Fehlender Rückhalt

München, 19. März 2018. Intendant Matthias Lilienthal wird die Münchner Kammerspiele zum Ende seiner Vertragslaufzeit im Sommer 2020 verlassen. "In München ist kein Rückhalt für die Verlängerung meiner Arbeit gewährleistet, nachdem die CSU-Fraktion einen Beschluss gegen eine Vertragsverlängerung gefasst hat", wird Lilienthal in einer Presseaussendung der Kammerspiele zitiert. "Ich freue mich auf die nächsten zwei Spielzeiten mit den Münchner Kammerspielen", so Lilienthal weiter.

Matthias Lilienthal Kammerspiele 268 Sima DehganiMatthias Lilienthal © Sima Dehgani Hintergrund für die Entscheidung ist die Tatsache, dass eine Verlängerung, die demnächst angestanden hätte, aussichtlos scheint. Wie die Süddeutsche Zeitung online berichtet, hat die CSU-Stadtratsfraktion, Juniorpartner in einer Großen Koalition mit der SPD, schon vor zwei Wochen den Beschluss gefasst, Lilienthals Vertrag nicht zu verlängern. Lilienthal war noch von der vorherigen Koalition aus SPD und den Grünen nach München berufen worden. Wie die Süddeutsche Zeitung weiter berichtet, hatte sich Lilienthal erst Anfang Februar vor dem Stadtrat für die auf 63 Prozent gesunkenen Auslastungszahlen der Kammerspiele verantworten müssen.

"Mut zum Experiment"

Der Kulturreferent der Stadt München, Dr. Hans-Georg Küppers (SPD), der bei Lilienthals Berufung federführend war, bedauert dessen Entscheidung: "Die Münchner Kammerspiele sind in den letzten Jahren stark im Gespräch, auch in Bezug auf die Rolle des Stadttheaters in der Gegenwart und in der Zukunft. Wir sehen großartige Vorstellungen. Zum Beispiel haben die Arbeiten von Nicolas Stemann (Shakespeares Kaufmann von Venedig, Jelineks Wut, Tschechows Der Kirschgarten) oder David Marton (La Sonnambula, On the Road) eindrucksvoll gezeigt, wie Schauspielkunst und neue theatrale Formen zusammengeführt werden können."

Ein Theater mit Mut zum Experiment könne sich mit seinen Produktionen nie auf der sicheren Seite wähnen. "Dennoch geht das engagierte Team der Münchner Kammerspiele bewusst diesen Weg, dem leider nicht das gesamte Publikum folgt. Gleichzeitig entdecken Kulturinteressierte, die bisher nicht ins Theater gegangen sind, die neuen Formate für sich und nehmen sie an." Eine Vertragsverlängerung wäre aus Küppers Sicht sinnvoll gewesen, "um zu zeigen, dass es mehr als fünf Jahre bedarf, um die ganze Bandbreite einer wirkungsvollen Intendanz unter Beweis zu stellen."

(Münchner Kammerspiele / geka)

 

 

Presseschau zum Abgang des Intendanten Matthias Lilienthal

Als erste reagierte im Radio Susanne Burkhardt auf die Meldung vom Rückzug Lilienthals von der Intendanz der Münchner Kammerspiele. In Fazit (19.3.2018), der abendlichen Kultursendung auf Deutschlandfunk Kultur (hier zum Nachhören) sagte sie: München habe einen Intendanten gewollt, "der das Haus öffnet für ein junges Publikum, einer der das Stadttheater erneuert und so richtig aufmischt". Lilienthal mit seinem "Mix aus Ensemble-Theater, freier Szene, aus Performance und Schauspiel" sei als der Richtige erschienen. "Aber der lässige und schnodderig wirkende Lilienthal und die Stadt München – das waren von Anfang starke Gegenpole. Erfolgsrezepte, Formate und Gruppen, die im Hebbel am Ufer prima funktionieren, ließen sich offenbar nicht einfach nach München übertragen, auf ein großes Haus mit festem Ensemble und Repertoire."

