Im Mausoleum der Zukunft

von Gerhard Preußer

Düsseldorf, 12. Mai 2018. 1984 ist noch lange nicht vorbei. Orwells Roman von 1948 ist auch 2018 noch erschreckend aktuell. Armin Petras hat seine eigene Bühnenfassung geschrieben, in der Orwells Zukunftsvision zwar nicht unsere Gegenwart ist, aber unsre heutige Zukunftsfurcht. Da gibt es für Nachbarschaftshilfe zwei "likes" im Sozialkreditsystem. Man sorgt sich um seine "work-life-balance". Für die Jüngeren gibt es eine Grundration an Porno und Fitness, für die Älteren Handwerk und Naturrestauration. London ist heiß und ohne Winter, Tiere gibt es nur noch als künstliche Repliken. Nicht nur Romane werden maschinell gefertigt, sondern auch Träume. Big Brother ist wahrscheinlich nur noch ein Megacomputer, der alle Daten sammelt, um das Leben aller zu optimieren.

Unterm Deckel

Olaf Altmann hat für Petras‘ Inszenierung einen seiner konzeptionsprägenden Bühnenbauten in das Central 1 des Düsseldorfer Schauspielhauses gestellt. Hinter einem Portal dreht sich unter einem schwarzen Bühnendeckel eine Scheibe, die von hohen schwarzen Säulen begrenzt wird. Sie schieben sich zwischen gleich große Säulen, die außerhalb der Scheibe am Rand stehen. So wird durch die Drehung manchmal der Blick auf die dahinter liegenden Räume freigeben, manchmal verschlossen. In der Bühnenmitte hebt oder senkt sich ein großer schwarzer Zylinder, aus dem ein Lichtkegel auf den Bühnenboden fällt. So entstehen starke schwarz-weiß Kontraste. Ein schwarzes Mausoleum. Hier wird die Zukunft eingesargt.

1984 4 560 Thomas Aurin uDas Volk von Ozeania: Rahel Ohm, Thiemo Schwarz, Cathleen Baumann, Wolfgang Michalek, Lea Ruckpaul, Andrei Viorel Tacu, Christian Friedel, Robert Kuchenbuch  © Thomas Aurin

Ebenso prägend ist auch die Musik der Gruppe "Woods of Birnam", deren Sänger und Vormann Christian Friedel auch den Erzähler gibt und so die Szenen verbindet, die die Geschichte von Winston Smith (Robert Kuchenbuch) erzählen, der als Akt der Rebellion gegen den brutalen Überwachungsstaat beschließt, ein Tagebuch zu führen, und in seiner Kollegin Julia (Lea Ruckpaul) seine Gesinnungs- und Bettgenossin findet. Friedels mit überwältigender Stimme und maximaler Verstärkung geschmetterten Songs sind im ersten Teil nur vage auf die Handlung bezogen (wenn überhaupt verständlich). Sie sind nur weitere Stimmungsverdunkler.

Wie man richtig stirbt

Das ändert sich im zweiten Teil. Das ärmliche Volk des Staates "Ozeania" trippelt oder marschiert über die Drehbühne: Mit Krücken, Masken, Rollstuhl, Luftballons. Immer wieder donnern Bombenangriffe und das Volk fällt auf die Knie und singt die Hymne "War is peace". In diesem trostlosen Gesell-schaftsgewusel aber gibt es das glückliche Paar, für das die Suche nach der Wahrheit über die Vergangenheit ebenso zum Widerstand gehört wie die Lust am Sex. Das bekommt man vorgeführt in einem sportlichen Pas de deux, näher an der Zirkusakrobatik als am Ballett. Das Schönste an dieser Liebesnacht aber ist Lea Ruckpauls Kostüm. Sie trägt einen matt-silbernen eng angliegenden Overall, der aber beim Darüberstreichen plötzlich golden glitzert, eine Streichel-Strahl-Haut (Kostüme: Annette Riedel).

1984 2 560 Thomas Aurin uUtopisches Liebesbild im Grauen der leeren, kalten Welt: Lea Ruckpaul und Robert Kuchenbuch als Julia und Winston auf Olaf Altmanns Bühne  © Thomas Aurin

In diese erotische Glamour-Idylle platzt die Verhaftung des Paares durch ihren vermeintlichen Verbündeten O’Brien (Wolfgang Michalek). Da explodiert auch die Inszenierung, springt aus dem Erzählmodus heraus und attackiert das wohlwollende Düsseldorfer Publikum. Friedel und Michalek steigen über die Publikumsreihen und singen zu harter Rockmusik: "Es geht nicht darum, wie man richtig lebt, das weiß keiner … Es geht darum, wie man richtig stirbt. Steh auf und kämpfe! Steh auf und hasse."

Liebe widerstehet der Gewalt

Die anschließende Folterung Winstons beginnt mit einem bizarren, bunten Bild: Seine Mitgefangen sitzen als Clowns im Kreis, bewegen sich nur in Zeitlupe und werden nacheinander abgeführt oder gleich umgebracht. Wenn Winston an die Reihe kommt, beginnt der textlich am stärksten aktualisierte Teil: Folterer O’Brien erklärt, dass das Ziel des Regimes ist, für "jeden die beste Lösung zu finden" – die "Technik des Glücks" sei sein Lebenswerk. Das ist weit weg von Orwells Analyse totalitärer Macht, die nur um der Macht willen ausgeübt wird. Und die langen Erklärungen, vermischt mit immer neuen Mengen von Theaterblut, dehnen den Abend.

