Der alte Schinken - Am Schauspiel Frankfurt nehmen Nele Stuhler und Jan Koslowski das Bürgertum aufs Korn
Eisberg voraus
von Esther Boldt
Frankfurt, 15. April 2018. "Wie bunt ist das denn!" jubiliert Angelus Gottfried Barcomi. Er meint aber nicht die grellpinke Lobby mit den grasgrünen Details, sondern die illustre Gesellschaft, die sich in ihr versammelt hat. Da ist das Fräulein Detektiv, zu dieser Zeit noch undercover als Sekretärin Möhnle unterwegs. Da ist Klaus, der rasende Interior-Design-Reporter, zu diesem Zeitpunkt noch undercover als Page unterwegs. Da ist Michael Nikki de Gaona im Oldschool-Gehrock, der sich auf Urlaubsreise wähnt und alles Geschehen als Entertainment deutet. Da sind Erika Julia Hedwig Isegrim, die hier eine Soirée für den guten Zweck veranstalten möchte, und Kapitän Elisabeth Kolatschny-Mandelbaum, der das Ruder in die Hand nehmen will. Und da ist der Brotbäcker und -lieferant Barcomi, bei dem alles echte Handarbeit ist.
Was diese ungleichen Sechs zusammenführt, ist kein ungezähmter Zufall, sondern der Wille des Regie- und Autor*innenduos Nele Stuhler und Jan Koslowski. In den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt hat es sich einer vermeintlich aussterbenden Art angenommen: des Bürgertums.
Das Bürgertum als wandlungsfähige Art
Gemeinsam mit dem Ensemble haben die beiden ein Stück entwickelt: "Der alte Schinken". In bester Krimi-Manier treffen sechs Fremde an einem abgelegenen Ort aufeinander, um sich etwas zusammenzuraufen, kleine Geheimnisse aufzudecken und einen Mord aufzuklären. Denn Aufklärung, genau, um die geht es ja letztendlich immer!
Dabei ist der Mord sehr schnell sehr sekundär. Hohes Tempo und vorsätzliche Komik geben die Temperatur vor, hier geht es witzig-spritzig zu, es wird virtuos auf der Metaebene getänzelt und wohlklingend so manches Wortspiel verkloppt. Aufgehübscht mit flinken Tanzeinlagen werden die Eigenheiten des Bürgertums seziert: Fleißig ist es und heiter, es weiß um Anstand und Etikette, es pflegt die Pünktlichkeit ebenso wie das rechte Maß, es weiß, dass Leistung sich lohnt und kennt den Wert die einfachen Dinge – ein Knust vom frischgebackenen Brot beispielsweise mit guter Butter und gutem Salz! Allein beim Gedanken daran schmilzt Andreas Vöglers stocksteifer, vergnügungswilliger "Bibi" de Gaona dahin. Seit 1968 allerdings bemüht das Bürgertum sich um eine Prise Coolness, mit grasenden Schafen in der Lobby und Popsongs, passend zu jeder Lebenslage – wie Bob Marleys "One Drop", mit toternster Miene von der hochkomischen Melanie Straub angestimmt.
Wo bleibt die Aufklärung?!
Die Metabene groovt also, und die Selbstironie wetzt ihre Messer. Stuhler, die Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben studierte, und Koslowski, der ein Regiestudium absolvierte, haben sich an der Berliner Volksbühne kennengelernt und waren mit ihrer Inszenierung "Société des Amis – Tindermatch im Oderbruch" 2015 unter anderem beim Körber Studio Junge Regie in Hamburg zu Gast. Die geteilte Volksbühnen-Vergangenheit sieht man ihrem "Schinken" an, der Abend ist witzig und schnell, zitatensatt und klug. Stuhler und Koslowski schaffen es, ein Riesenthema ausgesprochen handlich wirken zu lassen, ohne es allzu eng zu fassen, und nebenbei elegant reichlich Gendertrouble aufzuwirbeln. Zum hochnotkomischen Finale – einem Maskenball, natürlich! – wird minutenlang abgetanzt: "Bibi" wagt einen kecken Hüftschwung, Erika Isegrim (Heidi Ecks) den gelegentlichen Ausfallschritt, und Kapitän "Medi" Mandelbaum (Christoph Pütthoff) scherzt: "Eisberg voraus!". Nur das Fräulein Detektiv (Anton Weil) verweigert sich aufgebracht dem Vergnügen, solange es keine Aufklärung gibt.
