Computerstimme aus dem Off informiert darüber, dass eine unvorhergesehene "Sonnenwindattacke" allerhand durcheinandergebracht habe. Unter anderem seien alle "strombasierten Errungenschaften der vergangenen 150 Jahre" verloren gegangen. Mit diesem technologischen Rückfall in die Zeit knapp vor Alfred Jarrys Geburt wird der angekündigte Titel "Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch" kurzerhand gleich für mit erledigt und damit für gestrichen erklärt. Zumal die Männer ja gleich mit ihrer ganzen überrationalisierten Technikgläubigkeit im elektromagnetischen Sonnenwind verschwunden sind. Übrig bleiben von ihnen nur sieben Paar schwarze Lackschuhe, auf ganzer Breite über den Bühnenboden verteilt. Und das Licht werde auch allenfalls noch für weitere hundert Minuten reichen, kündigt die Computerstimme an. Sie wird Recht behalten.

Uebermann7 560 Horn uGala Othero Winter, Isabel Gehweiler, Sachiko Hara, Rosemary Hardy, Sasha Rau, Altea Garrido,
Anja Lais, Bettina Stucky. Hinten: Clemens Sienknecht, Marc Bodnar  © Matthias Horn

Dass in der verbleibenden Zeit bis zum endgültigen Untergang der männlichen Welt von Wissenschaft und Technik sicher keine Art von zusammenhängender Geschichte mehr erzählt wird, macht Rosemary Hardy mehr als deutlich, indem sie nonchalant die Einzelbuchstaben des vermeintlichen Inszenierungstitels vom Übermann oder der besuchsweisen Liebe von einer Ankündigungstafel reißt und sie sich gierig in den Mund stopft. Da geht er hin, der letzte Rest von Halt und Gewissheit - und macht Platz für einen Assoziationskosmos á la Marthaler, der musikalisch von Beethoven über Schubert und Eric Satie bis zu Abba und den Kinks reicht. Literarisch kommen außer Jarry (und dem Regisseur selbst) bezeichnenderweise ausschließlich Frauen zu Wort, darunter Gertrude Stein als Pionierin der Moderne, ihrer Zeitgenossin Gertrud Kolmar und die heute 38 Jahre alte deutsch-schweizerische Lyrikerin Nora Gomringer.

Gott am Klavier

Deren Sinnlichkeit und die brüchige Körperlichkeit seiner Darstellerinnen wie die der gewohnt grandios grell polternden Bettina Stucky setzt Marthaler gegen die beiden letzten verbleibenden Witzfiguren männlicher Egos auf der Bühne. Der eine, Schauspieler Clemens Sienknecht, gibt sich gleich als Gott aus, den der Sonnenwind in unsere Gegenwart geblasen habe, aus dem Paralleluniversum der Pataphysik, wie Alfred Jarry seinen satirisch persiflierenden Gegenentwurf zu Gedankenwelten der rationalen Wissenschaften und der Metaphysik genannt hat. Zu mehr als zur Groteske taugt der hochrangige Vertreter dieses imaginären Universums auch bei Marthaler nicht: In seinem blau-grauen Seidenbademäntelchen zur bleichen Glatze wirkt Sienknecht hinter seinem auf- und niederfahrenden Klavier so herrlich lächerlich, dass es großen Spaß macht, ihm in seiner großspurigen Geschwätzigkeit zuzuhören und zuzusehen.

Übermann auf dem Fahrrad

Als noch schlimmerer Schlappschwanz erweist sich eine bärtige Gestalt in kurzen Hosen und schwarzen Kniestrümpfen, die möglicherweise das ist, was von Jarrys Superhero André Marcueil übrig ist, dem athletisch muskulösen, megapotenten Übermann, der es bis zu einer gewissen Grenze sogar mit Maschinen aufnehmen konnte. Heute sitzt da auf der Hamburger Bühne ein eher vollschlanker französischer (Film-)Schauspieler namens Marc Bodnar mit grau melierten Haaren auf einem Fahrrad (Jarrys Markenzeichen, seinerzeit reichlich verrückt), strampelt sich ab und kommt doch nicht voran, weil die Trampelmaschine in einer Halterung fixiert ist. Dumm gelaufen. Beim Tanzen ist der Kerl eine noch größere Niete. Erst bietet er eine expressive Pose nach der anderen - aber als sieben der Frauen im Ensemble auf einmal anfangen, aufgegeilt an ihm zu zerren, schlottern diesem Weichei nur noch die Knie. Da triumphiert das Theater der Körper augenzwinkernd über jedes verlorene Wort. Tolle Schauspielerinnen und Schauspieler in Höchstform!

