Nicht stocken. Keine Paarbildungen

Von Georg Petermichl

Wien, 6. Mai 2007. Wenn's so richtig begonnen hat, hockt es artig auf den sechs Drehstühlen, das Grüppchen Darstellungskapital von "Spuren der Verirrten". – Fix positioniert, scheint es am Rand der sich dramatisch öffnenden Computermatrix (Ausstattung: Sabine Kohlstedt) aufgefädelt. Weiblich links. Männlich gegenüber.

Alle haben die Kopie des Stücktextes parat, und auf dem Klangteppich der Popgruppe im Hinterfeld entfalten sie Geschichten von Figuren, nach denen die Weite zwischen ihnen auch lechzt. Von teils lässig-beiläufiger Natur, teils kokett oder korrekt bis hin zu biederem Gehabe, wären diese halb-fein ausstaffierten Moderatorengestalten allesamt Darstellungsverweigerer. Doch dann gebiert ihr Erzähleifer plötzlich eine charakterliche Zuckung, und schon ist das dazu gehörige Bühnenwesen in ihre Mitte geschleudert und im Akademietheater Wien eine Peter Handke-Figur entstanden.

Das Eine, das sich mit dem anderen verzahnt

Der Autor, bekanntlich mit gehörigem Argwohn gegenüber Theaterkonventionen ausgestattet, hat in seinem aktuellen Stück den Grundbaukasten der Dramatik ausformuliert: Das Eine, das sich mit dem Anderen verzahnt, dazu soll auch noch der Zuschauer als Sinnstifter auf die Bühne. Gepaart mit dem Handke-typischem politischen Grundton ist das ein inszenatorisches Minenfeld. Die 32-jährige Berlinerin Friederike Heller betritt es mit jener Reputation gewappnet, die sie in zwei Handke-Inszenierungen auf österreichischem Terrain bereits gesammelt hat ("Die Unvernünftigen sterben aus" und "Untertagblues").

Und wieder gräbt sie tief nach einem grundlegenden Textverständnis, beweist Willen zur Abstraktion: Da, wo bei der Uraufführung des Stücks im Februar von Claus Peymann 21 Schauspieler ins Berliner Ensemble gepappt wurden, reichen Heller sechs – mit prominenter Unterstützung aus der Popmusikschublade: Der Bühnenhintergrund gehört Kante, den moderat melancholischen Intellekt-Indie-Rockern aus Hamburg. Ihre Musik färbt das Dargestellte oder umgekehrt, und wenn das auch nach der apostolischen Formel einer "Öffnung des Bühnenkonzepts" riecht – für diesen Handke-Text ist der Regisseurin damit ein inszenatorischer Geniestreich gelungen.

"Weil ich dich achten will, Nachbar, achten!"

Im Verlauf werden die Wären-gern-Erzähler immer vehementer von ihren Stühlen gerissen. Sie menscheln im alltäglichen Selbstbehauptungskrieg und streuen dabei reichlich Versatzstücke aus biblischen oder literarischen Überlieferungen und der noch brachialeren Tagesmedienpolitik aus. Ihrer teilzeitigen Figurenbesessenheit traut man da bald nicht mehr. Dafür kann die Sprache umso schönere Kapriolen schlagen: "Du fragst mich, warum ich dich so schmähe?" schmettert Sachiko Hara ihrem Kollegen Jörg Ratjen entgegen. "Weil ich dich achten will, Nachbar, achten!"

Später wird Ratjen mit hochgezogenen Schultern seine Funktion als Richtungsweiser abgeben. Immer schon hat er die Worte dazu etwas lustlos fallen lassen: "Auf. Jedermann weitergehen. Zirkulieren. Nicht stocken. Keine Paarbildungen." Neben diesen beiden Schauspielleistungen bestechen auch Petra Morzé, zumeist als Korrektiv in Faltenrock und grünen Stöckelschuhen und Philipp Hochmair. Letzterer lässt sich in einem der Höhepunkte als selbsterkorener Un-Held gleichermaßen aktionistisch und absurd vom Textbuch erdrücken.

