Vorschlag-Hammer

von Sebastian Huber

8. Mai 2018. Wie ist es aktuell um den Zustand der Kritik bestellt? Schlecht, das sagen Kunstschaffende natürlich immer. Die Klage übereinander gehört längst schon zur Folklore der Beziehung zwischen Kunst und Kritik. Mitunter aber gibt es auch handfeste Gründe, sich über die alte Regel hinwegzusetzen, die besagt, dass man Kritiker tunlichst nicht kritisiert, und ein paar Fragen zu stellen.

Fliegende Gläser, verletzte Gefühle

In der Süddeutschen Zeitung gibt es eine Kolumne mit dem Titel "Vorschlag-Hammer", in der Journalisten Kultur-Tipps geben. Da geht es gewissermaßen schon los – Vorschläge zur Abendgestaltung in München müssen nach Meinung der Redaktion dem Leser mit schwerem Gerät auf den Kopf gebrettert werden, wenn sie etwas gelten sollen. Über die Verrohung der Sprache (vornehmlich im Zusammenhang des digitalen Zeitalters) wird derzeit gerne und viel geschrieben. Fängt sie zum Beispiel bei der Wahl des Kolumnentitels schon an? Oder ist das Humor? Sind Humor und Verrohung überhaupt ein Gegensatzpaar? Was gilt als Polemik, ist also spitz und treffend und darf auch mal Schmerzen bereiten? Wo fängt dagegen der Missbrauch der Macht des öffentlichen Wortes an? Wer solche Fragen stellt, gerät leicht in den Ruch des Verzärtelten, der sich aus der Küche lieber fernhalten sollte, wenn er die Hitze nicht erträgt. Und tatsächlich entspricht dem Vorschlaghammer auf der einen Seite ja oftmals auf der anderen eine Kultur der verletzten Gefühle und trigger-warnings, bei der man sich wundern mag, wer sich von was allem ausgegrenzt, missachtet und beleidigt fühlen kann, oder – der häufigere Fall – von wem das bei welchen Anlässen vermutet wird.

Junk 560 ThomasAurin u"Junk" am Münchner Residenztheater – ein "blödes" Stück? © Thomas Aurin

Eine kleine Testreihe also – nicht repräsentativ – aus dem Pressespiegel eines Wochenendes: zuerst der "Vorschlag-Hammer" vom 28. April. Es schreibt Egbert Tholl (hier der Link, offenbar mit falscher Autorenzeile). Dieser hatte sich Tage zuvor auf der Premierenfeier im Residenztheater über Ayad Akhtars Stück "Junk", das gerade zur Aufführung gekommen war, sagen wir mal, erhitzt. Das Resultat war, dass er ein Weinglas nach mir warf. Das hätte leicht ins Auge gehen können, gehört sich aber vor allem einfach nicht.

Nun gut, das war in der "Hitze" (bleiben wir bei der Formulierung) geschehen, eine Dummheit, die man möglichst schnell wieder vergisst. Leid tun musste einem der Vorfall vor allem, weil Ayad Akhtar, der München in den Tagen zuvor als eine freundliche und weltoffene Stadt kennengelernt hatte, unfreiwillig Zeuge der bizarren Szene wurde. Was aber tut Egbert "The Hammer" Tholl? Er setzt sich hin und schreibt eine Kolumne unter anderem über den Glaswurf und seinen Anlass. Und wiederholt, was er schon am Abend immer wiederholt hatte, das Stück sei "blöd".

"Typen mit Ecken und Kanten"

Das dürfte mein Sohn im Schulaufsatz nicht schreiben, oder er müsste sein Urteil mindestens sehr gut begründen. Wieso eigentlich gilt diese einfache Regel nicht auch für Kritiker? Vielleicht weil Egbert Tholl hier nicht als Kritiker schreibt? Aber was legitimiert ihn denn dann zu seinem auflagenstarken unbegründeten Urteil? Offensichtlich nicht allzu viel, spielt er doch kokett mit der Möglichkeit, vielleicht selbst "zu blöd" für das Stück zu sein. Wie wäre es denn, wenn man sich auch im sicher anspruchsvollen und termingeplagten Alltag darauf einigen würde, dass Schreiben oder Nichtschreiben hieße, die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand bis zu dem Punkt zu treiben, an dem man sich sicher sein kann, dass man nicht mehr "zu blöd" ist, und dann nicht auch noch behauptet, alle anderen seien es auch ("damit bin ich, glaube ich, nicht allein")? Das ist nur ein Beispiel, und bevor ich zum nächsten übergehe, lege ich noch Wert auf die Feststellung, dass ich auch von Egbert Tholl schon sehr profunde Kritiken gelesen habe, in denen er beispielsweise die Bearbeitungen mehrhundertseitiger Romane mit großem Überblick und Detailkenntnis beschrieben und beurteilt hat.

DerVater8 560 Thomas Aurin u"Ein wenig zu routiniert" gespielt? "Der Vater" an den Münchner Kammerspielen © Thomas Aurin

Gleicher Pressespiegel, nächstes Beispiel: Eine unfreundliche Besprechung der Vater-Inszenierung von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen in der Abendzeitung. Am Ende des Artikels wird den drei Hauptdarsteller*innen vorgeworfen, sie spielten "ein wenig zu routiniert". Da mag sich noch jeder Leser denken, was er will. Gilt das für alle drei gleichermaßen, sieht es bei ihnen allen gleich aus? Ich war nicht in der Premiere und kann mir nicht viel darunter vorstellen. Wäre ich der Redakteur, würde ich das wahrscheinlich bemängeln. Zu pauschal, zu unpräzise, kein bisschen anschaulich. Ehrenrettung? Immerhin seien die drei "Typen mit Ecken und Kanten". Was das heißen soll? Schauspielerisch nicht zu bewerten, aber menschlich ganz in Ordnung? Bei Lichte besehen eine Unverschämtheit. Warum aber? Wie haben die das verdient?