Nach Bekanntwerden des Rückzugs erhob sich auf den Plattformen der Süddeutschen Zeitung ein rechtes Stimmengewirr. Zunächst kommentierte Susanne Hermanski auf SZ online (20.3.2018, 17:20 Uhr): Ohne die Stimmen der CSU könne die SPD Lilienthal nicht halten. Obwohl seine Intendanz "an den Kammerspielen eine "der raren konsequent kulturpolitischen Gesten der SPD" sei und obendrein eine "Herzensangelegenheit" des SPD-Kulturreferenten Hans-Georg Küppers. Dabei habe Lilienthal "für die Stadt und die Kammerspiele auf seine Weise Beachtliches geleistet". Er habe den gesellschaftlichen Diskurs hier so streitbar geführt, wie man es sich von "der Politik" wünschen würde. Und habe dabei "immer wieder an große, klaffende Wunden der Stadt gerührt".

Anders Christine Dössel, sie schreibt, ebenfalls auf SZ online (20.3.2018, 18:57 Uhr): Das Münchner Publikum sei nicht zu konservativ für Lilienthals Theater. Es sei "traditionell linksliberal und so neugierig, offen und theaterbegeistert wie kaum ein anderes in Deutschland". Aber es liebe Schauspielertheater, für das an den Kammerspielen "wenig Platz" sei. Lilienthal nun habe dieses Publikum "als überaltertes, weißes Stammpublikum" verachtet und hätte es als Intendant doch aber "abholen und mitnehmen" müssen. Dass "mangels Theater – und ja: auch mangels Qualität – die Zuschauer" wegblieben, sei nicht das "einzige Krisensymptom" seiner Intendanz. Auch Top-Schauspieler, der Hausregisseur und der Chefdramaturg seien gegangen oder hätten den Abschied angekündigt. In Wirklichkeit funktioniere die Übertragung der Berliner Erfahrung aus dem HAU auf die Kammerspiele nicht. Nicht das Publikum sei "stehen geblieben", sondern Lilienthal.

Wiederum anders sieht es am Tag drauf Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (21.3.2018). Nach Lilienthals Beginn sei schnell klar gewesen: "Wer sich nur von Sprechtheater im Goldrahmen ernähren will", werde hier nicht satt. "Zu viel Performance, zu wenig Schauspielkunst, zu viel Programm für Flüchtlinge und junge Leute, zu wenig für jene, die die Kammerspiele schon seit Jahrzehnten lieben". Nur ein Teil des Publikums habe sich über den Intendanten gefreut, "der sich wirklich mit der Stadt auseinandersetzt". Kein anderer Intendant sei in der Stadt so präsent wie Lilienthal. Auch bei seinen Vorgängern sei die Auslastung im zweiten Jahr nicht besser gewesen, dafür biete Lilienthal viel mehr Veranstaltungen, meine es ernst mit dem Flüchtlingstheater, unterhalte enge Beziehungen zur Freien Szene und habe außerhalb Münchens mit seiner "Kulturentwicklungsstätte" Erfolg.

Und abermals widerspricht ein anderer Kollege der Süddeutschen, Egbert Tholl (21.3.2018): Schon mit seiner ersten Produktion, "Shabbyshabby Apartments", hätten sich die Parameter von Lilienthals Kunst gezeigt. "Sie erregte Aufsehen, beruhte auf einem einzigen Gedanken, gab sich politisch, definierte den öffentlichen Raum als Bühne und benötigte keine Schauspieler." Vor allem aber habe es immer wieder an "Gedankenleistung" und "Qualität" gemangelt. Auch die Münchner Arbeiten von Nicolas Stemann und Simon Stone hätten fahrig, nicht durchdacht gewirkt. She She Pop, Philippe Quesne und Gob Squad seien weit hinter ihrem Vermögen zurückgeblieben. "Lilienthals Scheitern" beim angestammten Publikum, so nun auch Tholl anschließend an Dössel, sei "kein Scheitern der Moderne, sondern eines in der Vermittlung". Neues müsse "sich legitimieren und dabei zwingend sein".

