Das Messer im Herz der Familie

von Andrea Heinz

Wien, 14. April 2018. Es gibt in der Theatergeschichte ganz sicher erbaulichere Stücke als Eugene O’Neills (seine eigene Familie porträtierende) "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Es erzählt von einem Tag im Leben der Tyrones: Vater James, Schauspieler mit verblasstem Ruhm und veritablem Alkoholproblem, seine frömmelnde, morphinsüchtige Frau Mary und die beiden Söhne, der ebenfalls schwer trinkende Jamie und der tuberkulosekranke, einem guten Glas Whisky auch nicht abgeneigte Edmund, ergehen sich vom Frühstück bis spät in die Nacht in Vorwürfen, Beschimpfungen, Schuldzuweisungen, Selbstanklagen und konsumieren währenddessen diverse Suchtmittel. Dieses Stück kippt ungefiltert den ganzen Dreck auf den Bühnenboden, alle Schwäche und Tragik dieser verlorenen Existenzen, die es gerne besser machen würden, aber gefangen bleiben in der eigenen Geschichte: Vater James kann seine Kindheit in bitterer Armut, Mutter Mary den Tod ihres Sohnes Eugene nicht vergessen. Die Hölle, das ist hier die Familie.

Großes Schauspielertheater

In der Regie von Andrea Breth dauert der Abend am Wiener Burgtheater satte vier Stunden. Und eines muss man gleich vorweg sagen: Sie kann’s einfach. Es ist eine meditative, streckenweise fast elegische Inszenierung, auf die man sich einlassen wollen muss. Dann aber entfaltet dieser präzise, schmerzhaft genau beobachtende Abend eine enorme Sogwirkung.

Das liegt auch am Ensemble, dieser Abend ist großes Schauspielertheater. Corinna Kirchhoff gibt die Morphinistin Mary. Hält sich die Familie zu Beginn noch an der Illusion fest, die Mutter wäre nach einer Entziehungskur geheilt, kommt bald der umso heftigere Rückfall.

Eines langen Tages 280 97s"Mir fehlt doch nicht!" August Diehl, Corinna Kirchhoff, Sven-Eric Bechtolf  © Bernd Uhlig

Kirchhoff spielt das unglaublich gut, mit enormer Präsenz: Fahrig und unsicher streicht sie sich immer wieder die Haare zurecht, um im nächsten Moment mit überschnappender Stimme zu versichern: "Mir fehlt doch nichts!" Bald vergeht sie weinerlich in Selbstmitleid, bald schwatzt sie ihrem Hausmädchen (dem Andrea Wenzl in wenigen Auftritten viel Kontur und Persönlichkeit verleiht) ihre Lebensgeschichte auf. Je weiter sie wieder in die Sucht abgleitet, desto manipulativer, aber auch ätherischer wird diese Mary, bis sie nur noch wie ein Geist über die Bühne wandelt und in Kinderstimme mit sich selbst spricht.

Kein Zuhause in der Welt

Immer wieder beklagt sie sich, dass ihr Haus gar kein "richtiges Zuhause" sei – womit sie die Grundtragik dieses Stückes beschreibt: Alle Mitglieder der Familie Tyrone kranken daran, dass ihnen ihr Leben, ja diese ganze Welt, keine Heimat ist. (Womit das Stück auch eine sehr aktuelle Thematik berührt, die gefühlte Heimatlosigkeit im eigenen Land treibt ja gerade viele um und in ähnlich destruktives Verhalten.)

Konsequenterweise hat Andrea Breth den Figuren das Zuhause tatsächlich verweigert. Sie leben nicht, wie es O’Neill vorgab, in einer getreuen Abbildung des Sommerhauses seiner Kindheit, sie hausen vielmehr in einer düsteren, nebligen Endzeit-Landschaft. Der apart verlegte Parkettboden wird von einer schwarzen Wasserfläche geteilt, die die Figuren manchmal mit spritzenden Schritten überqueren. Überall liegen glänzende schwarze Findlinge herum, und am hinteren Bühnenrand ist das Skelett eines riesigen Wirbeltiers auszumachen.

Am Meer sitzt die Erinnerung

Nur ein paar Tische und Stühle geben die Anmutung von so etwas wie einer Behausung. Aber behaust ist hier niemand. Vater James nicht, den Sven-Eric Bechtolf als ewigen Spieler mit Hang zur Melodramatik gibt, Jamie nicht, der bei Alexander Fehling ein präpotenter Versager mit großer Pose und schweren Komplexen ist. Genau wie Mama Mary sind sie Narzissten, die es zwar im tiefsten Inneren gut meinen mit den Anderen, ihnen mit ihren wohlmeinenden Bekenntnissen und Selbstanklagen aber das Messer ins Herz rammen. Und dann noch herumbohren in der Wunde.

Eines langen Tages 560 BerndUhlig uAugust Diehl, Alexander Fehling, Corinna Kirchhoff und Sven-Eric Bechtolf spielen die zutiefst gestörte Familie Tyrone in Wien  © Bernd Uhlig

Anders ist nur Edmund, das Alter Ego des Autors. August Diehl hat sich diesen herzerwärmend freundlichen, manchmal fast naiven Edmund ganz anverwandelt. Er ist nicht so deformiert und kaputt wie die Anderen, selbst wenn er seinem Vater im Suff fast an die Gurgel geht. Er hört seinen egozentrischen Verwandten wohlwollend zu, auch dann noch, wenn er gerade die Diagnose "Schwindsucht" erhalten hat, sie aber nur über ihr eigenes Schicksal schwadronieren.

