Kopfgucken

von Tobias Prüwer

Leipzig, 31. März 2018. Wiedergängerei am Schauspiel Leipzig. Einmal mehr rückt Philipp Preuss einem Ibsen mit massivem Handkameraeinsatz zu Leibe. Der Leipziger Hausregisseur mixt dessen "Gespenster" mit Daniel Paul Schrebers autobiografischen "Denkwürdigkeiten eine Nervenkranken", warum? Vielleicht um etwas Lokalkolorit beizusteuern. Der über seine Psychosen Bericht gebende Schreber war Leipziger. Preuss konzentriert sich auf den Wahn und versucht, Parallelen zwischen Schreber und Ibsens Oswald zu fabrizieren.

Verschreberter Ibsen

Nachdem Robert Borgmann vor sechs Jahren die Familie Alving mit ihren Gespenstern am Schauspiel Leipzig ansehnlich im Meer des Verdrängten ertrinken ließ, ist diese Perspektive eigentlich keine schlechte Idee. Preuss nimmt den Dreiakter als bloße Rahmenhandlung für hineingeschnittene Schreber-Passagen. Gewiss, auch hier geht das Waisenhaus, das dem verstorbenen Vater als Denkmal dienen sollte, in Flammen auf. Ebenso haben der Pfarrer und Helene Alving sexuelle Kontakte, bricht Oswald in geistiger Umnachtung zusammen. Aber die Familienaufstellung interessiert Preuss nicht.

gespenster3 560 rolf arnold uAugeschlossen aus der Welt in Oswaldens Kopf: das Ensemble  © Rolf Arnold

Im vorgeschalteten Prolog wird man in die Gedankenwelt des Daniel Paul Schreber eingeführt. Er war der Sohn des Orthopäden Moritz Schreber, nach dem die Kleingartenbewegung benannt wurde. Weniger bekannt ist sein Wirken als Vertreter der Schwarzen Pädagogik. Drill und Prügel hielt er für selbstverständlich, seine Zöglinge sollten ihn als gottgleich betrachten. An alptraumhaften Apparaturen musste Sohn Daniel stramme Haltung einüben. Seine Memoiren sollten Psychiater für Generationen beschäftigen; und nun soll auch das Leipziger Publikum seine Schreber-Lektion lernen. Dem Mäandern über Sonnenstrahlen und sprachlose Vögel, semitische und arische Götter und solipsistische Schöpfungsrechtfertigung zu folgen, ist kompliziert. Bloß erhellt es weder Schrebers Innenleben noch jenes von Oswald.

Leere Effekte

Auch der Einsatz von Projektionen vermittels der Aufnahmen einer Handkamera überzeugt wenig. An die visuelle Strategie hat man sich bei Preuss gewöhnt, aber während die Kamera in seinem sinisteren Sommernachtstraum als ästhetisches Mittel unverzichtbar und in seinem etwas zähen Peer Gynt wenigstens von sinnlicher Wucht war, wirkt sie in "Gespenster" nur wie eine Masche. Heimsuchungen durch Projektionen? Ja sicher, Gespenst steht im Lateinischen (spectrum) auch für Bild und Erscheinung, aber das rechtfertigt die Kamera noch nicht. Wenn im dritten Akt ein riesiger Luftballon auf der Bühne erscheint und darauf das Gesicht Oswalds projiziert wird, illustriert das die Regieidee – Kopfkino! – aber ohne dramaturgischen oder ästhetischen Mehrwert.

gespenster2 560 rolf arnold uTilo Krügel, Markus Lerch, Anna Keil, Denis Petković, Julia Preuß im brennenden Leipziger Ibsen-Schrebergarten
© Rolf Arnold

