"Erschießt mich!"

von Gabi Hift

Berlin, 9. April 2018. Das Eröffnungswochenende des FIND Festivals an der Schaubühne war diesmal ein echter Glücksfall. Die vier Stücke schienen miteinander zu sprechen, aufeinander zu reagieren. So müssen die Dichterwettstreite im alten Griechenland gewesen sein, auch hier gab es drei Tragödien und ein Satyrspiel. Das Thema war, wie man am besten aus eigenen Gewalterfahrungen in der Kindheit politisches Theater machen könne – die vier Regisseur*innen sind alle in den 60er Jahren geboren, das Verhältnis von privat zu politisch wurde sehr unterschiedlich gesehen, es gab sehr unterschiedliche ästhetische Konzepte – wobei alle vier sich als Linke begreifen.

Drill in der Schule

In "Kind of" erzählt die aus Israel stammende Regisseurin Ofira Henig von ihrer eigenen Kindheit. Sie zeigt den Drill in einer Schulklasse, kurz nach dem Sechstagekrieg, parallel dazu erklärt der Hausmeister der Schule, wie man Kampfhunde ausbilde. So wie deren Beißinstinkte geweckt werden sollen, würden auch die Kinder zu rassistischen Hassern dressiert, zu "neuen Juden". Bei Henings alter Ego allerdings (gespielt von Lani Shahaf) wirken diese Mechanismen scheinbar nicht. Sie ist und bleibt ein hochanständiges Kind, beobachtet von außen, was mit den anderen passiert und versucht es sich zu erklären. Wieso wirken eigentlich die Maßnahmen der Lehrer bei ihr nicht, fragt man sich, gehört sie zu einer anderen Spezies?

Kindof 560 Ofira Henig u"Kind of" von Ofira Henig © Ofira Henig

Und diese ihre Außenseiterposition ist auch die Crux des Stücks: es hat nichts darüber zu sagen, wie ein derartiger Drill die Seele im Inneren deformiert (wie es zum Beispiel Musil im "Zögling Törless" eindringlich schildert). Ofira Henig ist eine hochpolitische Person. Wegen ihrer Weigerung in den besetzten Gebieten aufzutreten, wurde ihr die Leitung ihrer Theatertruppe entzogen. Ihr Anliegen, aufzuzeigen, dass Schulerziehung, in einem System das seinen Mitgliedern jegliche Toleranz gegenüber dem Fremden und Anderen auszutreiben sucht, funktioniert wie Hundedressur, ist zweifellos wichtig. Aber man erfährt nichts Neues, die Aufführung berührt nicht, man denkt: ja, es ist wirklich schrecklich, und holt sich ein Bier.

Darauf folgt in jeglicher Hinsicht das Gegenprogramm. Tentakel porn!

Auftritt Angélica Liddell im goldenen Paillettenkleid, sie verkündet: "Man kann seiner Herkunft nicht entkommen", setzt sich auf eine Tischkante, zieht das Kleid hoch, spreizt ihre nackte Vulva dem Publikum ins Gesicht und schreit: "Ich suche einen Mann, der mich f...t, während meine Mutter stirbt, wenn mein Vater stirbt, egal wie abstoßend mein Körper dann sein wird, einen, der mich nimmt, während ihre Leichen noch lauwarm sind." Sie legt los mit einem fulminanten Wutrap über ihre Herkunft: ein Dorf in Katalonien, bewohnt von brutalen Zurückgebliebenen, je nach Situation Vergewaltiger und Vergewaltigte, getrieben von primitiver Gier, geknechtet und berauscht vom Katholizismus.

Sie selbst wird vergewaltigt, quält Tiere, sehnt sich nach Gott, entwickelt eine Faszination durch Gewalt, wie sie sonst nur Männer haben dürfen, Bataille, Genet, Artaud, Nitsch. "¿Qué haré yo con esta espada?"– Was wird sie – eine Frau – mit diesem Schwert machen? Sie ist besessen vom Kannibalen Issei Sagawa, der 1981 in Paris seine Kommilitonin kochte und verspeiste, nachdem er sich von ihr ein Gedicht von Trakl hatte vorlesen lassen.