Irreführungen, Fehlinformationen

Die Kritik nähert sich jetzt dem Ende. Aber vorher kommt noch ein allerletzter Satz, der besagt, dass man das mit den Ecken und Kanten von den "irgendwie immer austauschbar wirkenden Kollegen auf der anderen Seite der Maximilianstraße nicht jeden Tag behaupten" könne. Es gibt in diesem Zusammenhang keinen Anlass für den Satz. Er ist einfach nur ehrabschneidend und ebenfalls eine Unverschämtheit. Er behauptet, natürlich wieder ohne jede Begründung, dass 45 Ensemblemitglieder des Residenztheaters "irgendwie austauschbar" seien. Wie kommt so etwas? Liest noch jemand in der Redaktion diesen Satz, bevor ihn Tausende lesen? Denkt dieser Jemand: ist zwar grober Unfug und "irgendwie" menschenverachtend, klingt aber auch nach Öl in irgendein Feuer gießen? Also "geil"? Trügt der Eindruck, dass sich hier kein Unterschied in Ton, Informationsgehalt und Willen zur Differenzierung feststellen lässt zu irgendeinem x-beliebigen Kommentar auf einer x-beliebigen Plattform? Ist der Unterschied zwischen bezahltem Journalismus mit einer gewissen Reichweite und Verantwortung und dem schnellen digitalen Sich-Luft-Machen vielleicht gar nicht gewollt?

Raeuber 04 560 c Dashuber uWar der Theatertreffen-Jury 2017 eine Einladung wert: "Die Räuber" vom Residenztheater München
© Thomas Dashuber

Drittes Beispiel, immer noch der gleiche Vormittag: In der Neuen Zürcher Zeitung wird das Ausbleiben eines "Theaterbebens" in München beklagt, nachdem Matthias Lilienthal angekündigt hat, nicht für eine weitere Amtszeit als Intendant der Kammerspiele zur Verfügung zu stehen. Hier ersetzt nun der Blindenstock den Vorschlaghammer. Ist es für einen Kulturjournalisten wirklich so schwer herauszufinden, an welchem Theater Anna Drexler und Thomas Schmauser derzeit engagiert sind, wie es Bernd Noack in den ersten Absätzen seines Artikels darstellt? Oder dass Anna Drexler nicht ein Engagement von Lilienthal war und Thomas Schmauser nicht in Trommeln in der Nacht mitspielt? Kann man wirklich nicht recherchieren, wann das Residenztheater zuletzt zum Theatertreffen eingeladen war, nämlich im letzten Jahr und in den letzten fünf Jahren viermal, nach Noacks Worten aber "schon lange nicht mehr"? Was bewegt den Autor und die NZZ zu solchen Irreführungen und Fehlinformationen? Soll so etwa das Theater zum "Beben" gebracht werden?

Ist die informierte, vertrauensvolle Kritik auf dem Rückzug?

Vielleicht bietet ja eine weitere Kolumne Aufschluss, diesmal schon ein wenig weiter zurückliegend: Der Dramaturgen-Kollege Wolfgang Behrens schrieb auf nachtkritik.de aus seiner früheren Praxis als Theaterkritiker unter dem Titel Das Gift des Derrida am 28. Februar diesen Jahres über die angebliche Angst der Zunft vor Informationen: "Als Kritiker musste ich vor und nach dem Besuch jeder Aufführung eine weitreichende Entscheidung treffen: informiere ich mich über die Intention der Künstler*innen oder nicht?" Schließlich sei er als Kritiker bereits nach der Lektüre des Pressematerials "im Sinne der Künstler*innen vorformatiert". Ganz abgesehen davon, dass sich die Fachkollegen aus den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Auto, Motor und Sport mit Sicherheit vor Lachen nicht mehr halten könnten, wenn sie das läsen – darf man nicht auch mal im Ernst fragen, welche Unvoreingenommenheit hier eigentlich geschützt werden soll? Oder ob es nicht vielmehr darum geht, die eigene gut gepflegte Subjektivität gegen die Zumutungen von Fakten und Informationen, und, ja, auch der Kenntnis von Absichten zu bewahren, die anschließend natürlich bewertet werden müssen, aber halt anschließend?

All das sind nur Beispiele – wie gesagt. Aber was hieße das, wenn sich daraus ein Befund ergäbe (und tatsächlich weiß ja jeder Zeitungsleser solche Beispiele zu nennen), und die einlässliche, informierte, vertrauensvolle Kritik auf dem Rückzug wäre, während Meinung, Häme und kulturpolitischer Ehrgeiz die Oberhand gewönnen? Es hieße nicht nur, dass das Downsizing immer mehr an Fahrt aufnähme, die Abwärtsspirale aus mangelndem Leservertrauen, weniger Zeilen und immer lauterem Gebrüll, es hieße nicht nur, dass ein Ort verspielt würde, an dem Öffentlichkeit für eine alte und immer neue Kunstform geschaffen und erhalten werden müsste. Es hieße für das Theater, dass dieser Kunstform zusehends ein wichtiger Partner verloren ginge.

Tut was, Ihr Killermimosen!

Denn das sollte Kritik doch eigentlich sein, eine Reflexion auf der Höhe des Geschehens (gerne auch darüber), die sich nicht erwischen lässt bei Spielchen nach dem Muster "du bist blöd, ich bin blöd", sondern sich ausrichtet an der gemeinsamen Anstrengung, das Theater besser zu machen. Kritik, wenn sie so heißen soll, dürfte sich nicht leichthin des Anspruchs begeben, Gesprächspartner der Besucher*innen, der Nicht-Besucher*innen, aber auch der Macher*innen von Aufführungen zu sein. Dazu würde gehören, dass man Aufführungen bei dem packt und danach analysiert, was sie sich vorgenommen haben und nicht nach dem, was man selber gerade für wichtiger hielte, oder von dem Regisseur oder der Regisseurin zuletzt gesehen oder gehört hat. Und dazu würde der Stolz gehören, dass schlechtes Theater nicht zu schlechten Texten führen darf (und gutes natürlich erst recht nicht). Also: Tut was, Ihr Killermimosen, Ihr werdet gebraucht. Nicht so, wie oben beschrieben, aber im Prinzip und ganz konkret.