Verdammt, Theater ist zur Unterhaltung da

Dazwischen schwebt immer wieder Kante hervor. Ihr Rhythmus bemisst den Grad der figürlichen Verirrungen. Wenn die Band nach großem Getöse ihr Feld räumt, stehen die sechs Verlorenen umso unmittelbarer vorm Publikum. Eine lächerlich verhallende Saalaufmunterung: "Es heißt, dem Verirrten zeige sich, was in einem steckt." Kurz darauf darf Kante-Frontmann Peter Thiessen wiederkommen, und alle zur Raison bringen. Verdammt, Theater ist zur Unterhaltung – zur allgemeinen Befreiung, da.

Als Wermutstropfen ließe sich anführen, dass Großschauspieler wie Bibiana Zeller und Rudolf Melichar in diesem Kontext etwas knöchern-lieblich die Pensionärs-Fraktion vertreten. Dass obrige Binsenweisheit aber so charmant-unprätentiös und liebevoll aufgebaut daherkommt, verdankt sich der Tatsache, dass Peter Handke hier nicht als wortgewaltiger Polemiker dechiffriert, sondern als nachdenklicher Unterhaltungskünstler gefeiert wird. Der Gedanke über die menschliche Orientiertheitssucht serviert sich nebenbei.

 

Spuren der Verirrten
von Peter Handke
Inszenierung: Friedericke Heller, Ausstattung: Sabine Kohlstedt.
Mit: Bibiana Zeller, Rudolf Melichar, Sachiko Hara, Jörg Ratjen, Petra Morzé, Philipp Hochmair.

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

In der Wiener Zeitung Die Presse (8.5.2007) ist Norbert Mayer sehr froh, dass Friederike Heller in ihrer österreichischen Erstaufführung des Dramas Peter Handkes betulicher Merkblatt-Prosa nicht auf den Leim gegangen ist. Im Gegensatz zu Claus Peymann, der es in Berlin als besinnliches "Hochamt für Alt-Avantgardisten" uraufgeführt habe. Stattdessen hat Mayer eine "sarkastische, glatte, konzentrierte Inszenierung" und sechs hervorragende Schauspieler gesehen. Auch Handkes Text störe nicht weiter. "Raffiniert und intelligent" habe Regisseurin Friederike Heller das hoch artifizielle Lesedrama zu einem "Pop-Event" gemacht. Ein schöner Abend also, den man allerdings auch in der Broadway Bar erleben könnte: "Gute Musik, intelligente Gespräche, die ins Leere laufen und eine solide illuminierte Grund-Weinerlichkeit."

Drumherum jubelt das Publikum. Margarete Affenzeller von der Zeitung Der Standard (8.5.2007) hat trotzdem gemischte Gefühle. Friederike Hellers „abstrakte diskursive“ Inszenierung habe dem Text zwar gut getan. Auch die sechs Schauspieler machten ihre Sache gut. "Und doch hält dieser Theater-Schrottplatz aus Mikrofonen und Monitor-Idyllen von diesem Text noch einiges unter Verschluss. Die Szenen fliehen, die Sprache zerrieselt, die Flüchtigkeit ist doch zu groß."

Martin Lhotzky hat wie schon bei "Über Tiere" weder an Peter Handkes Text noch an Friederike Hellers Inszenierung eine Freude. In der FAZ (8.5.2007) schreibt er: "Außer Phrasendreschen in kurzen , unzusammenhängenden Szenen, dem Beobachten von Typen ..., dem Beschreiben  seltsamen Verhaltens ... und dem referieren von Spuren vergangener, ebenso kurzer wie nichtssagender Begegnungen, passiert wenig. ... Der Inszenierung ist wenig zu seiner [Peter Handkes] Steilvorlage eingefallen. Die einzelnen Sätze wurden willkürlich aufgeteilt ... Begründung braucht es dafür ebensowenig wie für den Rest des Abends." Lhotzkys Text ist ein einziges Kopfschütteln, völlig unverständlich der "Anlass", aus dem das Premierenpublikum "donnernden Applaus spendet".

In der Frankfurter Rundschau (9.5.2007) lobt Stephan Hilpold Friederike Heller für ihre sichere Distanz zu Peter Handkes "Hardcore-Poetisierung". Heller reisse sie an, ironisiere sie, oft lasse sie dabei Szenen  mitsamt der Szenenanweisungen spielen. Womit sie, für Hilpold, den Effekt erzielt, damit auch Handkes Schreibbewegungen souverän nachvollziehbar zu machen.

 

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