Uebermann12 560 Horn uNach dem Glanz und nach der Liebe: Das Ensembe in Anna Viebrocks Bühnenbild  © Matthias Horn

Hoffnung macht das alles allerdings nicht mehr. Alle Sehnsüchte nach Liebe oder dergleichen erweisen sich als schnöder (Pop-)Kitsch, der im Zweifel an der Kirmesorgel als solcher demontiert wird. Noch mehr als in anderen seiner Inszenierungen zelebriert Marthaler an diesem Abend die Leerstellen, das Trostlose des Lebens. Anna Viebrocks gewohnt stimmungsbeherrschendes Bühnenbild zeugt nicht nur vom Verfall einer früheren Sinnhaftigkeit (oder gar Schönheit?), sondern legt im indirekten Licht des mittlerweile zerbrochenen Glasfensters oben links oder aus einer der fünf Türen gleich mehrere Schichten von Tapeten- und Fliesenmustern frei, die vielleicht einmal den Empfangsbereich eines Konferenzzentrums schmückten, der über eine enge Treppe in der Mitte möglicherweise einmal mit einer Art Realität in Verbindung stand. Den exzentrischen Glanz früherer Jahre und Jahrzehnte spiegeln auch die absurd adretten Kostüme gerade der Schauspielerinnen (von Sara Kittelmann), die darin auch als Parodien ganzer Managerinnengenerationen schaulaufen könnten. Schließlich haben am Schluss augenscheinlich auch diese Frauen den Glauben an die Liebe verloren - und drohen (zumindest musikalisch), die gleiche Egoshow durchzuziehen wie vormals bei Jarry die (Über-)Männer: "I was meant for me. I was right. I will love me till the day I die."

Der Erbe der Avantgarden

Bis zum (bitterbösen) Ende sitzt und passt in dieser Inszenierung jedes Detail. Wenn Jarry der Vorläufer der historischen Avantgarden war, ist Marthaler ihr legitimer Erbe. Seine Klugheit macht den Abend allerdings stellenweise gedanklich überladen, übertrieben verkopft. Wer der Gefahr entgehen will, irgendwann selbst zum Dummschwätzer im Seidenbademantel zu werden: anschauen, Kontrolle abgeben, mitreißen lassen. Dann wird's zum feinen Fest der Sinne. Zu einem leisen, lyrischen, sicher nicht dramatisch. Die Übermänner sind schließlich verschwunden. Und das ist gut so.

 

Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch
von Christoph Marthaler nach Alfred Jarry
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock, Kostüme: Sara Kittelmann, Musikalische Leitung: Rosemary Hardy, Clemens Sienknecht, Violoncello: Isabel Gehweiler, Licht: Annette ter Meulen, Dramaturgie: Malte Ubenauff, Video: Marcel Didolff, Peter Stein.
Mit: Marcel Bodnar, Altea Garrido, Isabel Gehweiler, Sachiko Hara, Rosemary Hardy, Anja Laïs, Sasha Rau, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Gala Othero Winter - und (Statisten:) Rolf Bach, René Batista, Uwe Behrmann, James Bleyer, Niels Christenhuß, Tommasso DelDuca, Steffen Gottschling, Allan Naylor, Davide Pronat, Mohammad Sabra
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Marthalers "Potpourri des Absurden wird - umso länger der Abend dauert - leider ein Abschied vom Mann, ohne ein Willkommen für die Frau zu sein, jedenfalls für die Frau als Komikerin", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.3.2018). "Selbst die choreografischen Verrenkungen, die sonst bei Marthaler rekordverdächtiges Slapstick-Niveau erreichen, sind so statisch und bemüht wie das ganze Konzept einer feministischen Vision von Lyrik als Lebenszweck aus maskuliner Perspektive. Aber vielleicht muss das so sein, wenn Männer sich den eigenen Untergang herbeiträumen - und diesen mal nicht durch Krieg regeln wollen."