Vielleicht sollten sich darüber hinaus die Theater den kritischen Diskurs über das Theater häufiger selber organisieren – tatsächlich laufen Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen immer wieder in diese Richtung. Zirkel gründen, zum Beispiel, oder kluge Leute ohne Verwertungsinteressen für längere Zeit an ein Haus einladen, um sich gegenseitig zu sagen, oder sagen zu lassen, was man tut. Weil es, ehrlich gesagt, auf Dauer nicht auszuhalten ist ohne Kritik.

Der Beitrag von Sebastian Hubers erschien zuerst am 4. Mai 2018 im Blog des Münchner Residenztheaters. Der Text wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet.


 

HuberKopf180 uSebastian Huber, geboren 1964 in Freiburg/Breisgau, ist seit 2011 Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am Münchner Residenztheater. Er studierte Germanistik und Theaterwissenschaften in München und Berlin. Seit 1991 arbeitete er als Dramaturg, zunächst am Bayerischen Staatsschauspiel in München, bei den Vereinigten Bühnen Graz, am Thalia Theater Hamburg, am Staatstheater Stuttgart und am Wiener Burgtheater. 2005 und 2006 war Huber dramaturgischer Berater des Schauspieldirektors Martin Kušej bei den Salzburger Festspielen. 2011 begann er gemeinsam mit Intendant Kušej die Arbeit am Residenztheater München.

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Kommentare  
Kritik-Positionen: schlechtes Theater = schlechte Texte?
Kluger Text! Sehr viele kluge Beobachtungen und viele viele kluge Fragen. (Fraglich nur, wie repräsentativ die gewählten Beispiele sind.)

Interessant wäre in der Tat zweierlei
- Welche "Ursachen" führen zum Beobachteten? Kritiker/innen/ego? Redaktionelle Sparzwänge?
- Was braucht es (systemisch?), damit es in die von Huber beschriebene Richtung gehen kann?

Huber schreibt "Und dazu würde der Stolz gehören, dass schlechtes Theater nicht zu schlechten Texten führen darf (und gutes natürlich erst recht nicht)." Dem stimme ich - mit der Nuance "Ethos"/"Demut" statt "Stolz" - zu.

Ein hervorragendes Beispiel ist Hans-Dieter Schütt, dessen Kritiken im Neuen Deutschland ausnahmslos respektvoll zwischen seiner Einschätzung und einer profunden Analyse des Gesehenen vermitteln.
Kritik-Positionen: zugespielte Informationen
Hui, da finde ich mich in Sebastian Hubers Text tatsächlich im Kreise von Kritikern wieder, bei denen "Meinung, Häme und kulturpolitischer Ehrgeiz die Oberhand" gewinnen. Und zwar, weil ich vermeintlich einer uninformierten Kritik das Wort geredet habe und meine "eigene gut gepflegte Subjektivität gegen die Zumutungen von Fakten und Informationen, und, ja, auch der Kenntnis von Absichten" schützen möchte. Hmm, das will man so natürlich nicht über sich lesen. Also muss ich Selbstexegese betreiben.

Ich bin durchaus kein Befürworter der uninformierten Kritik. Aber ich unterscheide zwischen den Informationen, die jedermann zugänglich sind, und Informationen, die mir in einer bestimmten Absicht zugespielt werden. Ich habe als Kritiker Stücke gelesen, Vergleichsaufführungen gesehen, andere Arbeiten der Regisseur*innen etc. Das war meine Informiertheit. Und dann habe ich versucht, aus der Aufführung resp. dem Kunstwerk die ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten herauszulesen. Das ist ein dynamischer Prozess, indem auch mal eine gefasste Hypothese verworfen wird. Auch ein Prozess, der scheitern kann. Aber mein Anspruch an das Kunstwerk ist, dass sich (im Zusammenspiel mit meinem Vorwissen, das natürlich akzidentiell ist, aber doch einem Assoziationskosmos entstammt, der für einen Teil des Publikums repräsentativ sein könnte) sein hermeneutisches Potential entfalten lässt. Wenn die hermeneutischen Schätze überhaupt erst zu heben sind, wenn ich vorher die Gebrauchsanweisung lesen muss, werde ich dagegen skeptisch.

Die Vorformatierungen, die ich in meinem Text "Das Gift des Derrida" meinte, sind solchen Gebrauchsanweisungen sehr ähnlich. Mir wird zum Beispiel im exklusiven Pressematerial mitgeteilt, dass ein bestimmter Abend - keine Ahnung, ich fantasiere jetzt mal: Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte widerlegen möchte. Als Folge dieser Mitteilung sehe ich den Abend anders und finde vielleicht sogar ein paar Indizien. Vielleicht finde ich sie auch nicht, aber bestimmt schreibe ich in der Kritik über Fukuyama, weil ich entsprechend vorbereitet worden bin. Die Zuschauer*innen, die den Abend - ja: unvoreingenommen sehen, haben aber möglicherweise gar keine Chance, Fukuyamas These oder deren Widerlegug in der Aufführung zu finden, weil es letzterer nicht aus sich heraus gelingt, das Ganze plausibel zu machen. Ist es nun meine Aufgabe als Kritiker, den Zuschauer*innen zu erklären, dass sie das Entscheidende nicht gesehen haben? Oder ist es nicht vielmehr meine Aufgabe zu sagen, was ich gesehen habe und was nicht und das Ganze im Rahmen meines Vorwissens anschlussfähig zu machen?

Wenn sich "die Fachkollegen aus den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Auto, Motor und Sport" angesichts meiner Position "mit Sicherheit vor Lachen nicht mehr halten" können, dann wirft das m.E. ein Licht auf diese Fachkollegen. Vielleicht hat sich die Kritik dort schon in Richtung einer affirmativen Exegese verabschiedet.

