Keine Bastion der Affirmation

München, 22. März 2018. Das Ensemble der Münchner Kammerspiele hat sich in einem Offenen Brief hinter  Intendant Matthias Lilienthal gestellt, der aufgrund fehlenden Rückhalts in der Stadtpolitik entschieden hat, seinen Vertrag nicht über 2020 hinaus zu verlängern. "Die Entscheidung, die Intendanz Lilienthal nicht zu unterstützen, untergräbt für unser Empfinden den Geist dieses Hauses", heißt es in dem Brief. "Sie sabotiert unsere Suche und erwischt uns zur Halbzeit unserer Bemühungen."

Die Unterzeichner*innen monieren, dass man dem Erneuerungsprojekt des Hauses keine Zeit eingeräumt habe, und verweisen auf die "Erfolge einiger unserer Produktionen, überregionales Echo und die neu gewonnene Diversität unseres Publikums". Programmatisch heißt es in dem Brief: "Wir glauben, dass es der Auftrag des subventionierten Theaters ist, ein Ort der Reflexion und des Aufbruchs, nicht eine Bastion der Affirmation zu sein. Wo, wenn nicht an diesem Ort, ist der spielerische Mut zur Verunsicherung, zur Utopie und zum Experiment angebrachter – wann, wenn nicht in einer Zeit, in der Angst tiefe Gräben durch unsere Gesellschaft zieht?"

(Münchner Kammerspiele / chr)

 

 

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Kommentare  
Lilienthal verlässt München: zu vorschnell geurteilt
Man muss an die EntscheidungsträgerInnen dieser verwöhnten reichen Städte erinnern daran, dass ihr Ärger über ihnen evtl nicht passende Inszenierungstile ein faktischer Beweis für eine Wertschöpfung ist, von der sie später profitieren werden. Dass ist fast eine unmögliche Aufgabe, aber eben nur fast unmöglich. In Zürich haben wir „Theaterschaffenden“ das 2002 geschafft und eine Verlängerung der Marthaler-Intendanz erkämpft. Leider wollte dann Marthaler nicht so lange weitermachen, wie wir unterstützerInnen das gewünscht hätten. Aber doch wurde ihm verlängert. Nur: offene Briefe reichen nicht. Es braucht zusätzlich eine Lobby der BürgerInnen, die sich hinter Lilienthal stellt. Und parallel sehr freche Aktionen der SchauspielerInnen und TechnikerInnen im Stadtraum. Zürich jammert übrigens heute noch wegen diesem Marthaler-Fall. Nach Marthaler kam Hartmann (Räusper). Und den Leuten - gerade auch den „VerjagerInnen“ - wurde nach und nach klar, was sie angerichtet hatten mit ihrem vorschnellen Vertreiben des „Neuen“ und „Anderen“ (das kurz danach sich überall durchsetzte). Das muss man diesen konservativen, ängstlichen Menschen sagen: sie urteilen zu vorschnell, gegen die Interessen der Jugend und der Zukunft. Sie liegen faktisch falsch, nicht moralisch.
Lilienthal verlässt München: die politische Entscheidung nicht vergessen
Man sollte nicht vergessen: Dahinter steht auch eine politische Entscheidung der CSU. (...). Die politische Revue '1968‘ hat unlängst daran erinnert, wie effektiv die Politik zurückschlagen kann, wenn die Grenzen des Theaterraums (aus einem avancierten Verständnis von Stadttheater heraus etwa) nicht ohne politischen Nebensinn systematisch überschritten werden. Auch vom 'Wartesaal' könnte man durchaus etwas lernen über die natürlich nicht gewollten Folgen, wenn Zeitungen zu naiv meinen, die Politik für ihre Zwecke benutzen zu können.
Lilienthal verlässt München: Heimat erkämpft
Das Stilisieren diese Falls zu einem Kulturkampf - nein, nein. Lilienthal hat einfach den Nerv in München nicht getroffen, das ist viel weniger dramatisch als es jetzt in hyperiger Weise aufgeblasen wird. Das ist auch gar nicht schlimm, es passt halt manchmal das eine nicht zum anderen.

Was ich spannend finde: In Berlin (Volksbühne) und München (Kammerspiele) gibt es offenbar Häuser, die einen bestimmten Geist atmen, weil es ganz ungewöhnliche Bauten sind, die über Jahrzehnte etwas etabliert haben. Möglicherweise hätten Dercon im HAU oder Lilienthal im Residenztheater ganz wunderbar funktioniert. In beiden Fällen hat sich ein Publikum eine Heimat erkämpft, die es verteidigt. Das ist doch eigentlich eine großartige Entwicklung!