Dabei schafft Preuss immer wieder schöne Bilder zwischen den Durststrecken. Besonders eindrücklich ist der Schluss des zweiten Akts, der in die Pause überleitet. Die Kulisse brennt. Auf der Drehbühne pendeln die vier aneinander gesetzten, fast identischen bürgerlichen Wohnstuben am Zuschauerauge vorbei. Aus den Ritzen der Wandvertäfelung steigt Rauch auf. Wie in Rage schleppt das Hausmädchen Regine Sektflaschen herbei, lässt Korken und Schaum spritzen, Oswald tut es ihr gleich. Nach zwei Dutzend "Plops" rekelt sie sich auf seinem Schoß sektdurchnässt. Wilder und verzerrter noch spielt das Live-Streicher-Quintett auf – und erstirbt. Leise singen alle Schauspieler am Bühnenrand aufgestellt "relax, it’s only a ghost" von Phantom Ghost. Langsam verlassen sie die weiter leer drehende Bühne, ihre Stimmen entfernen sich von der Hinterbühne, das Licht erlischt. Da Publikum ist in die Sitze gedrückt.

In Spektakel verwandelt 

Wo die Schauspielenden Gelegenheit bekommen, die Textflächen nicht nur zu illustrieren, ist ihrem Spiel einiges abzugewinnen. Zu Beginn werden sie alle von merkwürdigen gestischen Zuckungen heimgesucht und zappeln in gymnastikähnlichen Übungen – vielleicht eine Anspielung an den Orthopäden Schreber? Immerhin grotesk-kurzweilig. Sehr schön fällt ihr Vogelstimmengezwitscher aus: Zu Sperling-, Raben- und Uhurufen bewegen sie die Münder und tun, als ob sie ein, zwei, drei Vöglein wären. In solchen Momenten ist die Inszenierung bei sich und wird vom guten Ensemble auch getragen. Bis dann die Handkamera den intensiven Moment wieder zerstäubt.

Noch dazu nervt einmal mehr ein intellektuell munitioniertes Programmheft: Natürlich fehlt nicht das Zitat aus Jacques Derridas "Marx’ Gespenster", auf Joseph Vogl und dessen "Gespenst des Kapitals" ist die Dramaturgie jedoch nicht gekommen, obwohl eine Zeit "aus den Fugen" behauptet wird. Die Lücken des Drei-Stunden-Abends schließt oder überbrückt aber auch das gelehrte Klappern nicht, wo ohnehin die ganze Inszenierung des Wahnsinns Behauptung bleibt. Wieso rückt da dem Rezensenten ein Zitat aus Roger Behrens "Kulturindustrie" in den Sinn? "Die alten Gespenster der bürgerlichen Gesellschaft haben sich in große und kleine Spektakel verwandelt."

 

Gespenster oder Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
nach Henrik Ibsen / Daniel Paul Schreber
Regie: Philipp Preuss, Bühne & Kostüme: Ramallah Aubrecht, Live-Video: Konny Keller, Musik: Kornelius Heidebrecht, Dramaturgie: Christin Ihle, Licht: Carsten Rüger.
Mit: Ellen Hellwig, Anna Keil, Andreas Keller, Tilo Krügel, Markus Lerch, Denis Petković, Felix Axel Preißler, Julia Preuß sowie Stefanie Bühler, Tara Horvat, Inara Jumabekova, Philipp Rohmer, Anne-Sarah Schmitt als Levitation String Ensemble
Team.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Bernhard Doppler von Deutschlandfunk Kultur (1.4.2018) sah "eine radikale, aber sehr einleuchtende Lesart von Ibsens Familiendrama". Der Theaterabend spiele sich im Kopf eines geistig Zerrütteten ab. "Die Nerven als Akteure: Das vermag die Inszenierung von Philipp Preuss eindrücklich zu bebildern." Ibsens Figuren blieben durchaus kenntlich. Das gut eingespielte Ensemble führe aber vor allem eine Choreographie über nicht abzuschüttelnde Familiengespenster und fanatische 'Schwarzer Pädagogik' des Körpers vor. "Beklemmend und gruselig."

Eine "gespenstische, denkwürdige" Inszenierung sei Philipp Preuss gelungen, schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (3.4.2018). Mithilfe Daniel Paul Schrebers "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" lasse Preuss Ibsens Stück "wurmstichig" werden. "Der Wahnsinn gibt die Perspektive vor." Mit einer Musik "wie Mehltau" ergäben sich "faszinierende An- und Innensichten eines Gespensts in einer Gespensterwelt".

 

 

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