Der Papierberg ruft

von Valeria Heintges

Bern, 3. Mai 2018. Viele niedrige Tische auf- und nebeneinandergestellt zu einer Stufenlandschaft. Darauf Bildschirme, ein uralter Computer, alte Telefone mit Wähltasten, ein grosser Kabelsalat, ein Berg Papier. Die Fensterfront gibt den Blick nach draussen frei, auf eine Betonmauer und Bäume. Auf vorbeifahrende Züge und eine über einen Zaun balancierende Katze. Sehr transparent, sehr offen. Hier hat einer nichts zu verbergen.

Doch dann pustet die Nebelmaschine waberndes Weiss vor die Fenster, aus dem drei Cybermännchen auftauchen. Jedes ganz in weisse Kleidung gehüllt, weisse Netzhemden, weisse Strümpfe, weisse Sonnenbrillen, weiss geschminkt. Und über die Schulter gehängt eine Tastatur. Sie sind die Auskenner, die Bescheidwisser, wie sich zeigen wird. Die, die sich in Chats heftige Gefechte liefern, diskutieren, ob ein knackendes Telefon nun Hinweis ist auf eine Überwachung oder nicht. Und was, wenn auch noch die Adressen im Telefon manipuliert wurden?

AkteBern 560 Philipp Zinniker uBescheidwisser im Sog der Windmaschine: David Berger, Milva Stark und Nico Delpy
© Philipp Zinniker

"Die Akte Bern" heisst das Werk, das der Journalist und Autor Tobi Müller recherchiert und geschrieben und Regisseur Christoph Frick in den Vidmarhallen des Konzert Theater Bern uraufgeführt hat. Ein, so der Untertitel, "Theaterbericht von Fichen bis Facebook".

1989 war das Jahr, in dem die Mauer fiel. 1989 war auch das Jahr, in die Schweizer merkten, dass sie in einem "Schnüffelstaat" lebten. Seit 1900 hatten Polizisten und andere Spitzel für die Bundesanwaltschaft 900.000 Fichen über 700.000 Personen angelegt. Karteikarten, auf denen minutiös noch banalste Beobachtungen notiert wurden. Vor allem über links eingestellte Menschen. Wer kritisch, alternativ, auffällig war, war verdächtig. Bemerkungen wie "Abends trinkt er gerne ein Bier" konnten Karrieren vernichten, weil sie jemanden zum Alkoholiker abstempelten. Professoren schwärzten Studierende an, Eltern ihre Kinder.

Gegen Überwachung wüten

"Blablabla". "Blabla". "Blabla". Plötzlich spricht der Papierberg. Aufregung unter den drei weissen Chattern. Mit Windmaschine und blossen Händen holen sie den Mann aus dem Papierberg hervor. Es ist Pesche, der Linke, der Moralist. Der Wüter gegen Fichen und Überwachung. Und Annas liebevoller Onkel, der seine Nichte aus der Verdunkelung holt, in die sich die Mutter zurückzieht, die aus Überwachungsangst paranoid geworden ist. Die Mutter hat, erzählt Anna, den eigenen Vater als Spitzel enttarnt.

Anna und Pesche sind die Gegenpole, der Alt-68er und die junge Digital Native, die Tobi Müllers zentrale These diskutieren. Die lautet: Was damals in der Fichenaffäre zum Skandal wurde, interessiert heute niemanden mehr. "Vergessen können die Schweizer noch besser als verdienen", sagt Pesche bissig. Denn das, was bis 1989 mühsam gesammelt werden musste, geben die Menschen heute freiwillig preis: In Sozialen Netzen, im Netz überhaupt. Die Datenberge hätten die Papierberge obsolet gemacht, "technisch und ideologisch", sagt Pesche. Am Ende befürwortet die junge Anna die Überwachung, um Gewalt zu vermeiden, und schwärzt Afghanen an, die vor ihrer Tür dealen. Pesche wütet weiter gegen Überwachung, gegen Fichen damals, gegen Facebook heute. Und gegen Intoleranz alle Zeit.

AkteBern 560a Philipp Zinniker u Digita Natives oder Digital Naives: Jürg Wisbach, Nico Delpy, Milva Stark, Florentine Krafft
© Philipp Zinniker

Tobi Müller hat mit den Protagonisten der Fichenaffäre gesprochen, den Schweizer Mundartrocker Polo Hofer kurz vor seinem Tod besucht; Moritz Leuenberger, den Alt-Bundesrat und Leiter der Parlamentarischen Untersuchungskommission von 1989, befragt. Ebenso andere Politiker, Journalisten, Soziologen. Sie sprechen aus den Bildschirmen. Müller hat ehrenwert recherchiert, aber eher einen Zeitungs- als einen Theatertext verfasst, mit zu viel standpaukiger Moral, zu wenig Biss und zu wenig dramaturgisch zugespitzten Situationen. Seine Facebook-These ist entlarvend, bleibt aber auch im Stück folgenlos selbst für die, die ihr recht geben. Da wäre eine andere Realität auch für das Stück spannender gewesen. Und das Thema aufgrund seiner Aktualitäten wohl fürs Kabarett geeigneter als fürs Theater.