Die Anmaßung von manchen KünstlerInnen und des Kommentators #1, diesem Publikum vorzuhalten, es sei konservatov, ist demgegenüber peinlich. Der Vorwurf würde nur greifen, wenn es in Berlin und München keine Orte für das jeweils andere gäbe - was schlicht nicht der Fall ist.
Lilienthal verlässt München: Publikum muss mitziehen
Klar gibt es einen politisch konservativen Widerstand gegen die neuen Kammerspiele. Das zeigte sich u.a auch in der Reaktionen gegen „Mittelreich“. Das zu leugnen ist doch auch wieder etwas naiv. Aber das soll nicht meine Kernaussage sein. Viel wichtiger wäre den Fokus darauf zu legen, dass das Stadttheater der Zukunft den Weg den die Kammerspiele gehen, gehen muss, wenn es überleben will. Mehr Diversität, andere hierarchische Modelle, Stadtraum-Experimente, mehr „Service Public“, tiefere Eintrittspreise. Die Digitalisierung und die Durchmischung der Gesellschaft wird solche Formen zwingend machen. Deshalb ist es gut, das Ensemble wehrt sich. Aber es wichtig, dass es das neue Publikum mitzieht mit dem Protest. Deswegen: Lärm, Aktionismus, Polemik (zwingend!) gegen die CSU Zukunftsblockierer, parallel vernünftige Gespräche von Experten über aktuellen Forschungsstand Theater der Zukunft und dass das neue Modell Kammerspiele sein muss. Ohne koordinierende Kernzelle hat man das aber bald wieder einen altmodischen Intendanten auf dem fauligen Thron, und das Experiment wird abgeschrieben wie das Frankfurter Modell.
Lilienthal verlässt München: Mini-Ergänzung
Mit „Mittelreich“ meinte ich natürlich das Reenactment der Ur-Inszenierung von Anna Sophie Mahler in der Regie von Anta Helena Recke - und die gehässigen Reaktionen auf diese Re-Inszenierung von Recke.
Lilienthal verlässt München: genauso ehrenwert
@Samuel Schwarz
Wenn Sie schreiben, "dass das Stadttheater der Zukunft den Weg den die Kammerspiele gehen, gehen muss, wenn es überleben will" - formulieren sie dann nicht eine Unbedingtheit, die eben zu jener Offenheit und Durchmischung, die sie sich andererseits wünschen, im Widerspruch steht? Ist es im Geiste jener Offenheit nicht vielmehr so, dass es verschiedene Formen, ja, auch Ansätze an verschiedenen Häusern geben MUSS - weil sonst nur der eine Konservativismus durch einen anderen ersetzt wird; im Sinne der Bewahrung eines Status quo zu Ungunsten möglicher (erst zu entwickelnder) Alternativen? War nicht der Schritt, Lilienthal nach München zu holen, ein ehrenwertes Wagnis - und ist es nicht jetzt ebenso ehrenwert, diesen Schritt zu korrigieren, wenn man zu erkennen glaubt, dass sein Ansatz nicht funktioniert? (Ob er funktioniert oder nicht: Darüber kann man ja verschiedener Meinung sein.) Mir persönlich (ich bin jung, ich bin an Diversitäts- und Genderfragen interessiert) hat nicht gefallen, was ich zuletzt an den Kammerspielen gesehen habe. Weil mir das professionelle Niveau zu niedrig war, weil ich (gerade bei Inszenierungen, die aus der freien Szene kamen) die dargestellten Ideen unausgegoren, zu flach oder nicht interessant umgesetzt fand. Mich wundert nicht, dass sich jetzt kein Proteststurm erhebt, um Lilienthal zu halten - und das liegt nicht an den "Zukunftsblockierern" der CSU oder am gleichgültigen Münchener Publikum, m.E..
Lilienthal verlässt München: Professionalität