Auch wenn einem an diesem Abend ebenfalls dämmert, dass diese irgendwie gestrige und offenbar doch quicklebendige Spezies zugleich kleingeistig, hochtrabend und sehr selbstvergessen Weltkriege lostrat und ganze Kontinente gewaltsam unterwarf: "Der alte Schinken" bleibt schmerzfrei. Und das ist vollkommen in Ordnung – wirkt diese humoristische Dekonstruktion doch immerhin deutlich zeitgemäßer als der immergleiche, äh, bürgerliche Kanon. So dürfen am Ende der Kurzweil die Pet Shop Boys den Bürgerlichen eine letzte Liebeserklärung singen: "You are always on my mind ..."
Der alte Schinken
von Nele Stuhler und Jan Koslowski
Regie: Nele Stuhler, Jan Koslowski, Bühne: Chasper Bertschinger, Kostüme: Svenja Gassen, Animationen: Luis August Krawen, Dramaturgie: Konstantin Küspert, Licht: Frank Kraus.
Mit: Heiki Ecks, Christoph Pütthoff, Samuel Simon, Melanie Straub, Andreas Vögler, Anton Weil.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Gar nichts komme in Bewegung, klagt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (17.4.2018). "Kein Kalauer und kein Späßchen durfte zurückbleiben, jedes Ideechen musste flugs eingearbeitet werden, und so allmählich wird die Stimmung auf der Bühne erst karnevalistisch, dann hysterisch, und wer inzwischen aufgehört hat zu lachen, hat jetzt ein Problem, das noch eine ganze Weile andauern wird." Sie diagnostiziert dem Abend "eine Lustigkeit, die sich gut schützt, eine von der Macht der Ironie geschützte Lustigkeit". Immerhin: "Die Frankfurter Schauspieler aber waren länger nicht so beschwingt bei der Sache, so gewandt, so elastisch und auch so hingebungsvoll. Das hat eine deprimierende Note, wie sie ihre Möglichkeiten in einen so mageren Text versenken."
Nele Stuhler und Jan Koslowski ließen ihrem Ensemble ziemlich freien Lauf, spürten selbst die einfachsten Kalauer-Chancen auf und nutzten jede, aber auch jede Gelegenheit zum Slapstick. "Und weil es sechs gute Schauspieler sind, mag man das auch eine Weile gerne anschauen, jedenfalls dann, wenn man in der rechten Stimmung für diese Art von Spaß ist", schreibt Johannes Breckner vom Darmstädter Echo Online (17.04.2018). Jedoch: Die hier zelebrierten Späße reichten für zwei Stunden bei Weitem nicht aus. "Ziemlich oft tritt die Inszenierung auf der Stelle. Und man wartet und wartet darauf, dass Nele Stuhler und Jan Koslowski endlich zur Sache kommen."
Man solle nicht denken, dass das, was auf der Bühne zu sehen und zu hören sei, nicht witzig gewesen wäre. "Aber eben nicht so ungemein", schreibt Katja Sturm in der Frankfurter Neuen Presse (17.4.2018). "Dem Amüsement dient das stetig alberner werdende Geschehen irgendwann nicht mehr." Anderen beim Ausleben ihres Spieltriebs zuzuschauen, könne Spaß machen. Aber man müsse wissen, wann Schluss sei. "In dem Fall kommt der Abpfiff nach zwei Stunden eindeutig zu spät."
Nele Stuhler und Jan Koslowski griffen zu den grellsten verfügbaren Reizen, um die Sinnfreiheit ihrer Inszenierung zu übertünchen, poltert Claudia Schülke in der FAZ (17.4.2018). Der Text berge so viele Zitate aus dem bildungsbürgerlichen Fundus der vergangenen 200 Jahre, dass man nach knappen zwei Stunden ohne Pause völlig hirnerschöpft aus dieser Chaosbude wanke. "Immerhin können die Schauspieler zeigen, was sie gelernt haben: Sie tanzen, sprechen und interagieren famos. Nur wozu? Relevanz ist wohl kein Kriterium mehr für das postpostmoderne Theater, das sich aus belanglosen Versatzstücken der Pop-Kultur zusammensetzt."
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