In der Münchner Abendzeitung (online 20.3.2018, 22:42 Uhr) streiten Michael Stadler und Robert Braunmüller über den Abgang des Kammerspiele-Intendanten. Michael Stadler bedauert, weil Lilienthal die Kammerspiele "demokratisiert", sich mit "gesellschaftsrelevanten Themen" auseinandergesetzt und ein inzwischen "eingespieltes Ensemble" habe. Die Kammerspiele böten "Thementheater mit einigen schauspielerischen Glanzlichtern, kein Schauspielertheater mit gelegentlichen Themenschwerpunkten." Das Ensemble sei "voller bemerkenswerter Persönlichkeiten". "Internationale Stimmen" wie Toshiki Okada oder Amir Reza Koohestani hätten "inspiriert inszeniert". "Gewöhnungsbedürftig" bleibe, dass die Kammerspiele kein reines Sprechtheater mehr seien. Es gebe sehr viele "Gastspiele, Lesungen, Musikabende". Viele Produktionen der letzten Zeit seien gelungen.

Robert Braunmüller begrüßt Lilienthals Entscheidung. "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende." Auch im dritten Jahr sei der Besucherrückgang nicht gestoppt. Die offiziellen 63 Prozent seien "zu schwach". Die Kammer 1 sei viel zu oft leer, man rette sich "mit Lesungen, Konzerten und Filmen" und schöne mit Popkonzerten die Auslastung. Lilienthal halte das Publikum für "dimpflig", man könne aber nicht auf Dauer gegen das Publikum einer Stadt anspielen. "Berliner Hochmut". Wirklich "enthusiastische Kritiken" seien überregional nicht erschienen. Außerdem: zum Performen brauche man weder "hoch spezialisierte Schauspieler mit Jahresverträgen", noch "teure Werkstätten". Lilienthal sei "drauf und dran" einen Kunstbetrieb neoliberaler Prägung wie in den Niederlanden einzuführen. Auch als "Sozialbürgerhaus der Altstadt" seien die Kammerspiele "nicht gedacht".

Die Berliner Stimmen spekulieren naturgemäß über den weiteren Verbleib des Matthias Lilienthal. Als erster meldet sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online 20.3.2018, 15:43 Uhr): Bei Lilienthals Arbeit gehe es darum, "die Ensemble- und Repertoire-Strukturen zu lockern ". Das laufe vereinfacht auf "eine Schwächung des Schauspieltheaters zugunsten der Performancekunst hinaus". – "Wir hätten ihn ganz gern wieder hier in Berlin … aber fast noch lieber hätten wir mit dem komfortablen Sicherheitsabstand noch ein bisschen weiter verfolgt, wie sein aktuelles Experiment ausgeht." Normalerweise müsste Lilienthal eigentlich nach Berlin ziehen, schätzt Seidler die Situation ein, "aber dass er die Volksbühne ein zweites Mal retten wird, ist undenkbar" [wieso eigentlich? – der Säzzer].

Rüdiger Schaper kommentiert auf tagesspiegel.de (20.3.2018, online 18:23 Uhr): Fünf Jahre Lilienthal an den Kammerspielen, "ein ausgemachter Berliner in München", das habe nicht "glattgehen" können. "Lilienthal hat andere Talente als Fingerspitzengefühl. Im Grunde hat er offen durchgezogen, was andere verdeckt machen – den Wandel des deutschen Stadttheaters zur Diskursplattform." Das müsse man nicht gut finden, aber die Alternativen seien "schwer", wie man an "vergleichbaren Häusern" sehe. "Schauspielertheater", das sei heute die Avantgarde. Und Lilienthal? "Geht es in zwei Jahren zurück nach Berlin?"

Simon Strauß schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.3.2018) ganz kurz und endet so: "Bei Lilienthals Nachfolge wäre jedenfalls darauf zu achten, dass neben der Experimentierfreude auch die Schauspielervorlieben des Publikums nicht ganz aus dem Blick geraten."

(jnm)

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