Liddell 560 Luca del Pia u"¿Qué haré yo con esta espada?" von Angélica Liddell © Luca del Pia

Acht junge Mädchen treten auf, so jung, dass man kaum wagt hinzusehen, als sie sich nach wenigen Augenblicken ausziehen, die nächsten fünf Stunden sind sie nackt. Alle sind sie weiß, blonde Haare bis zur Taillie, der Traum jedes Pädophilen, gerade erblüht, – Botticelli, Raffael, Klimt – kann irgendjemand leugnen, dass das pure Schönheit ist? Die Techniken des Wegschauens, die das Publikum versucht, werden unterlaufen – denn zwei sind eineiige Zwillinge, man kann nicht anders, man muss genau hinsehen um Unterschiede zwischen ihren Körpern zu finden. Und eines der Mädchen hat am ansonsten makellosen Körper eine Narbe am Bauch, da muss ein Schnitt gewesen sein, man ist gezwungen an die Geschichte vom Kannibalen zu denken, es ist entsetzlich, dann das hier sind fast noch Kinder, in ihrer sanften Jugendstilschönheit erscheinen ihre Körper kitschig – bis sie beginnen sich grotesk zu verrenken, manche heben die Beine im vollen Lotus verschränkt über den Kopf, Vulva zum Publikum.

Drei japanische Männer und eine Geisha treten auf, und chanten das Herzsutra: Han-ia- ha-ra-mi-ta-shin---- yo-ho- Form ist Leere, Leere ist Form. Ein glitschiges Etwas taucht auf, dann zwei, dann drei, dann halten alle Mädchen ein solches schreckliches Wesen vor der Brust: es sind über ein Meter lange Oktopusse. Die Mädchen beginnen sich auf alle erdenklichen Arten mit den Fangarmen zu befriedigen, sie führen sie ein, schleudern sie durch die Luft, ziehen sie sich durch die Möse, bestialischer Gestank breitet sich im Zuschauerraum aus, eine setzt sich so ein Vieh als Perücke auf, rosa hängen ihr Zöpfe mit Saugnäpfen ums süße Gesicht, Gretchen und Medusa, eine Orgie aus Trash, ekelhaft, billig, exploitation porn, purer Sex, alle sinken auf einen Haufen, formen einen riesigen Oktopus aus rosigen Mädchengliedern, daraus steigt das Trakl Gedicht auf – und nun bringt ein Japaner den (authentischen) Monolog des Kannibalen. Pause.

Kate Tempest kann einpacken

Teil 1 war ein Triumph, nun kommt Liddells Abstieg in den Wahnsinn. Am 10. November 2015, erzählt sie, ist sie von Japan nach Paris zurückgekehrt. Zermürbt und angewidert von ihren Gewaltphantasien und von ihrem Wunsch nach Liebe wollte sie sich umbringen. Schreibt es in ihr Tagebuch. Am 13. November: das Bataclan Massaker. Sie ist sicher: das hat sie ausgelöst. Gott hat ihre Tagebücher gelesen und sie umgesetzt. Sie erzählt das als Schrei, als Gesang, als Rap. Sie ist die vermutlich beste vocal performerin unserer Zeit. in der Tradition von Ginsbergs "Howl", von Meredith Monk, Laurie Anderson, alles aus der Tiefe der Eingeweide, jede Faser ihres Körpers beteiligt, besser als Kate Tempest – ein schauspielerisches Ereignis.

Sie tritt vors Publikum, breitet die Arme aus und ruft: "Erschießt mich!". Das ist beklemmend, man bekommt Angst, irgendein Gestörter im Publikum könnte sie beim Wort nehmen. Ist das die Strafe dafür, wenn sich eine Frau in den imaginären Bereich des Bösen vorwagt? Können nur Männer mit politischen Erkenntnissen aus dem eigenen Seelenschlamm auftauchen? Frauen hingegen werden davon einsam und krank?

