Warum bringt Medea ihre Kinder um?

von Claude Bühler

Basel, 21. April 2018. Erst der Schattenwurf des Abseitigen erzeugt die dramatische Bühnenfigur. Wenn dazu wie bei Medea leidenschaftliche und naive Liebe, tiefe Verletztheit und eine überaus kraftvolle Persönlichkeit kommen, entsteht ein Mysterium, zu dem wir seit zweieinhalb tausend Jahren Erklärungen produzieren, die bruchstückhaft sind, Annäherungen bleiben müssen: Wir stecken, sozusagen, nicht in Medeas Haut.

Hinweise

Euripides, der der Königstochter Medea den Mord an den eigenen Kindern andichtete, gibt eine ganze Reihe von Hinweisen. Da ist zunächst mal ihr Mann, der kühl denkende Grieche Jason, der sie aus Karrierekalkül betrügt und Glauke, die Tochter des Machthabers, heiraten will. Und dies nachdem Medea ihm aus dem Kaukasus (Kolchis) folgte, die eigene Familie verriet, ihren Bruder tötete, als Zauberin das Heiligtum des Goldenen Vlieses für die Griechen raubte.

Sie hat alles aufgegeben, ihre Heimat örtlich, sozial und religiös verloren. Die Korinther grenzen sie als "Wilde" aus. So MUSS ihr Verhältnis zu den beiden Kindern, die sie mit Jason hat, ein ambivalentes sein, müssen diese Teil jener Welt sein, die für sie zusammengebrochen ist.

medea 11 560 sandra then uIm Kinderzimmer, in dem gleich der Kindermord geschehen wird: Barbara Horvath, Jacob Baumann, Nils Treuer  © Sandra Then

Auf Bezüge und Hintergründe müssen wir jedoch in der Dramenversion von Kate Mulvany und Anne-Louise Sarks weitgehend verzichten. Sarks befindet im Programmheft, keine "Medea"-Adaption, die sie gelesen habe, zeige Mitgefühl mit der Hauptfigur. Auch nicht die von Euripides. Das ist mindestens eine kühne Behauptung.

Mitgefühl

Weniger kühn ist Sarks Alternative. Da ist nichts weiter als eine liebe "Mama" der Jetztzeit, offenbar im Ehe-Clinch mit ihrem Mann (der nicht auftritt). Barbara Horvath hat nur drei kurze Auftritte zur Verfügung. Innerlich schwer belastet, soviel macht die Schauspielerin deutlich, kämpft ihre Medea darum, die Erregung gegenüber ihren beiden Jungens zu verbergen. Aber was macht diese Frau zur Mörderin ihrer Liebsten?

Keines ihrer Worte schafft ein besonderes persönliches Profil oder etabliert ihre dramatische Lage. Dass sie ihren Bruder getötet hat, wird absichtlich unterschlagen, um sie nicht von vorneherein als Mörderin zu stigmatisieren, erfahren wir aus dem Programmheft.

Sentimentalität

Man habe nachvollziehbar machen wollen, "wie eine Liebende, der das Herz gebrochen wurde, an diesen extremen Punkt kommen kann". Ein Anspruch, an dem das Stück konzeptionell scheitert. Die Liebe wird nicht dramatisch aufgelöst (wie bei Euripides), sie wird behauptet. Wenn Medea den Kindern den Giftbecher überreicht hat und sich mit ihnen ins Bett legt, ergeht sie sich in Liebeserklärungen wie dieser: "Ich liebe eure Füße. Ich liebe es, wenn euer Bauch rumort, wenn ihr Hunger habt. Ich liebe es, wie ihr eure Strohhalme kaut." Das ist rührend, aber auch sentimental und allzu nett.

