Renne, wenn du zweifelst

von Steffen Becker

Stuttgart, 21. April 2018. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann kam am Freitagabend aus Serbien zurück – mit der Botschaft, der Westbalkan gehöre zu Europa, seine Länder in die Europäische Union. Am Sonntagabend feierte in seiner Landeshauptstadt mit "Daumenregeln" das Stück der serbischen Autorin Iva Brdar Premiere, das dagegen mit weitaus pessimistischeren Einblicken aufwartet.

Daumenregeln b 560 BjoernKlein uVerloren herumstehen auf dem Weg ins "Armenhaus Europas" © Björn Klein

Zumindest könnte man das meinen, wenn man die Perspektive der Hauptpersonen einnimmt. Ana und Monica sind junge Schwedinnen, die einen Tramp-Wettbewerb an die serbisch-bulgarische Grenze gewinnen wollen. Ein Abenteuer mit Hindernissen, auf der Drehbühne in der Spielstätte Nord. Vom sicheren Grund des "echten" Europas wechseln Ana und Monica auf die rotierende Balkan-Geisterbahn – und suchen erst mal einen Stein. Den dürfen sie als Waffe einsetzen, wenn das Lächeln versagt. Weitere Wettbewerbsregeln: Renne, wenn du zweifelst. Und gib kein Geld aus. Letzteres sollte nicht schwierig sein im "Armenhaus Europas".

Wohlstandsgören und Überlebenskünstler

Womit die beiden nicht rechnen: Menschen im Armenhaus haben Ur-Bedürfnisse: Überleben zum Beispiel. Das reibt sich mit dem Ziel der Tramperinnen, mit oberflächlichem Small-Talk rasch voranzukommen. Der Kampf der Kulturen ist vorprogrammiert – und wird von Regisseurin Wibke Schütt zu Beginn mit dem Holzhammer ausgetragen. Die erste Fahrerin (alle gespielt von Jannik Mühlenweg) sieht aus wie eine obdachlose Version von Tiffy aus der Sesamstraße. Tatsächlich wohnt die Dame im Auto und schwatzt den Schwedinnen im Tausch gegen eine Goldkette ihr Töpfe-Set auf (gute Qualität, EU-Produktion!). Lucie Emons und Nina Siewert bleiben dabei zunächst die flachen Wohlstandsgören, als die ihre Partyoutfits sie kennzeichnen.

Aber sie spielen sich warm und ziehen bissigen Witz aus Figuren, denen die Absurdität ihrer Reise zumindest dämmert. Siewert beweist Rampensau-Qualitäten bei einer Gesangseinlage, die den bizarren Mix aus Pathos und Sexappeal von Balkan-Pop parodiert. Anlass ist eine Blitzheirat, weil Fahrer Nummer 2 ein EU-Visum will. Zuvor hat Siewert den Arbeitslosen in westlich-ignoranter Weise niedergecoacht – sehr unterhaltsam. Emons' Figur ist die sensiblere der beiden: Eine, die mit großen Augen zu verstehen versucht, warum Fahrer Nummer 3 sie zwingend für ein Abendessen braucht und warum Fahrer Nummer 4 sich den Daumen abgehackt hat. Sie scheitert daran. Emons wechselt daher im Verlauf überzeugend von naiv zu ermattet.


Vom Kapitalismus überrollt

Jannik Mühlenweg beweist in den Fahrerrollen Talent zur Komödie wie auch erstaunliche Wandlungsfähigkeit. Seine Balkan-Gestalten strotzen vor amüsant verpackten Klischees. Richtig stark ist er aber in surrealen Situationen: Zermürbt vom Regen stehen die Schwedinnen an einer Straße, Mühlweg erwacht als toter Hund. Wer sich mal beim Wandern verirrt hat, kennt den Moment, wenn man in der Erschöpfung die Natur ganz anders wahrnimmt. Dieses Gefühl auf die Bühne zu bringen, gelingt Regisseurin Schütt im Verbund mit ihren Spielern: Ruhig erzählt der Hund vom Überfahren-Werden – eine Parabel auf das Land, auf dessen Asphalt er klebt. Eine Welt, die in eine neue Zeit geworfen und vom Kapitalismus überrollt wurde. Siewert tritt tröstend heran, aber der Hund verweigert die Geste. Sie ist gut gemeint, aber gespeist von einer Von-oben-herab-Haltung, wie sie auch diese Kritik durchzieht.

Daumenregeln a 560 BjoernKlein uLucie Emons und Nina Siewert spielen die Wohlstandsgören in Partyoutfits, denen bald dämmert, dass leichter Smalltalk nicht angesagt ist. © Björn Klein

Dem Stück gelingt eine subtile Spiegelung fürs westliche Publikum. Bei den Schwedinnen auf der Bühne reicht es nur für Irritation. Die macht die Inszenierung deutlich, indem sie die "Daumenregeln" nach hinten raus bewusst zerbröseln lässt. Die Tramperinnen setzen den Stein ein und müssen rennen. Ihre Dialoge kippen in Improvisation. Sie reißen die schwarzen Tücher vom Bühnenrand, die Requisite tritt zu Tage. Den Durchblick kriegen die Protagonistinnen dadurch nicht. Zum Schlussbild sitzen sie auf einer imaginären Wiese. Menschen ziehen vorbei, wahrscheinlich Flüchtlinge. Die Mädels bewundern sie für ihre Zielstrebigkeit. Sie wollen dahin, wo die Tramperinnen hergekommen sind.

 

Daumenregeln
von Iva Brdar
Aus dem Serbokroatischen von Alida Bremer
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Wibke Schütt, 
Bühne: Vanessa Sgarra
, Kostüme: Svea Schiemann
, Sound Design / Komposition: Justus Wilcken
, Licht: Gregor Roth
, Dramaturgie: Franziska Baur.

Mit: Lucie Emons, Jannik Mühlenweg, Nina Siewert.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

 

Kritikenrundschau

Cornelie Ueding vom Deutschlandfunk (Kultur heute, 23.4.2018) ist über den Abend regelrecht erschrocken: "Der intellektuelle Berg gebar eine theatralische Maus." Wenn das "Horrorszenario", das "in dieser knatschbunten und klimbimartig schrillen" Aufführung vorgeführt werde, "den mentalen Zustand Europas 2018 dokumentieren soll, ist es zum Erschrecken. Keine Erfahrung außer der: Das Fremde und die Fremden sind vor allem eines: gefährlich, lebensbedrohlich. Je weiter weg von zuhause umso unberechenbarer und schlimmer." Menschen, die so dächten, gebe es natürlich. Und man hätte das Stück "zurechtbiegen" können, "um zu zeigen, dass sie in Klischees denken und ihre Wahrnehmungsfähigkeit dadurch beschränkt ist. Dass ihnen jeder Sinn für kulturelle Differenzen fehlt." Deshalb wäre das in Wibke Schütts Inszenierung "dürftig erscheinende Stück" eine zweite Inszenierung wert, die zeigen könnte, wie stark Realität und die "durch Angst und Eile verzerrte Wahrnehmung der Reisenden auseinanderfallen."

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