Teil 3: Sie tritt in einem Faschingskostüm mit aufgedrucktem Skelett auf, schmeißt sich mit einer Publikumsbeschimpfung à la Lenny Bruce an die Rampe: "Nichts beleidigt euch mehr als die Seele! Was soll man tun um euch Gefühle zurückzugeben?" Sie schimpft und flucht über alle, die ihr vorwerfen, sie sei nicht politisch genug, sie parodiert, was alle wollen: poliiiitico, poliiitico, sie will nicht mehr politisch sein, nur noch Mystik interessiert sie: "el horror del mi amorrrr".

Rueckkehr nach Reims Manchester International Festival 560 Arno Declair 4182 u"Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon in der Inszenierung von Thomas Ostermeier
© Arno Declair

Dagegen tritt der Hausherr Thomas Ostermeier mit seiner – zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladenen – Inszenierung von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" an (Hier unsere Kritik der Uraufführung in Manchester). Es ist faszinierend wie Eribon in diesem Kontext direkt auf Liddell zu antworten scheint. Auch er erzählt von einer Kindheit in einer gewalttätigen Familie, auch er beginnt mit dem Tod des Vaters. Aber anders als Liddell, die mit der Behauptung beginnt, man könne seiner Herkunft nicht entkommen, ist Eribon genau das gelungen. Als einziger aus seiner ganzen Umgebung hat er eine höhere Schule besucht, ist nach Paris auf die Uni gegangen und hat seine Eltern zwanzig Jahre lang nicht besucht.

Tief drinnen die Scham

Auf der Bühne ist ein Synchronstudio aufgebaut – ein Regisseur (Ostermeier nachempfunden) hat einen Film zusammengeschnitten und Nina Hoss spricht nun Eribons Text als voice over ein. Dabei spricht sie sehr leise und unaufgeregt, fast als würde sie jedem Zuhörer einzeln ins Ohr flüstern. Ihr sanfter Ton passt zu Eribons Beschreibung, es habe ihn "eine starke Melancholie erfasst".

Ostermeier hat in einem Interview gesagt, er habe sich Eribon sehr nahe gefühlt, weil er selbst aus der Arbeiterklasse komme – und weil ihn sein eigener Vater mit dem Gürtel geschlagen habe. Melancholie? Es ist wohl eher so, dass die Maxime hier Zurückhaltung beim etwaigen Ausstellen privater Gefühle ist. Eribon spricht davon, wie er die Scham homosexuell zu sein in einem langen Prozess abgelegt hat, wie er gerade wegen seinem Schwulsein nicht dazugepasst hat, und das hat es ihm ermöglicht zu entkommen. Aber die Scham erscheint wie ein Fremdkörper in einem Inneren zu sein, von dem man ansonsten nicht viel erfährt. Er kommt schnell zum Allgemeinen: alle, die früher Kommunisten waren, wählen nun Front national. Die Anbindung ans Private erleichtert es den Zuschauern mit seinen soziologischen Überlegungen mitzugehen. Einmal fragt er sich, ob er wie sein großer Bruder geworden wäre, wenn er zu Hause geblieben wäre. Aber da steht nur die Frage - und ohne dass er ihr nachginge, kommt ein neuer Absatz.

Rodrigo Garcías "Evel Knievel contra Macbeth na terra do finado Humberto"

Rodrigo García liefert in diesem Wettstreit das Satyrspiel, quasi außer Konkurrenz. Zwar heißt es am Anfang: "Könnte man alle Traumata, die ich von meinen Eltern habe, aus meiner DNA löschen!", aber bei ihm werden die Phantasmen bloß zu absurdem Blödsinn verquirlt: Orson Welles ist in einem Loop aus seinem Macbeth-Film hängen geblieben und will Brasilien zerstören. Das Mangamonster Neronga kommt aus Japan um ihn gemeinsam mit Evel Knievel, einem Motorradstuntman, zur Strecke zu bringen. Demosthenes und Lysias sind auch da und kommentieren die Kämpfe. Das ist streckenweise ziemlich lustig, zwei junge Frauen und ein vielleicht zehnjähriger Bub prügeln in Pappmachékostümen aufeinander ein, dahinter quietschbunte Kurosawa Dream Videos, der Bub ist ein Xylophonvirtuose, und es gibt auch ein paar gute Gags: Orson Welles will doch Geld verdienen, er steigt ins Eiscremebusiness ein, produziert hyperrealistisches Schleckeis, das aussieht wie Füße mit Fußpilz, Darmschlingen oder verfettete Herzen. Danach wird er Bestatter für Zwerge und baut Morris Minis zu Sarkophagen um. Aber der anarchische Spaß hält sich in Grenzen – mehr als freundliches Lächeln löst er nicht aus.