Ein Letztes: Ich stimme Huber zu, "dass man Aufführungen bei dem pack[en] und danach analysier[en]" sollte, "was sie sich vorgenommen haben". Ich erwarte aber, dass die Aufführungen dasjenige, was sie sich vornehmen, aus sich selbst heraus erkennbar machen. Ich möchte nicht auf den Beipackzettel angewiesen sein, es sei denn, der Beipackzettel gehört zur Kunst bereits unmissverständlich dazu.
Sebastians Hubers Kritik: andere Seite hören
Ich kann dem Kollegen Wolfgang Behrens nur zustimmen. Auch in meiner Zeit als Kritiker stand ich immer wieder vor der Frage, wieviele Angebote der Häuser, vorab zu erfahren, was sich die Regie-Teams wohl gedacht haben, ich annehmen sollte. Meistens habe ich mich gegen Pressemappen und Gebrauchsanleitungen erfolgreich gewehrt, auch den Erklär-Text im Programmheft habe ich lieber nach dem Absenden der nachtkritik gelesen. Dass der Einfluss derartiger Paratexte enorm ist, bemerke ich jetzt auf der anderen Seite als Dramaturg. Natürlich sehen Besucher meiner Einführungen (oder Leser des Programmheftes) sehr viel öfter genau das in unseren Inszenierungen, was wir uns wünschen - und erzählen das dann gerne noch einmal mit eigenen Worten im Nachgespräch. Ob das dann aber der Erfolg einer funktionierenden Produktion oder das Ergebnis guter Vermittlung ist, sei dahingestellt. Neulich kam zur "paradies fluten"-Aufführung ein Besucher, der weder Köck kannte, noch den Text, noch irgendetwas vorab gelesen hatte - und berichtete von seinen Eindrücken: Das war dann auch für uns wirklich interessant!
Sebastians Hubers Kritik: nichts anderes als PR
Behrens hat ja so was von recht! Und die "affirmative Exegese", die Behrens nobel benennt, ist nichts anderes als PR, genau das Gegenteil also von Kritik und nur einen Schritt von der Korruption entfernt. Aber damit scheinen manche kein Problem mehr zu haben. Und manche Redaktionen verlangen genau das ihren "Kritikern" mehr oder weniger unverblümt ab. Das ist die eigentliche Entwicklung, gegen die man sich eine Koalition der Theaterleute mit Kritikern der Spezies Behrens wünschte.
Sebastians Hubers Kritik: Verwertungsinteressen
Die informierte Kritik ist nach den paar zugegebener Maßen sehr eindrücklichen Beispielen, die Sebastian Huber hier aufführt, sicher noch nicht komplett auf dem Rückzug. Dass sich Theaterregisseure, Dramaturgen und auch Schauspieler vermehrt unverstanden fühlen und das auch artikulieren, kann ich allerdings schon bestätigen. Da fällt auch sicher nach ein paar Gläsern Wein bei der Premiere schon mal das Wort mit A. Nun sollte man aber zu solchen Anlässen den Kritiker auch mal Kritiker sein lassen und sich nicht in solche Situationen begeben wie Egbert Tholl, dem das Glas Wein dann ausrutscht. Wie wohl zwischen einem zu Bruch gegangenen Glas und einem Glaswurf noch ziemlich viel Raum für Interpretation besteht. Aber wo verläuft die Grenze? Ist ein Kritiker, dem nach einer harschen Diskussion das Glas ausrutscht, eher entschuldbar, als ein Schauspieler, der einem ungeliebten Kulturstaatssekretär ein Glas Bier über den Kopf kippt. Sind wir wirklich schon so tief gesunken, dass sich kulturelle und persönliche Animositäten auf diesem Gebiet abspielen müssen? Nicht viel besser ist es allerdings, wenn der Schlagabtausch dann auf Zeitungskolumnen und Theaterblogs verlagert wird. Was Huber hier auf- und anstößt, kann man so einfach nicht miteinander vermengen. Münchner Theater sind in der letzten Zeit mit guten Kritiken nicht gerade überhäuft worden, was Gründe haben mag. Kein Grund für Verrisse einer Theaterproduktion sollte allerdings die gerade zur Diskussion stehende Intendanz, der Regisseur als Person, oder das auf der Bühne stehende Ensemble sein. Das ist eine klar ethisch-moralische Frage.

Und was die Informationspflicht der Kritiker betrifft, die ja nicht nur darin besteht, alles was ihnen von der Dramaturgie und Pressestelle übermittelt wird, zu verinnerlichen, sondern vor allem auch darin, Stück und Autor zu kennen und historisch wie aktuell gesellschaftlich einordnen zu können, so denke ich, dass es da kaum Nachhilfe von Seiten der Theater bedarf, schon gar nicht wie von Huber angestrengt, ein von den Theatern selbst organisierter Kritikdiskurs. Podiumsdiskussionen mit Theaterschaffenden und KritikerInnen vor Publikum sind sicher hilfreich. Aber „Zirkel gründen, zum Beispiel, oder kluge Leute ohne Verwertungsinteressen für längere Zeit an ein Haus einladen, um sich gegenseitig zu sagen, oder sagen zu lassen, was man tut.“ - was soll das sein? Wir machen uns die passende Kritik selber? Und gibt es denn tatsächlich noch Leute ohne Verwertungsinteressen? Selbst der kleine Blogger, der noch um den Zugang zu Pressekarten mit den jeweiligen Pressebüros buhlt, ist doch nicht frei von eigennützigen Interessen. Kritikportale, Zeitungen wie auch die Theater selbst haben ihre höchst eigenen Verwertungsinteressen, die man nun wirklich nicht auch noch vermengen sollte. Die Theater wollen kompetente, informierte Kritik. Das kann man verstehen. Aber über die Inhalte der Kritik sollte immer noch der/die Rezensent/in selbst entscheidet dürfen, nicht das Theater.
Sebastian Hubers Kritik: Zustand
Ich empfehle allen das auf nachtkritk bereitgestellte Videointerview mit John Goetz aus der Theater und Netz-Veranstaltung zu schauen. Es beschreibt auf ganz andere Art und Weise, als der hier vorliegende gute Beitrag von Sebastian Huber, den Zustand der deutschen Theaterkritik, bzw. ihrer Vertreter. Im Fall Dercon hat sich das deutsche Feuilleton erstaunlich geschlossen jahrelang in Grabenkämpfen und Rechthaberei ergangen und hat einen wesentlichen Aspekt der journalistischen Arbeit einfach außen vor gelassen: die Recherche. Da musste erst ein branchenfremder Journalist ins Spiel kommen, um das Thema seriös aufzuarbeiten und systematisch, professionell zu hinterfragen. Das Ergebnis kennen wir alle. Es wäre zu begrüßen und für das Theater förderlich, wenn die Theaterpresse etwas weniger Liebe zu sich selbst und für die Wirksamkeit des eigenen Textes aufbringen würde, sowie sich nicht permament im Kampf um die Deutungshoheit erschöpfte, sondern in ihrem Schaffen mehr Zeit dem Erlangen von fundiertem Fachwissen und eben der eigenen, unabhängigen Recherche widmen würde.

