Dancer in the Dark - Am Thalia Theater Hamburg adaptiert Bastian Kraft den Film von Lars von Trier auf einer dunklen Bühne
Schlaglichter auf scheue Wesen
von Katrin Ullmann
Hamburg, 28. März 2018. Es ist die Kamera. Sie rückt einen nah an das Geschehen ran. Näher, als man es womöglich möchte. Und sie drängt Bilder auf, die man ohne sie gar nicht sehen könnte. Schließlich ist die Bühne stockdunkel, zumindest im ersten Teil der Inszenierung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler bewegen sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch diese Nachtschwärze, steigen in ein geparktes Auto, schieben ein quietschendes Fahrrad, öffnen einen Spind oder verstauen eine Brotdose im Schulranzen. In kurzen, schlaglichtartigen Sequenzen werden die musikalisch untermalten Mini-Szenen beleuchtet. Dazwischen ist es wieder dunkel. Dark. Zu sehen ist, was die Nachtsichtkamera filmt, es wird zeitgleich auf fünf Bildschirme projiziert (Video: Jonas Link; Live-Kamera: Malwine Mangold-Volk).
Sekundenkurze Einblicke ins Leben gehetzter Wesen
Diesem Konzept bleibt Regisseur Bastian Kraft im ersten Teil der Inszenierung enervierend treu: Seine Version von "Dancer in the Dark", die er am Thalia in der Gaußstraße auf die Bühne gebracht hat, ist zunächst ein Dialog im Dunkeln. Und was einst die Handkamera in Lars von Triers vielfach ausgezeichnetem Melodram vermochte, gelingt auch hier: Die Aufnahmen intensivieren die Fühlbarkeit des Unglücks, das die Protagonistin ereilen wird.
Oft sind es nur kleine Gesten, die den Figurendialog auf der Bildschirmebene begleiten, schmale, zittrige Finger, die Geldscheine zählen und sie sorgfältig in einer Bonbondose verstauen. Eine Hand, die dem eingeschlafenen Kind behutsam die Brille von der Nase nimmt, ein tastender Schritt, ein verlegener Tanz. Oft erscheinen die Gesichter der Schauspieler gar nicht oder nur kurz im gewählten Bildausschnitt. Dann flackert ein nervöser Blick auf – surreal entfremdet durch die farblose Ästhetik der Nachtsichtkamera.
Es sind Schwarzweißbilder, die versuchen, die Lebensweise von gehetzten, selten gesichteten Wesen zu dokumentieren. Einzelne Schlaglichter, sekundenkurz wie Filmschnitte, beleuchten immer wieder die sparsamen Settings im Raum. Eine Couch meint ein Wohnzimmer, Szenenwechsel, eine Maschine erzählt von der Metallfabrik, Szenenwechsel, ein Umkleidespind berichtet vom Feierabend, Szenenwechsel, eine Hollywoodschaukel von vermeintlich unbeschwerten Momenten bei den Nachbarn im Garten.
Vom Kunstkonzept zum Hyperrealismus
Die Bühne, die Peter Baur, entworfen hat, gleicht bei Licht besehen einem spröden Filmset, das erst durch die Kameraperspektive Atmosphäre erfährt und durch die darin agierenden Schauspieler eine Geschichte entfaltet. Lisa Hagmeister spielt Selma. Jene tschechische Auswanderin, die in den USA der sechziger Jahre ihr Glück versucht. Die an einer unaufhaltsam voranschreitenden Erblindung leidet. Auch ihr Sohn Gene wird unweigerlich erblinden und so spart sie ihr weniges, bitter verdientes Geld für seine rettende Operation. Dass sie dem scheinbar wohlhabenden Nachbarn Bill (Oliver Mallison) jenes Lebensgeheimnis anvertraut, und er ihr im Gegenzug seines, wird für beide zum tödlichen Verhängnis.
