#Wakingthefeminists war der Wendepunkt

19. April 2018. Seit Anfang der laufenden Spielzeit ist Selina Cartmell Intendantin des geschichtsträchtigen Gate Theatre in Dublin (wo u.a. Orson Welles seine Schauspielkarriere begann). Ihre Berufung fällt in eine Zeit, in der die irische Kulturszene sich seit 2015 unter dem Label #Wakingthefeminists selbstkritisch zum Thema Geschlechtergerechtigkeit befragt und zunehmend Frauen auf vorher vorwiegend männlich besetzte Leitungspositionen gelangen. Cartmell ist selbst Regisseurin – zu einer weiblichen Perspektive aufs Theatermachen, ihre Forderung nach einer Frauenquote und dem Erfolg von #Wakingthefeminists hat Sophie Diesselhorst sie befragt (read the interview in English here).

SelinaCartmell 280hf AgataStoinskaSelina Cartmell © Agata StoinskaSelina Cartmell, Ihre erste Spielzeit am Gate Theatre steht unter dem Motto "The Outsider". In einem Interview dazu sagten Sie, Sie wollten weibliche Stimmen stärken und den Kanon neu definieren, indem Sie ihn um großartige Theatermacherinnen bereichern. Warum haben Sie sich dieses Ziel gesetzt?

Es hat nie eine wichtigere oder vielversprechendere Zeit als jetzt gegeben, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Geschichten, Erfahrungen und Talente von Frauen zu richten. Ich arbeite seit 20 Jahren als freiberufliche Regisseurin, und seit ich nun in der privilegierten Lage bin, selber einen Spielplan zu machen, liegt der Akzent meiner künstlerischen Vision auf weiblichen Stimmen – wie eigentlich schon immer.

Was verändert sich, wenn mehr weibliche Stimmen dazukommen?

Die Hälfte der Weltbevölkerung ist weiblich. Das ist die Hälfte unseres Publikums! Aber die weibliche Perspektive ist in unserer Kulturgeschichte keineswegs in der Hälfte der Geschichten präsent. Was der verstärkte Fokus auf weibliche Stimmen also bringt, ist eine lange schon fällige Balance in den Geschichten, die wir auf der Bühne sehen, und den Stimmen, die diese Geschichten repräsentieren.

Wie nimmt das Publikum Ihre erste Spielzeit auf, werden die Produktionen eher politisch oder eher ästhetisch diskutiert?

Wir haben bisher sehr unterschiedliche Produktionen herausgebracht, ich habe eine auf einem Märchen von Hans Christian Andersen basierende Musical-Uraufführung von Nancy Harris inszeniert, Oonagh Murphy hat "Tribes" von Nina Raine inszeniert, bei "Look back in anger" von John Osborne, einem Stück über die Frauenfeindlichkeit der 50er Jahre, hatte Annabelle Comyn die Regie, Camille O'Sullivan hat als Regisseurin einen neuen Blick auf Shakespeares "Lukretia" geworfen. Jede Produktion hatte ein neues und einzigartiges Publikum, und die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Ich finde das gut, denn ich wünsche mir sowohl politische als auch ästhetische Diskussionen.

Wie lange braucht es nach jahrhundertelanger Ungleichheit, dass weibliche Regisseure und Dramatiker nicht mehr "The Outsider" im Theaterbetrieb sind?

Die Außenseiter-Perspektive hat ja auch Vorteile und bei Geschichtenerzählern aller Couleur eine lange Tradition. Viele Autoren, Regisseure und auch Schauspieler ziehen aus der Beobachter-Perspektive ihre größten künstlerischen Energien. Es ist ein Zeichen gesellschaftlicher Reife, wenn wir uns eingestehen, dass die einsame Stimme, die sich außerhalb der Gruppe erhebt, die ist, der wir zuhören wollen – und genau dieser Vorgang steht für mich im Zentrum des Theaters, er setzt Geschichten in Bewegung. Ich hoffe also, dass der Betrieb sich weiter öffnet und für Theatermacher*innen der Zukunft andere Bedingungen schafft, so dass sie sich freiwillig für die Außenseiter-Perspektive entscheiden können.

Wie einflussreich sind Rollenbilder im Theater – wieviel, glauben Sie, können stärkere, vielfältigere weibliche Charaktere auf der Bühne, weibliche Perspektiven von Regisseurinnen und Dramatikerinnen zur Veränderung gesellschaftlicher Geschlechterbilder beitragen?

Wir verstehen die Welt von Kindesalter an über Geschichten. Bücher, Familiengeschichten, Legenden, Mythen, Song Lyrics, Fernsehen, Filme – und die Geschichten, die wir auf der Bühne sehen. Natürlich vertiefen wir unser Verständnis, je vielfältiger die Geschichten über Frauen werden: Wir verstehen, dass es keinen Sinn macht, Qualitäten wie Stärke, Schönheit, Angst, das Böse, einseitig zu definieren. Sie kommen in vielen Erscheinungsbildern daher, männlichen und weiblichen, und je klarer das an Theaterfiguren wird, je vielfältiger sie sein dürfen, desto besser.

RedShoes 560 SteMurraySzenenfoto aus "Red Shoes" am Gate Theatre © Ste Murray

Im deutschsprachigen Theaterbetrieb werden rund 80 Prozent der Theater von Männern geleitet, es gibt eine Initiative, die eine Frauenquote für Theaterleiterinnen fordert. In Irland hat es unter dem Label #Wakingthefeminists ja bereits vor drei Jahren eine ähnliche Debatte gegeben ...

