Doppel Whopper, Sahnetorte

von Falk Schreiber

Hamburg, 14. April 2018. Joachim Lux bekennt sich zum Ensemble. "Ohne teuer eingekaufte Stars" will er Theater machen, verspricht der Intendant des Hamburger Thalia Theaters bei der Spielzeitpressekonferenz mit Blick auf die zeitgleich implodierende Berliner Volksbühne. Was interessant ist, steht doch nur einen Tag später die Premiere "Hänsel & Gretel" an, mit Till Lindemann, Sänger der international erfolgreichsten deutschsprachigen Rockband Rammstein, und wenn das kein teuer eingekaufter Star ist, dann weiß man auch nicht weiter.

"Die Geschicht' wohl jeder kennt"

Lindemann also führt mit onkelschnarrender Stimme in die Handlung ein (per vorbereiteter Video-Spur, denn die Mittel, einen Weltstar mit Live-Auftritt in den Repertoirebetrieb zu integrieren, hat man am Thalia dann doch nicht): "Liebe Kinder, groß und klein / Ein Märchen will begonnen sein / 'Hänsel & Gretel' es sich nennt / Die Geschicht' wohl jeder kennt." Ja, die Geschichte ist bekannt – Geschwisterpaar wird von den armen Eltern ausgesetzt, eine Hexe will den Jungen fressen, aber weil die Schwester auf Zack ist, landet am Ende die Hexe im Ofen.

Haensel und Gretel2 560 Matthias Matthies uGruselrocker Till Lindemann von Rammstein bittet die Kinder in den Hexenwald. Auf der Bühne: Kristof Van Boven und Marie Jung als Hänsel und Gretel © Matthias Mathies

Man kann das als Parabel auf Armut und soziale Verrohung lesen, wie Volker Lösch es 2010 mit Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg am benachbarten Deutschen Schauspielhaus Hamburg machte, aber das estnische Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo (vom NO99) interessiert sich eher für die freudsche Lesart: der Besuch bei der Hexe als Abstieg in dunkles Begehren, Fetisch, Folter und Kannibalismus als schillernder Lustgewinn. Bei Licht betrachtet ist das nicht wirklich originell, selbst Engelbert Humperdincks viel gespielte Märchenoper "Hänsel und Gretel" versteckt einen Fetisch-Aspekt in spätromantischer Harmlosigkeit, aber sie passt zur Verpflichtung Lindemanns, ist doch auch Rammsteins Grand Guignol meist ein (eher unsubtiler) Flirt mit dem Abgründigen.

Trailerpark-Groteske

Semper und Ojasoo also handeln den sozialen Aspekt der Geschichte schnell als Trailerpark-Groteske ab. Die Armut (die hier weniger materielle Armut als Wohlstandsverwahrlosung ist) wird so auf eine nicht besonders sympathische Weise denunziert, gleichzeitig aber geben die Familienszenen die ästhetische Spur des Abends vor: eine ziemlich ausgeklügelte Verschränkung von Video, Livefilm und gespielten Passagen. Den Figuren kommt man so bis auf die zentimeterdicke Schminke nahe, der verschorften Mutter (Gabriela Maria Schmeide), dem rattigen Vater (Tim Porath), Gretel (Marie Jung) mit schnabelhaftem Überbiss. Außerdem lässt sich durch die Videos auch regelmäßig Lindemann ins Geschehen hineinschneiden. Und der macht sich als Schauspieler der eher gröberen Art gar nicht schlecht.

Haensel und Gretel3 560 Matthias Matthies uTrashige Märchenstunde: Kristof van Boven und Marie Jung als Hänsel und Gretel © Matthias Matthies

Zumindest besser als als Musiker. Leider: Die den Abend strukturierenden Songs sind armselige Gruselschlager, elektronisch grundierte Pathoshymnen, die den ganz billigen Effekt suchen. Den sucht die Inszenierung allerdings auch und findet ihn in Björn Meyers Hexe, einerseits eine platte Tuntenkarikatur wie aus "Charleys Tante"-Zeiten, andererseits auch jemand, der ein orgiastisches Festmahl mit Tonnen von Fastfood zu veranstalten weiß, Doppel Whopper, Sahnetorte, alles da, gib dich hin! Diese Feeder-Hexe mit wogender Brust setzt einen hübschen Kontrapunkt zu Fit-for-fun-Körpernormierungen.

Auf die Orgie folgt der Kater

Nach zwei Stunden ist die Hexe gegrillt, und auf die Orgie folgt der Kater. Die Inszenierung schleppt sich noch über 30 Minuten weiter durch Märchenmotive, mit dröhnendem, drogenvernebeltem Kopf: Es ist nicht falsch, dass Semper und Ojasoo ihr bis dahin mitklatschseliges Schockmusical ausbremsen, dem massentauglichen Charakter des Vorangegangenen einen kleinen, ziellosen Albtraum entgegenstellen. Es ist nur leider auch ein wenig langweilig, den nackten Hänsel (Kristof van Boven, okay, er trägt einen Fatsuit) zu beobachten, wie er durch verschneite Wälder irrt und von einem gehäuteten Mäuschen (Rafael Stachowiak) zugetextet wird. Irgendwie findet Hänsel nicht mehr nach Hause, und die Inszenierung findet nicht so richtig zu einem Schluss, auch wenn er schon in Sichtweite ist.