(Werter Feuilletonleser! Wir möchten höflich darauf aufmerksam machen, dass John Goetz nur ein Teil des Recherche-Duos war. Der zweite und ebenso wichtige im Bunde war der Theaterkriiker Peter Laudenbach. Freundlichst aus der Redaktion, Esther Slevogt)
Sebastian Hubers Kritik: gendern
Also wenn nachtkritik schon so penibel ist ständig dieses Sternchen etwa bei "Besucher*innen" einzufügen, was bei mir ja eher ein Schmunzeln erzeugt, dann sollte man es aber tunlichst beim Hauptgegenstand "Kritiker" nicht versäumen. Und bei "Leser" (offensichtich Plural) schon erst recht nicht.
Oder man lässt es besser ganz.

(Werte*r übertrieben,
das sehen wir anders. Wir in der Redaktion gendern. Jede*r Autor*in hat das Recht, es uns gleichzutun, es zu lassen oder inkonsequent damit umzugehen. Aus Gründen der Einheitlichkeit ersetzen wir allerdings Binnen-Is und Schrägstriche durch das Sternchen.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Sebastian Hubers Kritik: Deutungshohheit
ich finde diese diskussion angestoßen durch obigen Artikel absolut wichtig und die Frage, was Kritik leisten soll, auch durchaus diskutierenswert; nicht nur im Sinne der Kritiker und der Theater sondern auch des Publikums.
Tatsache ist doch, dass Kritiken Wirkung haben. Viele Mneschen lesen sie und entscheiden daraus, ob sie sich ein Stück anschauen wollen und mögen sogar Standpunkte annehmen oder nach der Lektüre leicht wieder finden, so sie sich entscheiden die Vorstellung zu besuchen. Diesen Stellenwert, ja gar diese Deutungshohheit, wie er hier bei Kritikern liegt, sollte viel bewußter gemacht werden. Vielfach freue ich mich über Kritken, die etwas zurückhaltender sind mit dem kritisieren und der eigenen Meinung sondern mehr Kontext liefern, offener schreiben, weil ich dadurch als Zuschauer weder intellektuell an einer Leine gehalten werde, noch weil ich dadurch schon eingenommen werde. Jeder Mensch geht nun einmal aus sehr unterschiedlichen Beweggründen ins Theater, und hat auch einen anderen Tagesablauf, der durchaus keine kleine Rolle darin spielt, wie ich das Stück aufnehmen mag. Dessen bin ich mir manchmal selber als Zuscahuer nicht ganz bewußt und bin dankbar für Interpretationsansätze, die sich mir verschlossen haben, und vielleicht wirklich nur, weil ich ein anderes Thema gerade wichtig finde. Zu all diesem kommt für mich aber auch noch die Frage nach dem Apparat Theater. Ich arbeite als eine von ca 300 Menschen dort und wir schauen am nächsten Tag nach der Premiere in die Zeitung, wir öffnen uns der Kritik - und es verletzt - nicht nur die Regisseure und die Darsteller, sondern alle, die an diesem sehr großen Wesen beteiligt sind. Mimosig? Nein,vielleicht, wer weiß - aber es steckt von vielen Seiten sehr viel Einsatz in diesen Aufführunge, die mit einem Federstrich so leicht abgespeist werden. Ich möchte selber keine Kritikerin sein, es ist eine große Aufgabe, meinungsbildend zu wirken, ich wünschte mir nur, dass Kritiker diskursiver, offener schrieben, sich ihrer Macht bewußt wären und sie in kleineren Dosen einsetzten.
Sebastian Hubers Kritik: Premierenparty?
Warum ist ein Kritiker überhaupt auf einer Premierenparty?
Sebastian Hubers Kritik: keine Nabelschau
Danke Sebastian Huber für Ihren Artikel.
>Der Dramaturgen-Kollege Wolfgang Behrens schrieb auf nachtkritik.de aus seiner früheren Praxis als Theaterkritiker unter dem Titel Das Gift des Derrida am 28. Februar diesen Jahres über die angebliche Angst der Zunft vor Informationen: "Als Kritiker musste ich vor und nach dem Besuch jeder Aufführung eine weitreichende Entscheidung treffen: informiere ich mich über die Intention der Künstler*innen oder nicht?"<
Und was soll der Zuschauer machen/denken, (...)?
Sollte eine Theateraufführung ohne Vorinformationen nicht mehr funktionieren, dann verzichte ich gerne auf den Abend einer privaten Bauchnabelschau, finanziert von Steuergeldern der Allgemeinheit.
Sebastian Hubers Kritik: gute Recherche
@#6: Ich fand am bemerkenswertesten an dieser Recherche-Zusammenarbeit, dass offenbar einem Kulturjournalisten schwante, dass es bei dieser Kunstbetriebs-Besetzungscausa um ähnliche ökonomische Größenordnungen geht - moralisch UND realpolitisch - wie bei jenen Wirtschaftsmachenschaften, die zwar de facto Verbrechen an verfassungsmäßig festgeschriebenem Staatsrecht sind, jedoch in den Medien, so die Öffentlichkeit irreführend, seit mindestens zwei Jahrzehnten immer wie Kavaliersdelikte abgehandelt werden: einmal heftig "dudu" - und dann im weiteren unbehelligt von lästigem Nachfragen abgetaucht nach Sizilien, Panama, Neuseeland oder dergleichen...
Und gleichzeitig bemerkenswert, dass einem geübten, investigativ arbeitenden eher Wirtschafts-Journalisten offenbar schwante, dass ein Gesellschaftszustand, in dem solches Wirtschaftsgebaren bereits den Kunst- und Kulturbetrieb erreicht hat, noch besorgniserregender ist, als er es sich in seinen bisherigen berechtigten Demokraten-Alpträumen vorgestellt hatte... Vielleicht ging es den beiden so- ich weiß es natürlich nicht, könnte mir es jedoch vorstellen... Fakt ist: hier haben zwei Journalisten im Sinne sachlicher Aufklärung fachübergreifend eine Arbeit getan, die normalerweise Ermittlungsbehörden tun müssten, wenn Politiker sie zu lange unterlassen haben- Das gibt mir jedenfalls sehr viel mehr Vertrauen in Journalismus und auch Presse zurück. - Danke für diese Arbeit. Und auch Dank an tn18 für die Möglichkeit der Erörterung dieser Arbeit durch Goetz.
Sebastian Hubers Kritik: sie fehlen
Leute, die Standpunkte vertreten haben, wie
Georg Hensel, Peter Iden, Joachim Kaiser, Hellmuth Karasek, Friedrich Luft, Rolf Michaelis, Ivan Nagel, Jost Nolte, Henning Rischbieter, Karena Niehoff, Heinz Ritter
fehlen eben.
Heute mehr denn je.
Sebastian Hubers Kritik: Goldene Regeln
5 goldene Regeln für Künstler die Kritik betreffend:
1.Beschwere Dich nicht über schlechte Kritik.
2.Bedanke Dich nicht für gute Kritik.
3.Betätige Dich niemals als Kritiker.
4.Die Welt ist Dir nichts schuldig.
5.Du ihr aber auch nicht.
Den Verfasser dieser Regeln kann ich grade nicht erinnern und es ist mir auch nicht ganz gelungen, mich stets an sie zu halten, aber ich mag sie sehr!
Sebastian Hubers Kritik: für sich sprechen
In meinem theaterwissenschaftlichen Studium gab es das Fach "Inszenierungsanalyse". Ziel war es, den Blick zu schärfen, sehr genau hinzusehen und dann über die Inszenierung zu schreiben, und zwar möglichst ohne zusätzliche Erklärungen durch Programmhefte. Einführungen gab es noch nicht so inflationär wie heute. Ich meine, eine Inszenierung muss für sich sprechen, wenn sie aber einer Einführung bedarf und ellenlangen Artikel (Was wir uns dabei dachten etc.), dann hat das Regieteam keine gute Arbeit geleistet. Oft musste ich Inszenierungen betreuen, die ganz anders sein wollten. Spätestens eine Woche vor der Premiere kam dann der Regisseur zu mir, ich müsse unbedingt vor den Vorstellungen eine Einführung halten. Ich konnte nur noch müde lächeln und kann es auch heute noch.
Sebastian Hubers Kritik: aus der Schreibwerkstatt
Ich würde aus Sicht eines freien Journalisten gerne zu der Diskussion kurz einen Gedanken beitragen und zwar aus eigener, ganz persönlicher Erfahrung.

