Verhaltene Vernebeltheit

von Christian Rakow

Berlin, 13. April 2018. "Er büßt seine Sünden, indem er sich einpinkelt", heißt es einmal über den am Boden liegenden Fremden. Und plötzlich beginnt der Text zu schweben. "Gehen Sie nicht woandershin pinkeln. Pinkeln Sie hier. Hier, in diesem geheimen Zimmer", feuert der Hausbesitzer Hermann den Fremden an, das Zimmer und mit ihm das Andenken seines Kolonialvaters urinierend zu reinigen. "Wie ihr seht, ist der Sinn dieser Handlung ein Fall von extremer Afrikanität. Die Vorstellung, auf Tote zu pinkeln."

Rätselhafte Verhältnisse

Hermann alias Oliver Kraushaar hat seine gut sitzende Geldaristokraten-Fliege geöffnet, legt sie leicht über die Schulter. Und für Momente meint man zu erahnen, wie mit dieser Szene ein echtes Happening ausbrechen könnte, ein Drift ins Rituelle und Physische. Aus diversen Festivalberichten eilt dem Autor und Regisseur dieser Inszenierung, Dieudonné Niangouna, durchaus der Ruf voraus, unbändig assoziatives, geheimnisvolles, "dreckiges" Theaters zu erschaffen.

Phantom1a 560 Matthias Horn uFamilienaufstellung: Patrick Güldenberg, Bettina Hoppe, Oliver Kraushaar, Josefin Platt
© Matthias Horn

An diesem Abend aber ist das anders. "Phantom", ein Auftragswerk für das Berliner Ensemble, versagt sich jedweden performativen Aufschwung. Niangouna erzählt mit großer Zurückhaltung die Geschichte einer Familie Zoller, die in einem Herrenhaus im Schwarzwald lebt. Die Verhältnisse der Bewohner – Geschwister und ein Sohn – sind rätselhaft. Mit dem Eintreffen des Fremden werden sie peu à peu aufgeklärt: Der Eindringling namens Thomas Herg kennt die Älteste des Hauses, Martha, aus früherer Zeit im Kamerun und bedrängt sie nun mit Liebesgeständnissen.

Mehr darf man eigentlich nicht verraten, weil die kolonialkritische Erzählung von der Plot-Spannung lebt (und es sei entschieden von der Lektüre des Programmzettels abgeraten, wo bereits alles, restlos alles über die Geschichte verraten wird). In seiner verhaltenen Vernebeltheit erinnert "Phantom" an Stücke, wie sie Roland Schimmelpfennig vorlegt. Und auch die gediegene Frontalerzählweise passt bestens in diese Traditionslinie.

Erleuchtetes Denken, reinigende Rituale

Auf einer provisorisch anmutenden Bauholzkisten-Bühne gibt Josefin Platt die resolute, auf Etikette bedachte Familienälteste Martha, mit teils fast plastinierter Künstlichkeit, die erst in einer lässig realistischen Reprise abgelegt wird. Wolfgang Michael schlurft als Fremder mit der Abgerissenheit des Clochards herein, dabei gleichwohl umweht von einer Zartheit, als sei er von einem unsichtbaren Gazevorhang umfangen. Magisch erleuchtetes Denken und reinigende Rituale hat er im Gepäck ("Es gibt nur eine einzige wirkliche Rückkehr für den Menschen. Das Bad in den Eingeweiden des Vaters.") Wobei es bei Andeutungen bleibt. Atmosphärische Geräuschkulissen, teils mit fragmentierten afrikanischen Rhythmen unterlegt (Komposition: Pierre Lambla, Armel Malonga), und Videos (von Sean Hart) mit Nebelschwaden und Laubbäumen grundieren das Geschehen.

Phantom3a 560 Matthias Horn uWelches Phantom wird hier gejagt? Bettina Hoppe, Josefin Platt, Wolfgang Michael, Oliver Kraushaar © Matthias Horn

Um die beiden Rivalen und/oder Liebenden Martha und Thomas herum platziert Niangouna die Geschwister Maria und Hermann und legt ihnen manch humorvolle oder zeitgeistige Note in den Mund, mitunter auch bloß Erklärbärhaftes zur Machart des Stücks. Was Bettina Hoppe und Oliver Kraushaar souverän und mit minimalem Augenzwinkern meistern. Als Zugabe gibt’s Patrick Güldenberg als Junior Kevin, der entfernt etwas von einem Tschechow‘schen Weltverbesserungstollpatsch hat, aber auch wirklich nur entfernt.