evelknevel 560 Marc Ginot uRodrigo García: Evel Knievel contra Macbeth na terra do finado Humberto © Marc Ginot

Für den Sieg des Wettstreits kommen nur Ostermeier oder Liddell in Frage. Und wie man als Zuschauerin entscheidet, hängt davon ab, ob man an die alte These glaubt, dass nicht nur das Politische aus dem Privaten abgeleitet werden kann, sondern dass es auch die Aufgabe der Kunst ist, einem den Blick in die Abgründe des eigenen Inneren zu ermöglichen. Veränderung müsse – so dachten die 68er – innen und außen gleichzeitig stattfinden. Beide Inszenierungen sehen übrigens keinen Ausweg – und beide meinen nicht in völliger Düsternis enden zu können. Deshalb haben beide, die bis kurz vor Schluss ästhetisch stringent sind – wenn auch auf diametral verschiedene Weise – sich eine mildes und nicht besonders gut dazu passendes Ende angeklebt.

Bei zwei Inszenierungen scheint es, dass das Innenleben als Untersuchungsort für das Böse wieder tabu ist, das Böse darf – wahrscheinlich nach 9/11– nur noch außen wahrgenommen werden, der Deckel der black box Seele ist wieder zugefallen. Es gibt aber sicher auch viele Zuschauer, die sich von der Aggressivität einer Angélica Liddell belästigt fühlen und die sich in der Inszenierung von "Rückkehr nach Reims" weit persönlicher angesprochen fühlen. Gerade die Gegenüberstellung dieser Konzepte war jedenfalls hochinteressant und man wünscht sich mit allen Machern gemeinsam weiterzudiskutieren.


KIND OF
Konzept und Regie: Ofira Henig Visuelle Gestaltung: Roni Toren Kostüme: Annie Atedgy
Ton: Ido Manor Licht: Rafael Ovadia
Mit: Yussef Abu-Warda, Maya Omaia Keesh, Sheeri Chen, Yiftach Mizrahi, Khalifa Natour, Salwa Nakkara, Lani Shahaf, Dana Sorin, Yossi Zabari und Ulrich Hoppe.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

¿Qué haré yo con esta espada?
Regie, Bühne und Kostüme: Angélica Liddell
Licht: Carlos Marquerie, David Benito, Ton: Sandra Vicente, Produktion: Iaquinandi S.L., Koproduktion: Festival d’Avignon.
Mit: Victoria Aime, Louise Arcangioli, Alain Bressand, Paola Cabello Schoenmakers, Sarah Cabello Schoenmakers, Lola Cordón, Marie Delgado Trujillo, Greta García, Estíbaliz Racionero Balsera, Lucía Yenes, Angélica Liddell, Gumersindo Puche, Taira Irie, Masanori Kikuzawa, Ichiro Sugae, Kazan Tachimoto.
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen

Evel Knievel contra Macbeth na terra do finado Humberto
Regie und Bühne: Rodrigo García
Mit: Núria Lloansi, Inge Van Bruystegem, Gabriel Ferreira Caldas.
Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause

Rückkehr nach Reims
nach Didier Eribon
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Mitarbeit Bühne: Doreen Back, Musik: Nils Ostendorf, Sounddesign: Jochen Jezussek, Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Maja Zade, Licht: Erich Schneider, Filmregie: Sébastien Dupouey, Thomas Ostermeier, Kamera: Sébastien Dupouey, Marcus Lenz, Marie Sanchez, Filmschnitt: Sébastien Dupouey, Originalton Film: Peter Carstens, Robert Nabholz, Archivrecherche Film: Laure Comte, BAGAGE (Sonja Heitman, Uschi Feldges), Videotechnik Film: Jake Witlen, Sabrina Brückner, Produktionsleitung Film: Stefan Nagel / Annette Poehlmann.
Mit: Nina Hoss, Bush Moukarzel / Sebastian Schwarz / Hans-Jochen Wagner, Ali Gadema / Renato Schuch.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