Ja, sicher haben sie recht, dass man eine solche Programmatik nicht absolut einfordern kann. Allerdings habe ich - auch wenn wir das natürlich am konkreten Fall besprechen müssen - wohl eine andere Auffassung von "Professionalität". Was ist schon "professionell"? Ich sehe durchaus immer wieder "professionelle" SchauspielerInnen und Schauspieler, die sich einer fragwürdigen, oder auch reaktionären Regie unterwerfen. Da wünschte ich mir jeweils mehr Gegenrede und weniger gutes Handwerk. Mehr rhythmisch gesetztes Schweigen als schön gebaute Chöre mit braven SprecherInnen-Schäfchen. Ich habe ein anderes Bild der Schauspielerin von morgen (und ich bemühe nun absichtlich nicht den/die migrantische SpielerIn, den/die ich natürlich aber auch mitmeine, wenn ich von Diversität rede). Die Diversität von Professionalität hat zugenommen. Aber auch die hybride SchauspielerIn, die an der Ernst Busch bei Professor Friedrich Kirschner "Coding" gelernt hat und sich ihren Androiden selber programmiert, der dann mit ihr auf der Kammerspiel-Bühne tanzt, ist auch "professionell", sie braucht kein schönes Bühnendeutsch, um etwas über den Datenklau von Facebook zu erzählen. Zudem programmiert sie sich die KI der sie lenkenden Regie evtl in Zukunft selber, braucht also auch den Regie-Zampano nicht mehr, der ihre Fäden lenkt. Neben ihr steht - weder hoch noch nieder-rangiger die brilliante SprechschauspielerIn, die den Androiden verbal aushebelt. Die jungen Leute, mit denen ich zusammenarbeite, haben alle Bock diese grossen Häuser mit ihrer tollen Technik vielseitig zu bespielen. Aber sie haben keinen Bock mehr auf diese angeranzten 20.Jahrhundert Regisseure und Regisseurinnen mit ihren "Visionen" und dutzendmal varierten Stückvariationen. That's oldschool. Ja, ich glaube, dass es gerade die Staatstheater sein müssen, die diese Innovation und neuen Produktionsverfahren vorantreiben müssen. Und an den Kammerspielen wurden diese Innovationen zumindest ansatzweise ENDLICH mal ausprobiert. (Und wenn dieses Experiment evtl noch nicht diese "Auslastung" generierte wie das Residenz-Theater, dann ist das ja auch total normal). Wenn nun Andreas Beck mit seiner gut gemachten Kulinarik (nicht abwertend gemeint, im Gegenteil) und seinem starken Sprechschauspiel das Resi "rocken" wird, dann ist es doppelt schade, dass das Experiment an der Kammerspielen parallel nicht weitergeht - sondern dort ein neue/r FürstIN der guten "SprachschauspielerInnen" sein/ihr biederes Reich errichtet. Sicher stehen die Matthias Hartmanns, Barbara Freys etc schon in den Startlöchern. Eines ist aber leider auch festzuhalten: Natürlich ist Lilienthal auch wieder mal Intendanten-EITEL und KARRIERESCHLAU, dass er sich nicht feuern lässt (da käme er in die Looser-Position, was seinem Selbstbild widerspricht). Er schmollt nun. Es ist schade, dass er dieses Kreuz der Entlassung nicht zu tragen wagt. Denn dann hätten die Ensemble-Mitglieder und neuen ZuschauerInnen nach den Rausschmiss Lilienthals auf die Barrikaden steigen können und das Blatt vielleicht wenden können. Dieser Möglichkeit hat man sie beraubt. Und die kommende Wut richtet sich nun leider (vielleicht) gegen innen. Auch sehr schade.
Lilienthal verlässt München: Traumbild
Heute Nacht erschien mir Matthias Lilienthal im Traum. Hoch zu Ross, auf einem strahlend weißen Pferd, ist er in Berlin eingeritten und wurde als Retter der Volksbühne wärmstens empfangen und gefeiert. (...) Im Nachhinein ein paar kritische Worte an die Adresse seiner Kritiker - nun ja, wer will im das verdenken?
Lilienthal verlässt München: vom Regen in die Traufe
#8: Würde Matthias Lilienthal die Leitung der "neuen volksbühne" von Chris Dercon und Marietta Piekenbrock übernehmen, käme man vom "Regen in die Traufe".

Liebe Verantwortliche, bitte wählen Sie für dieses Haus am Rosa Luxemburg Platz keine weiteren nicht geeigneten Personen aus. Berlin braucht wieder ein herausragendes Theater und Haus in dem neben einem - derzeit zerstörten - Ensemble- und Repertoirebetrieb auch andere Kunstformen zur Geltung kommen - wie in den letzten 25 Jahren - und kein zweites Hau oder Kampnagel.
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