Zu fragen wäre, warum das Stück nicht "Leon und Jasper" heißt. So nennen die australischen Autorinnen die Knaben, denen sie weitgehend das Feld überlassen, und aus deren Blickwinkel das Drama erzählt wird. Die Todgeweihten sind eingesperrt im Kinderzimmer, necken und zanken sich, reden über die Eltern und "Papas Freundin", beschießen sich gegenseitig mit Schaumgummipistolen.

medea 02 560 sandra then uDie Alternativbesetzung der Kinderrollen: Florian Guntrum und Itamar Mangold, die Ritter im Kinderzimmer  © Sandra Then

Hier zeigt das Stück jedoch eine besondere Stärke: Wie die Buben ahnungslos das Unsagbare, das ihnen bevorsteht, wie in Kreisen immer wieder im Spielen berühren, macht Kinderseelen fühlbar, die noch nicht Verstand und Logik unterworfen sind. Sie spielen etwa dramatische Tode, überbieten sich im tödlichen Getroffensein, werfen zuckend ihre Leiber zu Boden.

Herausforderung

In den arglosen Spielszenen und Bubenritualen besteht das größte Vergnügen der gut einstündigen Kinderzimmer-Tragödie. Sie erzeugen einen Gegensatz zur Beklemmung, die die ganze Aufführung über nie aussetzt. Andererseits haben Jacob Baumann (14) und Nils Treuer (11) mit Sätzen zu kämpfen, die ihnen wohl kaum selber einfallen. Beispiel: "Ich schwebe zwischen Raum und Zeit". Das ist nicht altkluger Kindermund, so werden Kinder als kleine Erwachsene vorgestellt. Das Stück erfordert zudem eine spielerische Reife, wie sie von Kindern dieses Alters kaum zu bewältigen ist.

Das Kabinettstück der Aufführung zeigt Horvath, während sie dem Jüngeren die Schuhe bindet. Die Buben haben den tödlichen Trank bereits intus, spielen das Tiernamenspiel. Immer wieder fragen sie "Mama". Etwa: "Stimmt das, dass Salamander mit "A" aufhört?" Horvath sagt geistesabwesend immer nur: "Ja. Ja. Ja." Das ist magisch. Aber insgesamt ist "Medea" die schwächste Überarbeitung eines antiken Stoffes, die Intendant Andreas Beck im Rahmen der "Basler Dramaturgie" realisieren ließ.

 

Medea
von Kate Mulvany und Anne-Louise Sarks nach Euripides
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Anne-Louise Sarks, Bühne und Kostüme: Mel Page, Dramaturgie: Almut Wagner, Theaterpädagogik: Martin Frank, Musik: Stefan Gegory
Licht: Stefan Erny.
Mit: Jacob Baumann, Barbara Horvath, Nils Treuer.
Dauer: 1 Stunde und 5 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Von einem "Kammerspiel von beklemmender Dichte" spricht Siegfried Schibli in der Baseler Zeitung (23.4.2018). Für diesen Kritiker füllt diese Überschreibung des Euripides-Stoffs plausibel eine Lücke des alten Textes auf: indem er den Fokus auf die beiden ermordeten Kinder, Medeas und Jasons Söhne richtet. "In der Premiere am Samstag spielte Jacob Baumann (14) und Nils Treuer (11) den kleineren Sohn – beide hinreißend temperamentvoll, spielfreudig und fast durchweg guttextverständlich". Auch Medea-Spielerin Barbara Horvath bescheinigt Schibli schauspielerisches Format.

"Der Ansatz des 65 Minuten dauernden Abends, die unsägliche Tat der Kindermörderin Medea von ihrer Ungeheuerlichkeit zu befreien, mag nicht ganz aufgehen – auch wenn Barbara Horvath das von der Verzweiflung getriebene Wesen eindrücklich darstellt", schreibt Dominique Spirgi in der Tages-Woche (23.4.2018). "Berührend und beklemmend aber ist, wie die beiden Kinder in einer Mischung aus Naivität und kindlicher Abgeklärtheit ihre Rolle in diesem unsäglichen Spiel bewältigen.“ Das Spiel der Kinderdarsteller wirke "authentisch" und sei mitreißend.

 

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