Aber erzählt werden will hier ohnehin nichts mehr, und plötzlich sind die Geschwister doch bei ihren Eltern. Die sich überraschenderweise freuen, dass der zuvor ausgesetzte Nachwuchs wieder da ist. "Nun liebe Kinder, geht nach Hause", schnarrt Lindemann. Dann rät er dazu, dass man sich nicht verlaufen solle, und lacht irr. Schockeffekt, toll. "Hänsel & Gretel", ein Missverständnis.

 

Hänsel & Gretel
von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, nach den Brüdern Grimm
Regie, Bühne, Kostüme und Video: Ene-Liis Semper, Tiit Ojasoo, Songtexte und Gesang: Till Lindemann, Komposition: Jakob Juhkam, Till Lindemann, Peter Tägtgren, Clemens Wijers, Musikalische Leitung: Jakob Juhkam, Kamera: Martin Prinoth, Rasmus Rienecker, Lilli Thalgott, Lichtdesign, Bertil Mark, Associated Lightingdesign & Lightingdirector: Justus Molthan, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Kristof Van Boven, Marie Jung, Till Lindemann, Björn Meyer, Tim Porath, Gabriela Maria Schmeide, Rafael Stachowiak.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Von beeindruckender, wenngleich oft plakativer Wucht" seien die Bilder, die Semper und Ojasoo in ihrer "Rockoper-Variante" des grausamen Grimm’schen Märchens gegen Lindemanns Songs setzt, meint Katja Weise bei NDR Kultur (15.4.2018). "Formal kommen die Songtexte harmlos wie Kinderreime daher, doch den, der genau hinhört, schaudert es." Platt findet sie das Fressen bis zum Brechreiz im ersten Teil des Abends dennoch. Nach der Pause schicke das Regieduo Hänsel "auf eine Art Odyssee und spielt dabei mit Motiven aus anderen Märchen" – eine "Art Entwicklungsgeschichte", die Weise eher verwirrend findet. "Die Idee, Hänsel fett und fies werden zu lassen, trägt nicht besonders weit. Viel Beifall gab es trotzdem."

Als ein "Albtraum aus Bild, Video, Kostüm und Maske", beschreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (15.04.18) die Inszenierung. "'Hänsel & Gretel' will modernes Musik-Theater sein und bleibt doch mehr Video-Kunst als Theatererlebnis. Oberflächenverliebt. Und zugleich die eine oder andere Wahrheit verkündend." Das Ergebnis sei ein durchaus unterhaltendes, technisch sehr faszinierendes, am Ende aber doch ein wenig infantiles Pop-Märchenvergnügen.

Rasch abgehakt ist diese Märchen-Neuinszenierung für "stg" von der Welt (16.4.2018): Leben hauchten ihr auch die "schlecht gedichteten Lieder" nicht ein, Mitfühlen müsse man auch nicht. Kurz: "Diese Art von Multimedia-Performance-Projekt als plumpe Konsumkritik war Ende der Achtziger auf Kampnagel angesagt. Im Thalia Theater ist sie jetzt zu noch plumperem Bildergeflacker verkommen."

"Es wird sich her­um­spre­chen, dass man nicht we­gen oder trotz Lin­de­mann ins Tha­lia ge­hen soll­te, son­dern um Björn Mey­er als He­xe zu se­hen," schreibt Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.4.2018). "Die Re­gis­seu­re zeich­nen ge­mein­sam ver­ant­wort­lich auch für Büh­ne, Kos­tü­me und Film. Den Schwab­bel auf die Lei­ber der Schau­spie­ler brin­gen sie mit Ganz­kör­per­kos­tü­men, und die Mas­ke muss so viel mar­zi­pa­n­ähn­li­che Mas­se auf die Wan­gen auf­brin­gen, dass selbst die Ge­sich­ter spe­ckig aus­se­hen. Die Näh­te zwi­schen Na­tur und Schmink­kunst blei­ben ab­sicht­lich er­kenn­bar, ge­zeich­ne­te Blut­ge­rinn­sel und an­ge­kleb­te Na­sen er­zeu­gen ei­ne Art Hy­per­rea­lis­mus, der an Dua­ne Han­son oder den frü­hen En­vi­ron­ment-Künst­ler Ed­ward Kien­holz er­in­nert. Drei Stun­den kann man sich 'satt' se­hen an den grau­si­gen Bil­dern, sich das Fürch­ten vor sich selbst leh­ren las­sen. Nach neun­zig Mi­nu­ten und der Pau­se geht es al­ler­dings dra­ma­tur­gisch steil berg­ab."

"Die Uraufführung erweist sich als Pickelporno der leeren Versprechungen", formuliert es Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (18.4.2018). "'Hänsel und Gretel', nachgestellt mit denunziatorischen Figuren, ist weder ein Beitrag zum Thema Wohlstandsverwahrlosung noch zum Frustfressen oder zu kindlichen Verlassensängsten. Es ist, was hier in die Kindermünder gestopft wird: Junk. Leere Kunstkalorien, Effekte ohne Ende, Affekte ohne Nährwert."

 

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