Spieler als Emojis

Christoph Frick gibt sich alle Mühe, die Vorlage dennoch zum Leben zu erwecken, nutzt die Vielseitigkeit der Bühne, lässt die Schauspieler durch die Fenster steigen, auf dem schmalen Sims herumturnen und baut vor allem für die drei Chatter immer neue Konstellationen. Ihnen, die Müller wenig überzeugend den "Chor der Asozialen" nennt, gelingt es, Spannung auf die Bühne zu bringen, wenn sie sich gegenseitig ins Wort "hacken", weil sie alle ihre Worte mit Auf-der-Tastatur-Geschreibe begleiten. Und wenn Milva Stark, David Berger und Nico Delpy ihre Gesichter verziehen, als seien sie Emojis, wenn sie doppelbödig ihre Worte kommentieren oder karikieren. Das hat mehr Biss als das trocken-theoretische Gerede von Anna und Pesche. Es ist nicht die Schuld der Schauspieler Florentine Krafft und Jürg Wisbach, dass die beiden bis zum Schluss papierene Personen bleiben.

 

Die Akte Bern
Ein Theaterbericht von Fichen bis Facebook
von Tobi Müller
Uraufführung
Regie: Christoph Frick, Bühne: Konstantina Dacheva, Kostüme: Milena Hermes, Video: Dennis Siebold, Musik: Martin Schütz, Dramaturgie: Michael Gmaj.
Mit: Jürg Wisbach, Florentine Krafft, David Berger, Milva Stark, Nico Delpy.
Dauer 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Daniel di Falco schreibt in cder Berner Zeitung Der Bund (online 5.5.2018, 9:39 Uhr): Das Unternehmen riskiere "keinen Moment", sich "in sein Thema zu knien", leider sei dies kein Schritt in "die Finsternis jenes Molochs namens Staatsschutz". Staunenswert viele Einfälle steuere Regisseur Christoph Frick bei, "um diesen Text aufzukneten. Herauskäme eine "Clowneske", "muskulös, agil und ausdauernd". Was sie an "handgeturnten Spezialeffekten und Unterhaltungswert" biete, entspräche umgekehrt "recht genau dem, was dem Stück an Brisanz und Gefährlichkeit fehlt. Und an politischer Kraft". Es werde alles "irgendwie Pop", eine "achtzigminütige Plauderei", bei der die "Gedanken zum Wert und zur Länge eines Bonmots" tendierten.

Tobias Sedlmayer schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 4.5.2018, 13:24 Uhr): Um Müllers "dichten und thesenlastigen Theaterbericht" aufzulockern, schiebe Regisseur Frick "Musik- und Tanzeinlagen" dazwischen, jage die "gut aufgelegten Schauspieler" um die "Retro-Bühne". Mit zunehmender Dauer wirke der Abend allerdings "fragmentiert", an "manche Pulverfässer wie Selbstinszenierung oder Selbstoptimierung" würden Lunten angelegt, die nicht zünden wollten. "Irgendwo zwischen Albernheit und belehrendem Gestus" verliere sich der rote Faden, blieben die Figuren "auf der Strecke". Im "Satzfetzengewitter" stelle sich der Eindruck ein, der Themenkomplex "Fichen – Facebook" sei in diesem Fall "vielleicht eine zu ambitionierte Vorlage".

 

Kommentare  
Die Akte Bern, Bern: zuwenig Unruhe
Zunächst das Bühnenbild, das überzeugt: Als hätte Nam June Paik hier seine Fernseher aufgestellt. Keine Videoinstallation sind die vorbei brausenden Züge der BLS, das ist schöne Breitleinwand-Realität auf der Hinterbühne. Ein wunderbarer Theaterraum, der sich in die Landschaft der benachbarten Wohnhäuser ausdehnt, wo die Bewohner der älteren Generation wahrscheinlich zur selben Zeit auf Facebook Blabla-Bilder und Blabla-Texte gepostet haben. Etwas aktueller hätte das Journalistenstück sein können, wo doch gerade Cambridge Analytica zusammenkracht. Und auch mehr Auszüge aus den unsinnigen Ficheneinträgen von damals hätte man gerne gehört, mehr als nur die Geschichte von der Bier trinkenden Politikerin. Denn viele dieser Einträge waren infam und haben Karrieren verunmöglicht oder sogar zerstört. Das etwas überzogene Beispiel von Annas Mutter, die sich in die Dunkelheit zurückzieht, hätte durch andere Schicksale angereichert werden müssen. Das Programmheft hatte jedenfalls mehr Unruhe versprochen als das Stück gehalten hat.
Die Akte Bern, Bern: weitere Stimme
"Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" schreibt in ihrer Besprechung folgendes: "Hätte sich Ibsen mit einer so geringen Leistung begnügt, sein 'Volksfeind' (Uraufführung 1882) stünde heute nicht mehr auf den Spielplänen der Welt."
Ganzer Bericht unter: https://p4-r5-04088.page4.com/817.html
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