 

Kritikenrundschau

Patrick Wildermann schreibt im Tagesspiegel (online 7.4.2018, 18:30 Uhr):  Angélica Liddell sei nicht als "Zimperliese" bekannt, ihre "Drastik" allerdings wirke "tatsächlich kaum je selbstzweckhaft". An einen "domestizierten Gewalttrieb" glaube die Künstlerin nicht. Was sie in "teils fulminanten Tiraden" auch kundtue. Die Künstlerin zeige sich auf der Höhe "ihrer Power". "Qué haré yo con esta espada?" sei ein "strapaziöses, aber lohnendes Exerzitium", weil Liddell in ihrem "misanthropischen", aber "sehr moralischen Furor" gegen die "Entwertung der Begriffe" 'Gott', 'Schönheit' und 'Liebe' die "Balance aus biblischem Pathos und finsterem Humor" finde.

Doris Meierhenrich schreibt in der Berliner Zeitung (online 8.4.2018, 19:18 Uhr): Angélica Liddell und Rodrigo García hielten es mit Artaud, der die Pest ins Theater bringen wollte: "jene Kopf und Körper sprengende Krankheit, an der die Welt sich nicht wärmt, sondern leidet." Liddels und Garcías Theater bringe sich "schonungslos immer wieder selbst in Aufruhr", genauso wie den "weltlichen Grund, den es tanzend unter sich zu zerstampfen" suche: Beider Thema sei der in "Tugendschein gehüllte Konformismus unserer Zeit". García forme mit "kindlicher Clownerie" eine "fantastische Bühnen-Video-Collage". Liddells Fünfstundenmesse dagegen zelebriere mit "ikonografisch aufgeladenen Lust- und Schmerzensritualen und vielen furiosen Sprech-Sing-Soli" ein Theater der Grausamkeit. Mit "pseudofeministischem 'Metoo'-Kokolores" halte sich Liddell nicht auf. Bei ihr gehe es um "Terror- und Unterwerfungswünsche", die nicht wegzumoralisieren seien, sondern "als reale Kräfte verstanden und in eine Form gebracht gehören". Sich "selbst auf- und entladenden Ritualen" und "anarchische Wuttiraden" würden an diesem "unendlichen Abend immer wieder durchexerziert und exorziert". Eine Tortur, die sich lohne.

Peter Laudenbach schreibt hinter dem Paywall der Süddeutschen Zeitung (9.4.2018): Texte und Choreografien der Aufführung wimmelten von "Fantasien von zerstückelten, verspeisten, in einem erotisch aufgeladenen Gewaltexzess zerstörten und einverleibten Körpern". Liddell zeige "demonstrativ aggressiv ihre auseinander gespreizten Schamlippen, als seien sie die Pforten zu einer anderen Welt". Das sei "natürlich" "Schwarze-Romantik-Kitsch" und in "der Geste der lustvoll zelebrierten Verruchtheit nicht frei von Narzissmus" wie "böse und hemmungslos" ihre "kostbaren Obsessionen" seien. Das Versprechen, das Liddell mitliefere, klinge: "Der absolute Terror kann uns von allen Ängsten befreien." Angesichts der "realen Opfer realer Terrorakte ist diese rohe Botschaft mehr als obszön", und genau das solle sie "vermutlich" auch sein. Umstandslos schließe Liddell ihre "Tagebuch-Fantasien" mit den Terroranschlägen kurz: "Bei schwächeren Regisseuren wäre das schwer erträglich oder unfreiwillig komisch." Liddells "Hassmonologe" seien "jedoch" von "enormer Kraft, ihre Choreografien von betörender Schönheit und Fremdheit".