"Ein poetisches Gesamtkunstwerk von närrischem Ernst" inszeniere Marthaler, so Bernd Noack in der NZZ (20.3.2018). "Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis Christoph Marthaler die Pataphysik für sich entdeckte." Sicher sei man nach "Übermann" so klug wie zuvor und so verwirrt wie schon immer, aber das sei ganz pataphysische Tradition, "weil schon der Begründer Jarry nichts davon hielt, absolute Klarheit über das, was einem zustösst, zu erlangen. "In einem Mosaik der Zufälle und Ausnahmen, das sich ins Surreale vorwagt treten die durchwegs fabelhaften und sich herzzerreissend irritiert gerierenden, bisweilen auch männertrotzend aufmüpfigen Schauspielerinnen auf." Fazit: Marthalers wohltönende Nummernrevue, dieses Puzzle aus sehr weit verstreuten Teilen umstösslicher Gewissheiten, wird im Verlauf zu einem dichten poetischen Gesamtkunstwerk.

Übermann sei mehr "Konzertinstallation mit Pantomime denn ein Theaterstück im herkömmlichen Sinne, "aber gerade deshalb zwingt es den Zuschauer, neu zu sehen, zu hören, zu denken, und ermöglicht einen erfrischenden Spaziergang auf einem fremden Planeten", so Stefan Grund in der Welt (20.3.2018). Seine Kunst, Parallelwelten zu entwerfen, treibe Marthaler auf die Spitze.

Christoph Marthaler ist bekannt dafür, "seine verlangsamten Figuren in einen Wahnsinn zu schicken, der irgendwann ins Anarchische explodiert, eine ungeheure Lebensenergie freisetzt. Doch davon ist an diesem Abend keine Spur", so der wenig angetane Peter Helling auf NDR.de (20.3.2018). "Das Tempo, das wie immer bei Marthaler schneckenhaft langsam wird, hier erstarrt es. Poesie? Nirgends. Eine innere Handlung vom Menschen und seinen Sehnsüchten, nichts davon geschieht hier. Es ist ein totes Karussell."

"Der Stoff ist ein typischer Marthaler", so Heide Soltau im Deutschlandfunk (18.3.2018). Es gebe schöne Momente, aber der Abend habe zu viele Längen. "Nicht die üblichen Marthaler-Längen, die aus Verschwendung entstehen, weil er gern einige Umdrehungen zu viel in die Szenen einbaut und sich nicht trennen mag von seinen Ideen. Diesmal scheinen ihm die Ideen ausgegangen zu sein." 

Das, was man hier zwei Stunden lang sehe, sei in Wahr­heit "nur ein wei­te­rer Aus­schnitt aus der im­mer glei­chen und im­mer gleich fas­zi­nie­ren­den Traum­welt des Chris­toph Martha­ler", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.3.2018). "Auch wenn man man­ches Mo­tiv schon oft in Martha­ler-In­sze­nie­run­gen ge­se­hen hat – der zu spät kom­men­de Mu­si­ker, das zer­bers­ten­de In­stru­ment, das falsch her­um ge­tra­ge­ne Ja­ckett –, es geht stets aufs Neue ein klei­ner Zau­ber da­von aus und legt ein sur­rea­les Gra­vi­ta­ti­ons­feld an, auf dem von Me­lan­cho­lie bis grel­lem Gal­gen­hu­mor die un­ter­schied­li­chen Ge­fühls­wel­ten auf­schei­nen."

"Wie sich dieses Bühnenbild lautlos, fast ballettartig durch Raum und Zeit schiebt, wie es langsam ein atmendes Eigenleben zu entwickeln scheint", gehöre zu den eindrucksvollsten Momenten des Abends, findet Katrin Ullmann in der taz (21.3.2018). "Oft, zu oft aber verliert sich Marthaler in der Musik und – man kann es ihm nicht verdenken – in der fantastischen Stimme von Rosemary Hardy. So schleppt sich die Inszenierung bald von einem Liebeslied zum nächsten, von einer Sehnsuchtsmelodie in die andere." Es fehle der schrullige Leerlauf, die kluge Komik des Marthaler-Ensembles.

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