Gleich in den eingangs irritierend kurzen Szenen, gelingt Lisa Hagmeister eine enorm vielschichtige Figurenzeichnung. Mit brüchiger Stimme, die nach außen hin Sorglosigkeit behauptet, und mit nur wenigen, unruhigen Gesten zeichnet sie eine mit sich ringende Protagonistin. Schnell vergisst man den moralischen Gestus, die pathetische Selbstaufgabe, die dieser Figur ebenfalls innewohnen. Diese Selma kämpft sich tapfer durch eine lebensfeindliche Realität, durch Armut und Ausweglosigkeit. Hagmeisters Spiel ist hingebungsvoll, verinnerlicht.
Gleichberechtigte Mit- und Gegenspieler findet sie in Victoria Trauttmansdorff als Freundin und Kollegin Kathy genauso wie in Sandra Flubacher als Linda (und später als Gefängniswärterin Brenda). Allein die männlichen Darsteller – neben Oliver Mallison ist Paul Schröder als Jeff und als Live-Musiker zu erleben – sind schrecklich blass. Mechanisch und stichwortartig irren ihre Texte und Gesten durch den Raum, verleihen der anfänglichen Nachtschwärze manchmal fast laienhafte Hörspielatmosphäre.
Für die spätere Gerichtsverhandlung, für Gefängnis und Erhängung löst sich Bastian Kraft leider von seinem starken, filmischen Konzept. Dann gibt’s einen Raum mit Funzellicht und eine schalldichte Box als Zelle, aus der selbst die Musical-leidenschaftliche Selma kein Lied mehr hervorbringt. Es scheint als suche der Regisseur einen Ausweg aus seinem eigenen Kunstkonzept. Und landet dabei geradewegs im rührseligen Hyperrealismus. Ein schwacher Abspann. Ganz ohne Düsternis.
Dancer in the Dark
von Patrick Elisworth nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier
Regie: Bastian Kraft, Musik: Fabian Ristau, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Video: Jonas Link, Dramaturgie: Christina Bellingen, Live-Kamera: Malwine Mangold-Volk.
Mit: Sandra Flubacher (Linda / Brenda), Lisa Hagmeister (Selma), Oliver Mallison (Bill), Paul Schröder (Jeff, Live-Musik), Victoria Trauttmansdorff (Kathy), David Hofner / Rasmus Meyer-Loos (Gene).
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Bastian Kraft setze auf Reduktion, bemerkt Katja Weise vom NDR (29.3.2018). "Wie Kraft es schafft, Selmas Welt zu zeigen, ist ein technisches Wunder, und wie er insbesondere die Möglichkeiten der Licht-Gestaltung ausschöpft, überaus bemerkenswert." Lisa Hagmeister sei eine Idealbesetzung für die Selma: "zart und doch zäh, verwundet und doch kraftvoll". Sie trage diesen Abend, "der zu Tränen rührt, obwohl er so karg erzählt wird".
"Manche Regieeinfälle sind so beschränkt, dass die Ausführenden eigentlich nur kapitulieren können. Zum Beispiel die Idee, die Bühnenadaption von Lars von Triers Film 'Dancer in the Dark' über eine erblindende Frau die längste Zeit in völliger Dunkelheit spielen zu lassen", poltert Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2018), um den Abend dann doch als gerettet zu beschreiben: gerettet durch einen "Seiltanz auf den Stimmbändern". Schon immer sei Lisa Hagmeisters Kehlenklang aus Zerbrechlichkeit und Trotz ihr Markenzeichen gewesen. "Aber selten war ihre Stimme so alleinverantwortlich dafür, bedrohten Träumen Kraft zu geben, wie in dieser künstlichen Nacht der verlorenen Schatten."
Für Maike Schiller vom Hamburger Abendblatt (31.3.2018) geht Krafts Konzept auf. "Hier wird der Mut zum Unkonventionellen belohnt, die Idee erschließt sich und sie schenkt dem kräftezehrenden Theaterabend eben jenes Eigene, Unverwechselbare, eine Erfahrungsebene, die über die bloße Nacherzählung der (allerdings emotional ohnehin starken) Filmgeschichte hinausgeht." Lisa Hagmeister zeige eine geradezu schmerzhafte Freundlichkeit und Naivität, eine Zerbrechlichkeit und gleichzeitige Sturheit und bei alldem eine Fähigkeit zur Loyalität über jegliche Vernunft hinaus.
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