Um meinen Lebensunterhalt verdienen zu können, kann ich, und ich schätze mal, dass ich damit nicht alleine bin, kann ich nicht "nur" Kritiken schreiben, sondern das Rezensieren von Theateraufführungen gehört zu einem größeren Patchwork von journalistischen als auch anders gearteten Arbeiten. Die Honorierung von Kritiken ist, meiner Ansicht nach, nicht gerade königlich, wobei ich dezidiert sagen möchte, dass die Zusammenarbeit mit Nachtkritik gerade aufgrund der Genauigkeit des Redigats und der Miteinbeziehung des Autors in dem, was am Ende dasteht, sehr erfreulich ist.

Dennoch: Wenn ich eine Kritik schreibe, fühle ich mich ein wenig in der Zwickmühle, was die Verantwortung gegenüber den Theaterschaffenden, dem Publikum – und mir selbst angeht. Denn: Je mehr ich Zeit in die Recherche und das Schreiben eines Textes stecke, desto geringer sieht der Stundenlohn aus. Alles, was ich an Zeit in die Vorbereitung stecke, ist, salopp formuliert: ein Freizeitvergnügen. Denn ob ich informiert oder uninformiert in eine Inszenierung gehe – es wird keine Auswirkung aufs Finanzielle haben. Nun fühle ich mich - und ich würde mal sagen, alle anderen Kollegen fühlen sich ebenfalls so - dafür verantwortlich, mit einem gewissen Wissen in eine Inszenierung zu gehen. Das heißt, ohne dass es von irgendjemand kontrolliert wird oder irgendwie monetär Anerkennung findet, lese ich den Stücktext, lese Vorberichte etc. Fahrtwege, das Anschauen einer Inszenierung, was übrigens kein reines Vergnügen, sondern auch anstrengend ist – das alles darf ich nicht als Arbeitszeit für mich berechnen, sonst trübt sich der Blick aufs Salär noch mehr. Dann folgt: der Schreibprozess. Ob ich einen Text nach eineinhalb Stunden vollende oder nochmal eineinhalb Stunden an Denkarbeit dranhänge, unter Bezugnahme aller Informationen, die ich mir zuvor angelesen habe - plus dem Lesen des Programmhefts, das ich als Nachtkritiker ja in der Regel kurz vor der Inszenierung in die Hand gedrückt bekomme – ist meine Entscheidung. Erneut: Je länger ich feile, desto mehr reduziert sich das Honorar.

