Rohrspatz und Raubvogel

von Cornelia Fiedler

Bonn, 22. März 2018. Strahlend blauer Himmel ist mitunter nicht echt, sondern nur eine täuschende Spiegelung in einer Fensterscheibe. Und dann geht alles ganz schnell: ein dumpfer überlauter Schlag, ein blutiger Fleck auf der Scheibe, ein kleiner toter Vogelkörper fällt zu Boden. Genauso sieht auf der Bühne der Kammerspiele Bad Godesberg ein Suizid aus: ein Knall, eine Blutkapsel zerplatzt am Fensterglas, ein Körper sackt leblos nieder.

Schlag, Blutfleck, lebloser Körper

Glasscheiben gibt es genug in Sandra Strunz' Inszenierung von "Jeder stirbt für sich allein“ – genau genommen kaum etwas anderes. Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt hat aus Fenstern in allen Größen eine kreisrunde, in Stufen aufsteigende, rotierende Käfigwand konstruiert. Auch an fatalen Täuschungen und zerstörten Hoffnungen mangelt es nicht in der Theateradaption von Hans Falladas Gesellschaftsporträt aus dem Berlin der 1940er Jahre. Die Jüdin Lore Rosenthal beispielsweise, gespielt von Alois Reinhardt, nimmt sich das Leben, als die eigenen Nachbarn ihre Wohnung plündern und ihr die Gestapo auf den Hals hetzen. Kommissar Escherich (Wilhelm Eilers) wird es ihr später gleich tun, wenn er begreift, dass sein kriminalistischer Jagdtrieb mit Anna und Otto Quangel die beiden einzig Aufrechten in einer Masse von NS-Mitläufer*innen und Täter*innen an Messer geliefert hat: Schlag, Blutfleck, lebloser Körper.

Jeder Stirbt 560 ThiloBeu uWie Vögel an Glasscheiben: Sylvana Krappatsch als Anna Quangel und Matthias Breitenbach als Otto Quangel © ThiloBeu

Diese Quangels, Falladas Hauptfiguren, waren ursprünglich keine Oppositionellen. Er war Tischler und in der Deutschen Arbeitsfront aktiv, sie in der NS-Frauenschaft. Doch nach dem Tod ihres Sohnes an der Westfront fingen die beiden im Jahr 1940 an, auf handgeschriebenen Postkarten zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime aufzurufen.

Für die Widerstandsaktionen des Ehepaars Quangel gab es reale Vorbilder. Fallada schrieb "Jeder stirbt für sich allein", seinen letzten Roman, 1946 auf der Basis von Prozessakten. Die hatte ihm Johannes R. Becher, damals Präsident des neu gegründeten "Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" vermittelt. Die Akten dokumentieren die Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung der Widerstandskämpfer*innen Otto Hampel und seiner Ehefrau Elise.

Swing-Choreographien der Angst

Es sind kurze, schlaglichtartige Szenen und überzeichnete Typen, die Sandra Strunz und ihre Dramaturgin Viola Hasselberg aus dem 600-Seiten-Roman extrahiert haben. Gespielt wird verzerrt körperlich, in größtmöglicher Distanz etwa zum hölzernen Realismus der Verfilmung von 2016 mit Emma Thompson und Brendan Gleeson. In den besten Momenten entstehen so verunsichernde Swing-Choreographien der Angst, in den schwächeren allerdings eher unklares Gezappel.

Auch hier kehrt das Vogelthema wieder. Die Körper scheinen das Misstrauen, die Angst, das Denunziantentum internalisiert zu haben. Ein Scharren und Kratzen, Flattern und Kopfrucken begleitet fast jede Szene. Die Gewalt hat sich derweil in die Sprache geschlichen: selbst Alltagsdialoge poltern unkontrollierbar hart und laut durch das Glashaus. Getragen werden die Szenen vom Live-Sound der Musiker Karsten und Rainer Süßmilch. Sie singen unter anderem Nazi- und Soldatenschlager wie "Der gute Kamerad" und das "Horst-Wessel-Lied". Und sie tun das mit so verführerisch traurigschönen Stimmen, dass dem Publikum ganz mitläuferisch ums Herz wird.

Jeder Stirbt 560a ThiloBeu uDer Jäger lauert: Alois Reinhardt (Obergruppenführer Prall), dahinter: Johanna Falckner (Polizist), Matthias Breitenbach (Otto Quangel), Wilhelm Eilers (Kommissar Escherich) © Thilo Beu

Komisch verstörende Höhepunkte sind die Auftritte von Alois Reinhardt als SS-Obergruppenführer Prall. Mit verwaschener Aussprache, anfallartigem Cartoon-Geschnarre und -Gekrächze, lauerndem Blick und getanzten Flattersprüngen wirkt er wie die Inkarnation eines volltrunkenen Straßennazis als Raubvogel, gezeichnet von Art Spiegelman. An dessen KZ-Graphic-Novel "Maus" erinnern ohnehin einige Regiesetzungen, die Comic-Ästhetik ist hier aber nicht konsequent durchgezogen. Gerade die Quangels, Sylvana Krappatsch und Matthias Breitenbach, Rohrspatz und Uhu vielleicht, bleiben in ihrer Spielhaltung unklarer und weniger verfremdet als die Nebenrollen.