Es geht an diesem Abend viel um Nashörner, von denen es heißt, ihre Hörner steigerten die Potenz. Weshalb Wilderer ihnen nachjagen. Ins große diskursive Horn hat der Abend dabei freilich nicht gestoßen, und performativ dreist gewildert wurde auch nicht.

 

Phantom
von Dieudonné Niangouna
aus dem Französischen von Isolde Schmitt
Regie und Bühne: Dieudonné Niangouna, Kostüme: Alvie Bitémo, Komposition: Pierre Lambla, Armel Malonga, Video: Sean Hart, Übersetzung und Dolmetschen: Isolde Schmitt, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Josefin Platt, Bettina Hoppe, Oliver Kraushaar, Patrick Güldenberg, Wolfgang Michael.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Mehr über Dieudonné Niangouna: Esther Boldt hat den afrikanischen Theatermacher und seine Truppe Compagnie Les Bruits de la Rue 2016 am Frankfurter Mousonturm genauer beobachtet.

Kritikenrundschau

Barbara Behrendt bespricht die Inszenierung auf der Website des Deutschlandfunks (14.4.2018):  Es werde "viel und in großen Metaphern" gesprochen. "Große, überdeutliche Sprachbilder" zitiere Niangouna. Der Plot indes sei "verworren". Mühsam suche man sich die "Einzelteile der Geschichte zusammen", die deutschen Schauspieler wollten "nicht recht zu Niangounas Sprache passen". Die Figuren agierten als "bloße Motivträger, hoch artifiziell, unendlich weit weg vom Zuschauer". Seinem Ruf als "anarchischer, bildstarker Theatermacher" werde Niangouna nicht gerecht. Emotional bleibe man an diesem Abend "außen vor".

"Anders als allegorisch ist diese, nunja, theatrale Familienaufstellung kaum zu lesen", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (13.4.2018). Niangouna versuche "die Aktions-Reaktionslinien kolonialer Gewalt in einen inneren Kreislauf zu bringen", das gerate jedoch "zu überkonstruiert, wobei Niangouna dieses Konstrukt noch in halbes Illusionstheater auflösen will. Das funktioniert nicht", so Meierhenrich: "Abgesehen von dem schönen Bühnenbau, der den Reichtum des Familiensitzes in koloniale, sargähnliche Obstkisten-Architektur übersetzt, versenkt die unbeholfene Regie so den eigenen Text mit."

"Niangounas Theater ist eines der frei fabulierenden Rede, der assoziativen Monologe. Sein Autorentheater tritt auf, als kämpfe es unentwegt um sein Leben", schreibt Eberhard Spreng im Tagesspiegel (16.4.2018). Das Stück wolle mit seiner wilden Metaphorik weg von Dramaturgien, die sich mit Ibsen, Roland Schimmelpfennig oder Martin Crimp vergleichen ließen, raus aus dem Gefängnis einer Stadttheaterdramaturgie. "Aber im deutschen Ensembletheater, für das er hier erstmalig schrieb, kann seine Poesie nicht atmen."

Über die Geschichte und ihren möglichen Verlauf blende Dieudonné Niangouna "verschiedene mythische Erzählungen und unterschiedliche Sprechweisen, die das Geschehen verrätseln und in Sprachbilder von eigener Dynamik übersetzen", so fasst es Katrin Bettina Müller in der taz (17.4.2018). "Sie rücken das Verwischen der Spuren an die Stelle der Suche nach Erkenntnis." Die Schauspieler hätten bei diesem Text "etwas zu kämpfen". Dass Erstaunliche sei, dass diese Geschichte über den Kolonialismus und dessen Verdrängung "nicht von Weißen und Schwarzen handelt, sondern von der Zerstörung der Weißen untereinander".

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