Boulevard und Bergman

von Sascha Westphal

Münster, 28. April 2018. Alle Blicke richten sich auf die Dame mittleren Alters, die ganz alleine mitten auf der großen Bühne steht. Sie will sich scheiden lassen, endlich soll Schluss sein mit einem Leben, in dem sich alles wie gedämpft anfühlt, das ohne Liebe und damit ohne jedes Gefühl ist. Mit jeder weiteren Frage, die ihr die übrigen neun Ensemblemitglieder aus dem Zuschauerraum heraus stellen, gibt die von Carola von Seckendorff gespielte Noch-Ehefrau mehr von ihrem emotionalen Elend preis. Auf jede der mal ungläubig und mal mitfühlend, mal herablassend und mal desinteressiert klingenden Fragen antwortet sie in dem gleichen apathischen Tonfall. Ihrer leidenschaftslosen Ehe mag sie entkommen, obwohl auch das nicht wirklich sicher ist. Ihrem trostlosen Leben wird sie nicht entrinnen.

Szenen des Scheiterns

"La Divorce / Bergman", der ersten Szene von Joël Pommerats 20-teiligen Bühnenreigen "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas", deutet schon die Doppelstrategie des französischen Erfolgsdramatikers und Theatermachers an. Triviales vermischt sich ständig mit Tiefgründigem, Absurdes mit Tragischem. Pommerats skizzenhafte Miniaturen wollen immer beides sein, Boulevard und Bergman, und fallen damit ein ums andere Mal zwischen alle Stühle.

WiedervereinigungKoreas 2 560 OliverBerg uVerschrobene Gestalten auf Liebessuche im Gemeindesaal © Oliver Berg

Es ist also nur konsequent, dass Anne Bader in ihrer Inszenierung dieses doch eher überambitionierten Konglomerats von meist scheiternden Liebesszenen sich nicht vor dem schwedischen Regisseur verbeugt und auch auf allzu boulevardeske Komik verzichtet. Bei ihr ist alles Spiel, vor allem die Liebe. Schließlich berauschen sich Liebende gerne an großen, pathetischen Gesten und wirken dabei doch nur wie Clowns, die um die Vergeblichkeit ihres Treibens wissen.

Melancholische Komik

Carola von Seckendorffs Lamento über ein Leben ohne Liebe wird in Sylvia Riegers ausgesucht trister Gemeindesaal-Kulisse, die an Anna Viebrocks Bühnenbilder für Christoph Marthaler erinnert, zu einer Art Shownummer. Sie inszeniert sich selbst vor den anderen, deren nachbohrende Fragen ihr durchaus willkommen sind. So verliert diese Szene ihre letztlich nur behauptete existentialistische Schwere. Sie weicht einer melancholischen Komik, die das Dramatische leicht und das Lächerliche ernst nimmt. Dementsprechend stecken Sandra Bezler und Andrea Spicher als lesbisches Liebespaar, das in der nächsten Szene auf ein blutiges Beziehungsdrama zutreibt, in Hasenkostümen. Andrea Spichers Forderung nach dem "Teil von mir, das in dir ist", wirkt eher absurd als bedrohlich.

Anne Bader nimmt Pommerats Figuren das Pathologische und bringt sie einem so deutlich näher. Aus Verrückten werden verschrobene Gestalten, deren pathetisches Auftreten etwas Rührendes hat. Gleich darauf spielen Joachim Foerster und Christian Bo Salle die Szene in einem enormen Tempo noch einmal durch, nur um sich am Ende leidenschaftlich zu küssen. Was wäre die Liebe ohne ein wenig Drama?

Überraschende Schärfe

Während Pommerat seine Szenen einfach aneinanderreiht, sucht Anne Bader nach Verknüpfungen. Die einzelnen Episoden gleiten nicht nur elegant ineinander über. Sie bekommen durch das Gemeindesaal-Setting auch einen gemeinsamen Raum. Ilja Harjes verwandelt sich vom verlassenen Bräutigam in einen E-Gitarre spielenden Alleinunterhalter, der mit Songs wie "Love Me Tender", "Perfect Day" und "Wicked Game" das Geschehen kommentiert. So folgt auf seine Version von Chris Isaaks Song natürlich Pommerats Hommage an Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?".

WiedervereinigungKoreas 3 560 OliverBerg u Sandra Bezler, Gerhard Mohr, Regine Andratschke © OliverBerg

Ein von Gerhard Mohr und Regine Andratschke verkörpertes Paar spielt mit Sandra Betzlers Babysitterin ein wahrhaft böses Spiel. Sie werfen der finanziell von ihnen abhängigen Frau vor, dass sie ihnen ihre Kinder gestohlen hätte, obwohl die beiden nie Kinder hatten. Pommerats an sich ziemlich selbstgefällige Meta-Spielerei bekommt plötzlich eine überraschende Schärfe. Bader und ihrem Ensemble gelingt dabei eine bemerkenswerte Gratwanderung. Auf der einen Seite entlarven sie gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, auf der anderen zeigen sie Verzweifelte, die, wollen sie nicht endgültig in der großen Leere ihrer Existenz versinken, mit ihrem bösen Spiel nicht aufhören können.

Großes Vergnügen

Pommerats Szenen sind in der Mehrzahl kalkuliert und damit zynisch. Aber zugleich sind sie Werke eines absoluten Theaterprofis, der genau weiß, wie er Schauspielerinnen und Schauspielern zu großen Auftritten verhelfen kann. Und genau das macht sich Anne Bader zu Nutze. Ihre ganz und gar unzynische Inszenierung eröffnet ihrem Ensemble sogar noch einen größeren Spielraum. Die clowneske Melancholie der Szenen des Abends setzt eine ungeheuere Spielfreude frei.

Es ist ein Vergnügen der von Sandra Bezler gespielten Braut, die erfahren muss, dass ihr Zukünftiger mit all ihren vier Schwestern geflirtet hat, zuzusehen, wie sie ihre Hochzeitstorte nach und nach zerstört. Mit jedem Stück, das sie nimmt und doch nicht zu Ende isst, befreit sie sich etwas mehr aus ihrer misslichen Lage. Nicht sie ist lächerlich, sondern die Konventionen, denen sie sich bisher unterworfen hatte. Liebe mag eine Täuschung sein, wie es der Arzt behauptet, der eine behinderte Frau dazu bringen will, ihr Kind abzutreiben. Doch gerade diese von Andrea Spicher grandios verkörperte junge Frau gibt einem Hoffnung. Ihr durch nichts zu brechender Glaube an eine alle Widrigkeiten überwindende Liebe ist ansteckend.

 

Die Wiedervereinigung der beiden Koreas
von Joël Pommerat
Deutsch von Isabelle Rivoal
Regie: Anne Bader, Bühnenbild: Sylvia Rieger, Kostüme: Luisa Wandschneider, Musik: Matthias Schubert, Dramaturgie: Michael Letmathe.
Mit: Regine Andratschke, Sandra Bezler, Ulrike Knobloch, Carola von Seckendorff, Andrea Spicher, Ilja Harjes, Joachim Foerster, Gerhard Mohr, Christian Bo Salle, Wilhelm Schlotterer.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-muenster.com

 

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