Diese Information – und es geht ja um Informiertheit in dieser ganzen Diskussion – halte ich in dieser Diskussion für wichtig. Ich kann nicht für alle sprechen, aber würde einfach mal schätzen, dass ich mit dieser Arbeitssituation nicht alleine dastehe. Dass der Ton mancher Kritik entgleitet, das halte ich ebenfalls für kritisierenswert, wobei ich weiß, dass im improvisatorischen Prozess des Schreibens manche Formulierung entgleiten kann. Da gilt es, sich selbst zu kontrollieren. Und wer verbal draufhaut, muss sich eben auch gefallen lassen, selbst in die Kritik zu geraten. Bei Ansicht der Texte meiner Kollegen, angesichts der oft sehr hohen Qualität der Kritiken würde ich jedoch sagen, dass die Bereitschaft zur Selbstausbeutung beeindruckend hoch ist, sicherlich auch besetzt mit allen möglichen Dünkeln und Sehnsüchten nach Anerkennung, aber diese Bereitschaft sollte doch eigentlich wertgeschätzt werden. Wer eine Idee hat, wie das System des freien Journalismus aufgewertet werden könnte, ist herzlich willkommen.
Sebastian Hubers Kritik: Dilemma
Aus meiner Sicht könnte das System des freien Journalismus aufgewertet werden, wenn relativ treue, langfristigere Beziehungen zwischen JournalistInnen und Medium aufgebaut werden, sodass es eine Art Abnahmesicherheit gibt, die ehemaligen Presse-Angestellten-Verhältnissen ähnelt. Das Problem bei jedem Schreiben auf schnelle bzw. zeitnahe Veröffentlichung hin, ist, dass eine normale geistige Anreicherungsarbeit, die zum Schreiben überhaupt befähigt, weil sie Denken schult, als (Selbst)Ausbeutung und nicht als triebhafte Anreicherung begriffen wird. Eben weil sie auf ein zeitnahes, dem Erwerb dienenden Verkaufs-Ziel hin getan - oder eben minimiert bis unterlassen - wird.
Literatur kann so zum Beispiel gar nicht entstehen. Sobald sie mit dem primären Ziel des Verkaufes hergestellt wird, m u s s sie Einbußen erleiden. Sie verträgt sich nicht mit einem Selbst-Gefühl der Selbstausbeutung durch unbezahlte geistige Arbeit. Natürlich kann sie auch verkauft werden - aber eben erst, wenn sie fertig, in jeder Hinsicht weg vom Ich-geschrieben, ist... Das ist für SchriftstellerInnen, die nichts anderes als Literatur wollen oder können, natürlich ein existenzielles Dilemma. Und für JournalistInnen ist es ein je größeres Problem, je größer ihr eigener Anspruch an eine Literarizität ihrer Texte ist - Es gibt vermutlich keine Lösung dafür - jeder muss in sich selbst spüren, welche Art von Schreiben sein Denken und Fühlen als Reaktion auf die Wahrnehmung seiner Zeit und Welt von ihm verlangt und danach leben... Es gibt aber sehr sehr viel Eitelkeit neben den Bedürfnissen nach Erwerbssicherung durch die eigene Schreibarbeit. Es gibt wahnsinnig viele JournalistInnen, die vom Verlagswesen in einem (Selbst)bewusstsein bestärkt werden, nahezu DichterInnen zu sein, weil sich ihre Bücher sehr gut verkaufen - Und es gibt sehr viele SchriftstellerInnen, die für einen gesicherten Vertrag, für einen Auftrag durch Verlage (oder auch Theater) Kompromisse eingehen mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihrem literarischen Können, die sie eigentlich treiben - bis hin zur Aufnahme eher journalistischer als literarischer Arbeit... P o e s i e bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Für alle Seiten. Genau das, was am Denken und Schreiben als allgemein menschliche M ö g l i c h k e i t, also als humane Utopie, wirklich lebensnotwendig ist, bleibt so auf der Strecke... :Ein Totalschaden. Er ist aus meiner Sicht inzwischen unumkehrbar.
Sebastians Hubers Kritik: Beifall
Zu den in vielen voran stehenden Kommentaren gewünschten Tugenden für ein Vademecum eines Kritikers sollte auch gehören, dass die Schilderung des Publikumsverhaltens wegbleibt, wie z.B. gro0er, sehr großer, lauter, stürmischer Beifall, Jubel ... Solche kartenverkaufsfördernden Sprüche sind nichtssagend, vielleicht Zeilenschinderei für ein paar zusätzliche Cents.
Paul Tostorf
Sebastians Hubers Kritik: Jubel
Lieber Paul Tostorf, wenn aber der Kritiker meint, Gründe zum Nörgeln zu haben, das Publikum jedoch in der Tat jubelt - glauben Sie mir, es folgen garantiert Beschwerden, weil man diesen Jubel verschwiegen, das Publikum also missachtet habe. Wie man's auch macht, es gibt immer Gegenargumente. Jedenfalls zuverlässiger als zusätzliche Cents oder Kartenverkaufsförderung.
Sebastians Hubers Kritik: andere Aufgabe
Lieber Thomas Rothschild,
man sollte doch grundsätzlich die eigene, zumal professionelle, begründete Beurteilung einer Inszenierung unterscheiden und trennen von der Wahrnehmung des Verhaltens klatschender, schreiender ("juhu,juhu") oder gar aufspringender ("standing ovations") Besucher, darunter, zumal in den Premieren, oft Jubelperser, also einer Claque von Freunden und Bekannten der Akteure. Theaterkritik hat sich auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren, das erwarten die Leser oder Hörer. Die Beobachtung der Besucher, - und dann nicht nur der Premierenbesucher -, ist eine ganz andere Aufgabe mit eigenen Erfordernissen. Die sollt man Soziologen anvertrauen. Das sollte jenen, lieber Herr Rothschild lächelnd und ironisch gesagt werden, die den gewöhnlich klischeehaften Hinweis auf die Reaktion der Besucher vermissen.
Paul Tostorf
Sebastian Hubers Kritik: Unterschiede
Lieber Meister Tostorf,