Schließlich, nach überstandener Folter und erfolgreicher Umpolung zum Einverständnis mit dem Regime, trifft sich das Paar wieder. Aber statt sich desillusioniert zu trennen wie bei Orwell, tragen sie sich gegenseitig treu und traulich abwechselnd auf dem Rücken um die Bühne. Das ist eine nette Verbiegung von Orwells Schluss, der der schwärzest mögliche war: Winston liebt nur den Großen Bruder – nicht seine Julia. Bei Petras widersteht aber letztlich doch das Paar aller Gewalt und Unterdrückung. Ein Ende mit leichtem Upbeat wie in jeder Hollywood-Filmtragödie.

So bietet die Inszenierung vielen Vieles: akustische Überwältigung, vieldeutige Bebilderung, ziellosen Appell, zerdehnte Anklage und rührende Versöhnung.

 

1984
von George Orwell, in einer Bearbeitung von Armin Petras
Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart
Regie: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann; Kostüm: Annette Riedel, Musik: Woods of Birnam, Musikalische Leitung: Christian Friedel, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Felicitas Zürcher, Bernd Isele.
Mit: Christian Friedel, Robert Kuchenbuch, Lea Ruckpaul, Wolfgang Michalek, Thiemo Schwarz, Cathleen Baumann, Andrei Viorel Tacu, Rahel Ohm
Woods of Birnam: Christian Friedel (voc), Christian Grochau (dms), Philipp Makolies (g), Uwe Pasora (b).
Dauer: 3 Stunden 10 min, eine Pause

www.dhaus.de
www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Von beunruhigender Orwell-Dunkelheit ist wenig zu spüren, und wenn, wird man herausgerissen durch knallende, brummende Sounds und Musiknummern", schreibt Max Kirschner in der Westdeutschen Zeitung (14.5.2018). Armin Petras' neues Ende findet er "erstaunlich".

Im ersten Teil bleibe "vieles zu lang, auch unverständlich", schreibt Anette Bosetti in der Rheinischen Post (14.5.2018). Es fehle "das Subtile, das Böse, das Hinterhältige". "Doch nach der Pause meint man, in einer anderen Inszenierung zu sein", so Bosetti: "Jetzt wird '1984' deutlich, drastisch, körperlich erlebbar, menschlich und unmenschlich zugleich, kaltherzig, brutal und appellativ." Petras unterlasse es nicht, den Albtraum der Datenüberwachung zu intonieren, "und beschwört zugleich die Kraft der Liebe. Romantisches Spiel im albtraumhaften Kontext."

Inhaltlich den Romanklassiker nur behutsam auffrischend, verpasse Petras ihm "ein radikales formales Update", bemerkt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (28.5.2018). Am Bühnenrand postiere er die vier Musiker von Woods of Birnam, mit dem "Kampfauftrag, '1984' zur Rockoper aufzudonnern". Den Job erfülle das Quartett "mit Bravour" – "Big Brother is ­rocking you". Allerdings trete die Orwell-Story in dieser "phonstarken Show" in den Hintergrund, so Müller. "Das ist die Crux der Inszenierung: Petras interessiert sich in seinem Konzert für Lieder und Bilder, für akustische und visuelle Effekte, aber nicht für die Figuren, die er zum Bühnenleben erwecken soll." Einzig Christian Friedel leuchte in dieser Inszenierung: Der Sänger und Keyboarder der Woods of Birnam führe "rockend und röhrend" durch "die bildstarke Totalitarismus-Revue", verwandle sich aber auch in einen "mephistophelisch quecksilbrigen Big Brother". Das ist Müller zufolge "jeden Like im ozeanischen Faceheft wert".

Nicole Golombek nennt Armin Petras' letzte Inszenierung als Stuttgarts inszenierender Schauspiel-Intendant in den Stuttgarter Nachrichten (online 28.5.2018, 14 Uhr) "laut, grell, wütend" und ebenso "hellsichtig wie finster". Christian Friedel als Big Brother, ganz in Schwarz, leuchte "sich selbst mit einer kleinen Lampe an", so dass er aussehe "wie ein gespenstischer Cyborg". Er bewege sich aber "fast animalisch, raubtierhaft". Er strahle "unerschütterlichen Optimismus" aus, "wenn er in die Hände klatscht und das marschierende Volk zu aufpeitschender Musik" antreibe. Friedel agiere wie "ein dämonischer Zeremonienmeister". Er "hält sich im Hintergrund, umtänzelt die Figuren, dirigiert, als hingen sie an Fäden, rockt dann plötzlich dazwischen". Dieser ¬musikalische Big Brother versuche Akteure und Publikum "zu manipulieren, zu überrumpeln und zum Teil einer Bewegung zu machen. Zum alles abnickenden Bürger, der Fake-News akzeptiert."

Die Inszenierung "ist tatsächlich ein richtig gutes Rockkonzert", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2018). Petras rücke dem Zuschauer zu Leibe, ohne ihm weh zu tun, wolle nicht verschrecken, es sei denn, "man ärgert sich über den allzu schlichten, das Geschehen so deutlich und auch ein wenig billig ausstellenden Jugendtheater-Impetus, mit dem der Regisseur – vor allem im ersten Teil – sehr hauruckartig zu Werke geht". Gegen Ende, bei den Folterszenen, werde es dann ernst und blutig.

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