Wie frei ist das Theater noch?
4. Mai 2018. "Fundamentalismus erlebt gerade seine Wiederauferstehung in aufgeklärten Gesellschaften, und ist dabei, als Moralismus bis in kleinste Verästelungen vorzudringen", holt Bernd Stegemann in der FAZ weit aus. Im Theater wiederum seien derzeit gerade die Darstellungen auf dem Feld der Identitär moralisch verdächtig. Und anhand beiden erklärt Bernd Stegemann in dem Text, warum damit eine freie Theaterarbeit unmöglich wird. Wir fassen zusammen.
Stegemann nutzt mehrere Beispiele aus der älteren und jüngeren Theatergeschichte, um zu verdeutlichen, dass man Äußerungen jenseits ihrer konkreten moralischen Aussage situativ unterschiedlich lesen müsse. Ein Beispiel ist Peter Richters Stück "89/90": Beim Theatertreffen 2017 verbot die Festivalleitung den Darstellern das Wort "Neger", das im Stück vorkommt, auf der Bühne auszusprechen. "Die Begründung: Wenn das Wort 'Neger' ausgesprochen wird, dann wird die in diesem Wort enthaltene rassistische Beleidigung schwarzer Menschen wiederholt. Und für diese Wiederholung ist es egal, ob das Wort in der fiktiven Situation eines Dramas ausgesprochen wird und deutlich als Figurenaussage eines rassistischen Neonazis gekennzeichnet ist. Das Wort und seine Kraft zur Beleidigung sind stärker als jeder Kontext."
Stegemann hält das nicht nur für falsch, sondern für ihn entspricht das genau der Argumentation des türkischen Präsidenten Erdogan, der – damit beginnt Stegemann seinen Text – begründete, dass Journalisten, die die Gedanken von Terroristen in ihrer Zeitung abdrucken, selbst Terroristen seien. Oder wie Erdogan es fomulierte: "Wenn Sie die Gedanken eines Terroristen abdrucken, ist das die Veröffentlichung des Terrorismus selbst."
"Die Verwirrung für den Theaterzuschauer der Vormoderne besteht also genau wie für den Präsidenten Erdogan darin, anzunehmen, dass bestimmte Aussagen in jedem Fall eine performative Wirkung hervorrufen, egal von wem sie in welcher Situation gesagt werden." Dieser magische Glaube sei auch im Deutschland unserer Zeit nicht unbekannt, so Stegemann weiter. Wer ein Hakenkreuz trägt, macht sich strafbar. Und ob dies auch für eine Kunstaktion gilt, wurde im Theater Konstanz gerade anhand einer Aufführung von Taboris "Mein Kampf" diskutiert. "Zwischen der Allgemeingültigkeit der performativen Handlung und ihrer Kontextabhängigkeit gibt es also einen breiten Raum für Missverständnisse."
Weiter schreibt Stegemann: "Unter der Überschrift der Identitätspolitik werden seit einiger Zeit immer neue Bruchlinien zwischen verschiedenen Milieus hervorgekehrt. Eine Stadt wie Berlin zerfällt unter einer solchen Perspektive in zahlreiche Communities." Einige von diesen verwenden die identitätspolitische Konstruktion und erklären sich selbst zu einer Gruppe, die benachteiligt werde und darum eine besondere Unterstützung erfahren müsse. "Eine dieser 'affirmative Actions' besteht darin, dass gefordert wird, die Rollen aus diesen Communitys auf der Bühne identitär korrekt zu besetzen: den türkischen Taxifahrer also mit einem türkischen Schauspieler und Othello mit einem schwarzen Schauspieler." Nicht gefordert werde hingegen etwa, dass Hamlet von einem dänischen Schauspieler oder Macbeth von einem schottischen gespielt werden müsse.
Stegemanns Conclusio: "Mit dieser Logik aus dem Besteckkasten der Zensur können offensichtlich Journalisten inhaftiert oder Worte von Bühnen verbannt werden. Dass diese Logik sich nicht in skurril anmutenden 'Beeps' erschöpft, sondern ihre Forderungen deutlich weiter treibt, zeigt die aktuelle Diskussion um das Fundament des Theaters."
(sik)
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