ich gebe Ihnen recht, insoweit die Publikumsreaktion klischeehaft abgearbeitet wird, aber auch zu bedenken, dass es Ereignisse gibt, bei denen der Publikumsreaktion Nachrichtenwert zukommt. Mehrminütige Buhgewitter zu verschweigen halte ich für falsch - es manifestiert sich in einem solchen Fall Außerordentliches, worüber ich als Leser gerne informiert werde. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass Kritiker*innen in ihrer Wahrnehmung der Publikumsreaktion oft von ihrer eigenen Meinung über den Abend beeinflusst sind: Man hat schon Großkritiker Verrisse mit "Applaus enden wollend" schließen sehen, obgleich dem Unbefangenen sich Gegenteiliges mitteilte. Und vice versa, wobei die entsprechende Floskel dann "Jubel" lautet.
Sebastian Hubers Kritik: alter Hut
1985:
Die zehn goldenen Regeln der Theaterkritik
1. Finden Sie einen Aufhänger, eine allgemeine Lebensweisheit, ein
Sprichwort oder einen Satz aus dem Stück!
2. Beweisen Sie Ihre intime Kenntnis des Autors, des Texts und der
Rezeptionsgeschichte!
3. Ziehen Sie Vergleiche!
4. Zeigen Sie sich auch in anderen Künsten bewandert!
5. Rufen Sie prominente Zeugen auf!
6. Bemühen Sie sich um eine kulturell hochstehende Sprache!
7. Seien Sie sensualistisch!
8. Kleiden Sie Ihre Kritik möglichst denunzierend in positive
Formulierungen!
9. Gliedern Sie Ihre Kritik nach der Bedeutung der Beteiligten!
10. Vergessen Sie das Publikum nicht!
Sebastian Huber Kritik: Buhgewitter?
Lieber Großmeister Behrens,
Sie relativieren mein Petitum. Gewiss ist es meldenswert, wenn der Bühnenvorhang klemmte, die Garderobieren streikten, oder, wie Sie agumentieren, "ein mehrminütiges Buhgewitter" zu hören war. Wann haben Sie ein solches nach einer Schauspielaufführung das letzte Mal gehört und wie oft schon überhaupt?
Paul Tostorf
Positionen der Kritik: Gegenwert
Ich wohne in einer Stadt, darin man, weil hoch bezuschusst, für 10 Euro ins Theater gehen kann. Das Risiko, Zeit und Geld für eine verunglückte Inszenierung zu vergeuden, beschränkt sich also auf den Gegenwert von eineinhalb Dönern und zwei Stunden Lebenszeit.

Ich bin daher kein Kunde journalistischer Kritik; die lese ich, wenn überhaupt, erst hinterher, und vor allem auch kein Adressat der umfangreichen Bemühungen der Theater selbst, mir das, was gleich zur Aufführung gebracht wird, schon vorher mit allerlei Infomaterial, von Programmheften, Trailern, Interviews, Stückbeschreibungen bis hin zu Begleitmaterial und thematischen Einführungen vor Ort durch die Dramaturgie, anheimzugeben. (Offenbar ist das Theater so kompliziert geworden, eine Art ‚Zeige Deine Wunde’, da steht man auch ratlos davor, dass man ohne Erklärung nichts mehr begreift.)

Nun, wozu sollte ich dann noch die Vorstellung besuchen wollen, wenn ich schon vorher alles darüber weiß? Wozu auch sollte ich meine eigenen Eindrücke eines Theaterabends trüben wollen durch suggestive Vorerwartungen und Vorurteile, die mir von welcher Seite auch immer nahe gelegt werden?

Haben die Theater Angst, durch Zeitungsverisse Zuschauer zu verlieren? Wenn ja, na und? Lege ich als Schauspieler Wert auf Zuschauer, die sich vom Urteil eines Theaterkritikers abschrecken oder gewinnen lassen?
Und glauben Theaterkritiker, mit ihrer Kritik Leser vom Theaterbesuch abhalten oder dazu animieren zu können? Wenn ja, möchte ich als Journalist solche Leser haben?

Ich glaube, bei aller Professionalität, es gehört Mut zur Schauspielerei; Mut, sich auf einer Bühne zu zeigen und sich den Blicken eines stummen, glotzenden, dumpf starrenden Publikums auszusetzen. Deswegen finde ich, hat ein Ensemble Anspruch auf eine Rückmeldung: Ich habe Dich gesehen und so ist es mir dabei ergangen.

Das Beste an einem Theaterabend ist ja eh gar nicht das Stück, sind weder die Darsteller noch die Regie, sondern die Diskussionen danach.
Wir gehen - als Familie - hinterher immer in den Augustiner und besprechen die Vorstellung: Was hast Du gesehen, was hab ich gesehen …
Das ist das eigentlich Wertvolle an so einem Theaterbesuch. Da spielen Qualität, Charakteranlage, Rollengestaltung, Textführung, Bühnenbild usw. per se gar keine Rolle. So miserabel kann eine Aufführung gar nicht sein, dass da keine interessanten Gespräche zustande kommen würden. Tatsächlich ist es so, dass die entsetzlichsten Aufführungen die wunderbarsten Unterhaltungen ergeben; vor allem aber auch, weil wir uns, immerhin Familie, nicht gegenseitig entwerten, entwürdigen und zerfleischen, sondern gelten lassen.
Wir bewerfen uns auch nicht mit Gläsern. Wahrscheinlich ist der Mann solo. Mit Kindern käme er aus dem Werfen nicht mehr heraus. Da reichen dann auch 10 Euro nicht mehr.
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