Ihm gehört der versöhnliche, schöne Schlussmoment, mit dem es Breth gelingt, diesem hoffnungslosen Text mit einem einfachen Dreh Zuversicht zu verleihen: Am Ende sitzt August Diehl alleine am Boden. Auf der Drehbühne bewegt sich das Skelett nach vorne, es entpuppt sich als Überrest eines Wals. Wellen rauschen, Diehl schaut versonnen ins Leere. Er sieht glücklich aus. Es gab kein Haus auf dieser Bühne, weil es von Anfang an nur in der Fantasie existierte. Dieser Edmund hat sich noch einmal zurückerinnert an seine bedrückenden Familienverhältnisse – aber er ist ihnen längst entkommen, er sitzt am Meer und hat seinen Frieden gefunden.

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O’Neill, Deutsch von Michael Walter
Regie: Andrea Breth, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Françoise Clavel, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Sven-Eric Bechtolf, Corinna Kirchhoff, Alexander Fehling, August Diehl, Andrea Wenzl.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Mit einem ungemeinen Reichtum an Stimmen und Nuancen habe Andrea Breth das Stück in Szene gesetzt, schreibt Ronald Pohl im Standard (16.4.2018). Jeder sei hier Sisyphos und schleppe schwer an der Familienlast. "Gerechtfertigter Jubel für alle Beteiligten."Mit einem ungemeinen Reichtum an Stimmen und Nuancen hat Andrea Breth "Eines langen Tages Reise in die Nacht" von Eugene O’Neill an der Wiener Burg in Szene gesetzt: ein Triumph realistischer Überhöhung - derstandard.at/2000077972092/Burgtheater-Mit-der-Dramenharpune-auf-Menschenfang

"An­drea Breth lässt das Fa­mi­li­en­dra­ma von ih­rem ex­qui­sit aus­ge­wähl­ten En­sem­ble mehr oder we­ni­ger vom Blatt spie­len", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.4.2018). Be­son­de­re Phan­ta­sie für die ein­zel­nen Sta­di­en des Ver­falls ent­wi­ckle sie nicht. Sie zeige "Schau­spie­ler­thea­ter im schnör­kel­los wört­li­chen, viel­leicht et­was zu we­nig ei­gen­ar­ti­gen Sinn" mit dem Ansatz, das Stück als Rhyth­mus­ein­heit von Wie­der­ho­lung und Va­ria­ti­on zu le­sen. "Das ein­drück­li­che Ge­schick des Abends besteht dar­in, dass er al­le Cha­rak­te­re in sei­nen Grau­sam­kei­ten und Wi­der­sprüch­lich­kei­ten ver­ste­hen will und kei­nen mo­ra­li­schen Wer­te­maß­stab an­setzt."

Auf Deutschlandfunk Kultur (14.4.2018) findet Reinhard Kager, dass Andrea Breth einen "sehr, sehr falschen Weg" gehe. Ihr Tonfall tue von hinten bis vorne so, "als handele es sich um eine antike Tragödie". Corinna Kirchhoff spreche die meiste Zeit, als gelte es eine Heroine wie Elektra zu verkörpern. "Das Problem dieses Abends bestünde auch darin, dass O'Neills Untergangsfantasie, sein Abgesang auf den amerikanischen Traum, gleich von Anfang an am Bühnenbild zu sehen sei." Momente, in denen die Tragödie der Figuren spürbar werde, gebe es zu wenige.

"Mitunter zähe Stunden", aber dennoch einen "starken Abend" erlebte Thomas Trenkler vom Kurier (15.04.2018). Breth habe sich ein exzellentes Ensemble zusammengestellt." Von Anfang mache die Regisseurin klar: "Die vier Figuren spielen Familie, sie stellen eine intakte Familie nur zur Schau. Nicht naturalistisch, nicht realistisch, sondern einen Dreh übertrieben, einen Tick zu laut – und mit der perfekten Artikulation der Radiomoderatoren. Wer jedes Wort verstehen will: Hier ist er richtig!"

"Vieles an diesem vierstündigen Theaterabend ist überaus gelungen." Breths Inszenierung wirke wie so oft zeitlos, weise weit über handwerkliche Perfektion hinaus. Dennoch wolle das avisierte Großereignis nicht ganz gelingen, schreibt Petra Paterno (16.4.2018) in der Wiener Zeitung. "Durch die strikten szenischen Anordnungen verengt sich gewissermaßen auch das Nachdenkfeld." Die Inszenierung mache sich ein wenig voreilig auf den Weg vom Düsteren ins Absolut-Düstere. Die Tragödie verliere im ersten Teil merklich an Halt, die Figuren spielten ins Leere, es fehle an Spannung. "So richtig in Fahrt kommt die Aufführung erst nach der Pause." Der Dramentext selbst entfaltet die Wucht eines antiken Dramas. "Bechtolf, Fehling und Diehl schenken einander nichts: Szenen zum Nicht-Sattsehen."

"Die Inszenierung ist ein schwerer Fall von Konversationstheater in extenso", findet Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.4.2018). "Sie verlangt einem große Geduld und Konzentration ab, Zuhörerqualitäten. Szenisch wird nicht viel geboten. Und wenn dann mal ein Telefon schrillt oder eine verzerrte Stimme aus dem Off ertönt, kriegt das gleich eine Riesenbedeutung. Die Figuren wirken auf der apokalyptischen Bühne wie letzte Überlebende. Verlorene Existenzen. Vielleicht sind es auch Gespenster." Das Stück sei "bester O'Neill, schlechtester Ibsen". Zu den Absonderlichkeiten dieses redselig ausgewalzten Abends gehöre, wie trocken er ist. "Dabei geht es um Rausch und Delirium."

 

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