 

 

Kommentare  
FIND, Berlin: Highlight
Es freut mich, dass sich das einst recht harmlos begonnene F.I.N.D. zu einem Berliner Jahreshighlight entwickelt hat, das inzwischen immer einen ungeplanten Höhepunkt der internationalen Werkschau zu bieten hat. Wo beim Kuratieren eine Auswahl getroffen wirdt, die irgendwie anders zustande zu kommen scheint, als das bei anderen Theaterfestivals der Fall ist. Wo Nicht-Erfolge nicht gescheut und TheatermacherInnen auch über längere Jahre neugierig bei der Entwicklung ihrer Arbeit, immer wieder bei ihnen nach-schauend, begleitet werden. So hat man doch das Gefühl, mit seinem pensionierten Kanon nicht aus der Jetzt-Zeit zu fallen, weil etwas weitergeht ohne dass man sich schämem muss, auch den Kanon nicht vernachlässigen zu können oder nicht missen zu wollen. Liddell ist mir unbedingt zu aggressiv Obsession zeigend. Auch wenn sie keine Frau wäre, die sich ihrer üblicherweise männlich zugeordneten, ausgelebten Phantasmen aggressiv nicht schämen will. - Trotzdem: Prima! Danke, Volksbühne!
FIND, Berlin: Befehle in "Kind of"
Mich hat sehr berührt, dass die Schülerinnen in "kind of" auf Arabisch nur Befehlssätze lernen. Ich kann ebenso gut verstehen, dass man einem Drill ausgesetzt wird und als Kind diesen als falsch oder unfair empfindet. Das Alter Ego von Ofira Henig hat für mich sehr gut funktioniert. Sie hat genau diesen Menschen eine Stimme gegeben, die die Dinge mit Distanz betrachten. Als Erstes fällt mir Viktor E. Frankl "trotzdem ja zum Leben sagen ein". In "kind of" wird über eine Maßnahme erzählt, die absolut verständlich ist, nach der Erfahrung des Nazi-Terrors und dann doch in die falsche Richtung geführt hat.
FIND, Berlin: durchgeknallt + verkopft
Rodrigo Garcías "Evel Knievel contra Macbeth..." ist eine Feier des Trashs. Dieses Potpourri ist sinnfrei und ziemlich duchgeknallt. Konsequenterweise endet es mit einem hysterischen Anfall einer Schauspielerin, die auf ihre Kollegin einkreischt: „Was hast Du mit meiner Bratwurst gemacht?“

Die Fans des argentinisch-spanischen Regisseurs Rodrigo García bejubelten dieses Gastspiel beim F.I.N.D.-Festival der Schaubühne. Der Rest wunderte sich achselzuckend über diese Produktion, mit der sich García als Direktor des Theaters von Montpellier verabschiedete.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/12/evel-knievel-contra-macbeth-rodrigo-garcia-feiert-bei-find-den-trash/

Eine düstere Reise unternimmt der kanadisch-libanesische Regisseur Wajdi Mouwad in seinem Stück „Inflammation du verbe vivre“, das er 2016 an seinem Théâtre national de la Colline in Paris produzierte. Ausgangspunkt ist eine doppelte Krise: er bekommt das „Philoktet“-Drama des Sophokles nicht zu fassen, das er neu inszenieren möchte. Außerdem trauert er um seinen Freund Robert Davreau, der die Tragödie neu übersetzen sollte und kurz zuvor gestorben ist.

Seine Assoziationen führen ihn nach Athen auf dem Höhepunkt der Euro-Krise. Plakativ werden verzweifelte Jugendliche eingespielt, die sich entweder ins Nachtleben oder in den Suizid stürzen. Die Bilder aus dem krisenhaften Athen werden mit Motiven wie dem Hades aus der griechischen Mythologie collagiert.

Das Regiekonzept von Wajdi Mouwads mehr als zweistündigem Abend ist so verkopft wie anstrengend. Ästhetisch bemerkenswert ist jedoch, wie Mouawad immer wieder aus dem Film, der an die Rückwand projiziert wird, aussteigt und live auf der Bühne mit dem Filmmaterial interagiert.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/12/inflammation-du-verbe-vivre-duestere-reise-ins-krisengeschuettelte-griechenland/
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