Am Ende müssen sie dafür, isoliert eingesperrt in zwei Gitterkäfige aus Spotlight und Bühnennebel, Widerstands- und Liebespathos versprühen. Angesichts der Realität in NS-Foltergefängnissen wirkt das seltsam unbedarft. Es ist auch unnötig, genau wie der beschönigende Schluss bei Fallada. Die Angst vor der Todesstrafe, die Versuche, sich durch Beschuldigungen und Gnadengesuche zu retten, die in der realen Akte Hampel verbrieft sind, schmälern schließlich nicht deren Taten und deren Mut.

 

Jeder stirbt für sich allein
nach dem Roman von Hans Fallada
Regie: Sandra Strunz, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Karsten Süßmilch, Rainer Süßmilch, Licht: Max Karbe, Dramaturgie: Viola Hasselberg
Mit: Sylvana Krappatsch, Matthias Breitenbach, Johanna Falckner, Wilhelm Eilers, Daniel Gawlowski, Holger Kraft, Alois Reinhardt, Rainer Süßmilch.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-bonn.de

 

Kritikenrundschau

"Sandra Strunz lässt die Musiker Karsten und Rainer Süßmilch elegische Töne anschlagen, bringt Mozart und Horst-Wessel-Lied, erfindet groteske szenische Überspitzungen und addiert tanztheaterhafte Miniaturen", schreibt Dietmar Kanthak im General Anzeiger (24.03.2018). "Strunz' effektübervoller Zugang zum Kern des Romans baut Distanz zwischen Theaterfiguren und Publikum auf. Die Mittel dienen häufig nicht dem Zweck, sondern sind sich selbst genug." Und weiter: "Der Theaterabend könnte kürzer sein und konzentrierter. So konkurrieren Längen und pantomimischer Leerlauf mit schauspielerischen Glanzlichtern."

Kommentare  
Jeder stirbt, Bonn: einprägsam
Wie diese Inszenierung die Geschichte erzählt, ist überwältigend und bedrückend. Sie bringt den Abend zu seiner außergewöhnlichen Wirkung. Diese kommt vom unterschiedlichen Auftreten und Agieren der Figuren, ihrem abrupten oder geschmeidigen Gegeneinander und Miteinander, ihren Bewegungen, Schritten, Sprüngen, ihrem Klettern, Fallen, Tanzen. Atemberaubend, eindringlich, einprägsam. Das ist begleitet und eingebettet von Klängen, dem Trommeln, Summen, den Filmmelodien, Konzertausschnitte, teils auf verschiedene Weise durch Karsten und Rainer Süßmilch instrumentiert, teils eingespielt. Den beklemmenden Eindruck verstärken die schwarzen Kostüme der Todesengel, die matte Beleuchtung, plötzlich durch kurzes grelles Scheinwerferlicht unterbrochen. Sinnbilder vermitteln die zeitgeschichtlichen Verhältnisse, wie die mit dreiwinkeligen Hakenkreuzen gezeichneten Gaze-Kostüme, oder der durchsichtige Glaskasten, einem Gewächshaus ähnlich, mit offenen Fenstern auf einer Drehbühne. Herausragend ist Sylvana Krappatsch als Anna Quangel in ihrem Leiden, Schmerz, ihrer Verzweiflung, Hilflosigkeit, Entschlossenheit, ausgedrückt in atemberaubenden Stellungen, Hängen, Krümmen, Stürzen, Starre. Und auf seine Weise ausdrucksstark Matthias Breitenbach als ihr Mann Otto, trotzig, entschlossen, behutsam.
Den gleichnamigen 668 Seiten umfassenden Roman von Hans Fallada hat Sandra Strunz mit Viola Hasselberg auf das vorliegende Stück mit 50 Seiten reduzierend bearbeitet und inszeniert. In der Spielzeit 2014/15 hatte sie in Bonn „Hiob“ und in der Spielzeit 2016/17 „Buddenbrooks“ inszeniert. Alle drei Arbeiten werden in Bonn einen bleibenden Eindruck von vorzüglichen, relevanten Aufführungen hinterlassen. Gleichwohl stellen sich aus gegebenem Anlass Fragen. Können die drei Aufführungen als „politisches Theater“ gelten können? Die Stücke handeln von Politik. Allerdings mehr oder minder ausgeprägt nur als atmosphärische Erscheinung. Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ist 1947 erschienen, ein Jahr vor Sartres „Die schmutzigen Hände“. Eine inhaltliche Ähnlichkeit der Problematik ist bemerkbar. Und damit die mögliche Frage, was geht uns das an? Beides ist vorgestrige Zeitgeschichte. Ein generationsspezifischer Erinnerungsabend? Der Autor hat das Großdeutsche Reich in einigen seiner Facetten als Kind noch erlebt. Ihn berühren die Bilder der Aufführung daher auf eigene Art. Und wie erleben ihn die mittlere und die junge Generation der Besucher?
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