#WakingTheFeminists hat das irische Theaterleben in den letzten drei Jahren in der Tat auf den Kopf gestellt, und hat darüber hinaus Einfluss auf andere Bereiche wie Politik, Bildung, Film, Literatur gehabt. Ich glaube, dass Quoten eine wichtige und wirksame Methode sind, ein Ungleichgewicht anzugehen, und arbeite als Intendantin des Gate Theatre zusammen mit vielen anderen irischen Kulturinstitutionen daran mit, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen. Viele der besten irischen Theaterregisseurinnen sind übrigens Frauen: zum Beispiel Garry Hynes, Annabelle Comyn, Lynne Parker, Roisin McBrinn, Oonagh Murphy, Louise Lowe oder Grace Dyas. Aber es gibt viele weitere weibliche Stimmen, die gehört werden wollen, und wir machen es uns am Gate zur Aufgabe diese Entwicklung im Theaterbereich sehr sorgfältig zu begleiten. Zusammen mit anderen Institutionen der Darstellenden Künste in Irland arbeiten wir an Richtlinien für eine Quote für den Theaterbetrieb. Wie hoch soll die Quote sein, bis wann soll sie durchgesetzt sein? Diesen Sommer wollen wir erste Forderungen herausbringen.

Warum sind Sie so überzeugt von einer Frauenquote?

Eine Quote garantiert Fairness und Geschlechtergerechtigkeit auch für die Zukunft – wir arbeiten übrigens auch mit den Hochschulen und Universitäten zusammen. Denn unsere Bemühungen sollen auch für künftige Generationen wirksam und nachvollziehbar sein und nicht ohne weiteres wieder zunichte gemacht werden können. Natürlich brauchen Kunstinstitutionen gleichzeitig einen Spielraum, eine Flexibilität, um gut arbeiten zu können – auch mit dieser Anforderung müssen wir umgehen! Aber der Kulturwandel, der in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gerade stattfindet, ist so wichtig und so historisch, dass er unbedingt auf allen Entscheidungsebenen mitreflektiert werden muss.

Tribes 560 AgataStoinskaSzenenbild aus "Tribes" von Nina Raine © Agata Stoinska

Was hat sich durch #Wakingthefeminists bisher real verändert? Reicht es?

Enorm viel. Die Arbeitskultur verändert sich, und immer mehr Kulturorganisationen bemühen sich tatsächlich entschieden, ein Arbeitsumfeld herzustellen, in dem Menschenwürde und Diversität garantiert werden. Aber das reicht noch nicht, wir müssen sicherstellen, dass jede*r Mitarbeiter*in diesem System und seinem Wandel trauen und sich darauf verlassen kann und will, dass sich in seinem Arbeitsumfeld niemand ausgegrenzt oder bedroht fühlt – ohne die Vitalität, Leidenschaft, das künstlerische Risiko und die Unmittelbarkeit aufs Spiel zu setzen, die Kunstproduktion ganz wesentlich antreiben. Wir müssen also Strukturen bauen. Im Gate Theatre bemühen wir uns darum diese neuen Strukturen zusammen mit dem Mitarbeiter*innen zu entwickeln, bei denen wir mit dem Vorhaben offene Türen einrennen. Das Arbeitsumfeld ist schon wesentlich besser geworden – die Mitarbeiter*innen gewöhnen sich an Offenheit, Fairness, aber auch die Durchsetzung neuer Verhaltungsregeln und null Toleranz für grenzüberschreitendes Verhalten, das vorher akzeptiert wurde.

In Zuge von #MeToo gibt es Sexismus-Vorwürfe gegen Ihren Vorgänger als Intendant des Gate Theatre, Michael Colgan. Wie gehen Sie Ihren Mitarbeiter*innen gegenüber mit diesen Vorwürfen um?

Wir haben eine unabhängige Untersuchung zu den Vorgängen in Auftrag gegeben und alle ehemaligen und derzeitigen Mitarbeiter*innen des Gate Theatre darum gebeten, ihre Erfahrungen beizusteuern – selbstverständlich vertraulich. Wir haben uns für diesen Schritt entschieden, um aus den Vorfällen zu lernen und damit so etwas nie wieder passieren kann. Die Ergebnisse der Untersuchung haben wir veröffentlicht und in unseren Verhaltenskodex eingearbeitet, den jede*r Mitarbeiter*in in einem Handbuch erhält. Darin ist klar festgelegt, wo die Grenzen liegen und was Grenzüberschreitungen zur Folge haben. Für alle leitenden Angestellten gab es außerdem ein Training für den Umgang mit diesem Verhaltenskodex. Wir haben ihn allerdings nicht als Manifest an die große Glocke gehängt, weil solche öffentlichen Statements meiner Erfahrung nach Gefahr laufen, zu leeren Versprechen zu mutieren.

Selina Cartmell studierte in Dublin und Glasgow und arbeitet seit 20 Jahren als freie Regisseurin, vor allem in Irland. 2010/11 war sie Artist-In-Residence am Samuel Beckett Theatre in Dublin. Sie ist dreifache Preisträgerin des Irish Times Theatre Award. Seit 2017 leitet sie das Gate Theatre in Dublin.

 

Zum Nachlesen:

Die Ergebnisse der Untersuchung zu den Sexismus-Vorwürfen gegen Michael Colgan

Das Handbuch für Mitarbeiter*innen des Gate Theatre mit Verhaltenskodex

Die britische Tageszeitung The Guardian über Selina Cartmells erste Spielzeit am Gate Theatre

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