Tell - Den Schweizer Gründungsmythos aktualisieren Daniela Janjic und Jérôme Junod gemeinsam mit dem Jungen Theater Biel
Remix vom Leben
von Maximilian Pahl
Biel, 9. Mai 2018. Einfach nur "Tell" betitelt Daniela Janjic ihre neue Fassung von Friedrich Schillers Drama. Ohne Vornamen. Doch wenn, dann müsste dieser diskutable Held heute und hier, also im Bieler Stadttheater, eher Guillaume als Wilhelm heißen. Denn Vincent Fontannaz, der den Naturburschen mit Armbrust verkörpert, ist bilingual. Ebenso der Regisseur Jérôme Junod und auch viele der zwanzig Darsteller*innen aus dem Jungen Theater Biel, die unter anderem den Chor bilden. Die jeweilige Übersetzung läuft in Seitentiteln und vermutlich wurde der Nationalmythos noch nie so fließend zwischen den beiden meistverbreiteten Landessprachen aufgeteilt.
Pegida auf dem Rütli
Gleich eingangs wettert nämlich besagter Chor, dass doch "ziemlich viel gerade ziemlich beschissen ist". Was die Weltlage heute betrifft. Gesucht werden lebensweltliche Entsprechungen für die Archetypen derjenigen, die dem Mythos nach im Spätmittelalter Uri, Schwyz und Unterwalden von Reichsvogt Gessler und den Habsburgern befreiten. Die jungen Menschen, deren schulpflichtige Schiller-Lektüre nicht weit zurück liegen dürfte, schlagen Mandela, Dutschke und Trotzki vor, beim Landammann Attinghausen, dem Traditionalisten, denken sie an den Rechtskonservativen und ehemaligen Bundesrat Christoph Blocher. Sie lauschen am Boden sitzend Barbara Grimm, welche die Tell-Story in Sonntagslaune und ganz ihrem Nachnamen würdig als Märchen erzählt. Und sie sehen offenbar fern, wenn Emilia Catalfamo als Swissness im roten Kleid auftaucht. Mit zwei Kolleginnen im Schlepptau, dreisprachig und -farbig, präsentiert sie nun moderativ die Bühnenfiguren). Etwa den zutiefst beunruhigten Raphaël Olivier Tschudi als Berthold von Bruneck, oder den aufs Äußerste entschlossenen Tom Kramer als Melchthal. Damit ist nicht nur die kleine Bühne rappelvoll, sondern auch eine überreizte Szene als Kniff der Einführung verziehen.
Mit kleinen Taschenlampen und großer Paranoia schleichen sich die Eidgenossen später auf die Rütli. Die halbrunden Bühnenelemente ergeben keine Halfpipe, sondern das Gehölz für den heimlichen Schwur. Janjic hat einen pegidaesken Zweifler ("Lügenbande! Lügenschwur!") in den Text eingebaut, aber auch andere Gegenstimmen: "Lasst uns schwören Brüder" – "Und Schwestern?" – "Wir wollen frei sein wie die Väter" – "Aber die waren doch gar nicht frei".
Von welcher Zeit sprechen die eigentlich?
Was kommt hier nicht alles zusammen: ein Chor und ein Gastgeberinnen-Trio, die prominenten Tell-Szenen dazwischen, aus Berta wird Berthold und aus Ulrich von Rudenz Ulrike respektive Uli. Trotzdem finden die beiden originalgetreu zueinander, Tatjana Sebben lässt ihre fein gekleidete Uli mit den Autoschlüsseln wedeln, Tschudi prangert ebenso dringlich wie vage diverse Missstände an, denn sein Bechthold ist ein intensiv recherchierender Dokumentarist und kurz wirkt es, als müssten die Habsburger für heutige Waffenexporte geradestehen. Der Chor fragt, nicht ganz zu Unrecht: "Von welcher Zeit sprechen wir eigentlich?" Auch Attinghausen ist eine Frau, Barbara Grimm hängt als schwarze Eminenz am Tropf und dreht sich im Rollstuhl, um das Geschehen im Blick zu haben, indes sie sich schon freut, dies bald nicht mehr zu müssen. Mit Stoffen peitscht der Chor den Bühnenboden wie der Wind den Vierwaldstättersee und fragt immer wieder, warum das mit den Helden und Nichthelden, mit der Herkunft und den Mythen so furchtbar kompliziert geworden ist. Anders als mit der Energie des Jungen Theaters Biel und mit dessen Anteil an der Stückentwicklung lässt sich kaum erklären, wie dieses Großprojekt nicht in Thesen auseinanderfällt.
Denn den Mythos nachzuspielen, um ihn zu zerlegen, ist ebenso vertrackt, wie die Herkunft aufs Tapet zu bringen, um sie für nebensächlich zu erklären. Viele der jungen Darsteller*innen tragen Nachnamen, die sie es leid sind, "dauernd buchstabieren zu müssen". Untereinander reden sie wenig über ihre Herkunft. "Unser Ursprungsmythos? Storys unserer Vorfahren." Sie begreifen sich selbst als "Remix vom Leben": als aus einer Vermischung hervorgegangenes, neues Original.
Sie formen sich zur hohlen Gasse, durch die der despotisch entspannte Günter Baumann als Gessler kommen muss. Derselbe, der vorher nicht einmal hingeschaut hat, als Tell den Apfel vom Kopf seines Sohnes schoss – mithilfe eines herrlich billigen Schnurtricks. Aus dem Nichts kommt der tödliche Schuss, nein, eine ganze Salve von Armbrustbolzen streckt den Reichsvogt nieder. Und da steht er: vielleicht kein Held, aber Sympathieträger. "C'est moi" sagt dieser Tell und "da bin ich wieder". Fontannaz als wortkarger Eigenbrötler, so kennt man auch das Vorbild. Aber nicht mit apartem Restakzent, der im Ernstfall ganz der Muttersprache weicht. Schiller auf Französisch – wie angenehm. "Ist Tell jetzt links oder rechts?" fragt der Chor. Egal, denn "Mythen sind auch ein Suchtmittel. Unvernünftig". So fügt sich die kühne Komposition letztlich gut, mit den frühen Eidgenossen als überwindbarem, obgleich verlockendem Hintergrund, vor dem es heißt: "Wir sind von hier. Und das ist ein Status."
Tell
von Daniela Janjic nach Friedrich Schiller
Regie: Jérôme Junod, Bühne: Nathalie Lutz, Kostüme: Anna von Zerboni, Musikalische Leitung: Christoph Brunner, Choreographie: Slim (Marc Ugolini), Dramaturgie: Margrit Sengebusch, Licht: Tino Langmann, Leitung Junges Ensemble: Isabelle Freymond.
Mit: Günter Baumann, Barbara Grimm, Jens Ole Schmieder, Vincent Fontannaz, Atina Tabé, Tom Kramer, Tatjana Sebben, Raphaël Olivier Tschudi, Emilia Catalfamo; Jugendliche des Jungen Theaters Biel: Vera Bolliger, Nadine Bourban, Manuel Djurovic, Pajtime Dodaj, Fiona Fankhauser, Beqir Fetahi, Fabiola Filippopulos, Heston Graber, Asso Husseini, Martina Inniger, Melani Kostadinova, Antonia Laubscher, Gino Rösselet, Eva Schneider, Aline Schüpbach, Paul Wongprakon, Jessica Woodtli.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.tobs.ch
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