Rage Against The Machine

von Patrick Rump

17. Mai 2018. Auf einer teilweise stark geneigten, sich drehenden Plattform laufen und dabei Woyzeck aufführen. Schauspielen und gleichzeitig Bergsteigen – das ist nicht ganz ohne: Gleichgewicht halten, nicht aus der Puste kommen und den Text natürlich nicht nur runterbeten sondern mit dem treffenden künstlerischen Ausdruck, Mimik und Gestik zu kombinieren, dabei im Rhythmus des Schlagzeugs bleiben, komplexe physische wie kognitive Leistungen abliefern… Anspruchsvoll. Wer sich das nicht so gut vorstellen kann, möge beim nächsten Besuch im Fitnessstudio die Neigung des Laufbandes auf die höchste Stufe stellen (die weit geringer ist als 45 Grad, versprochen) und dabei "Die Made" von Heinz Erhardt aufsagen. Obacht, fallen Sie nicht wie der Gatte, den die Made einst hatte, vom Blatte, äh, vom Laufband… und hübsch lächeln!

Vom Stress zum Groove

Für diejenigen, die sich nicht trauen, sei erklärt, so eine Leistung schüttelt man nicht eben aus dem Ärmel. Wenn die physische Beanspruchung durch das Laufen auf der Plattform sich nicht negativ auf die schauspielerische Leistung auswirken soll, benötigen die Schauspieler eine solide Grundlagenausdauer – sprich einen langen Atem. Eine untrainierte Person würde schnell aus der Puste kommen. Dreht sich die Scheibe wie in Ulrich Rasches Inszenierung einfach weiter, dreht auch der Körper durch. Laktat bringt die Oberschenkel schnell zum Brennen und Hormone signalisieren – Stress. Irgendwann schaltet der Körper um auf Überleben: Zentrale Systeme werden hochgefahren, der Rest runter geregelt. Der Puls steigt, die Atmung wird schneller, Adrenalin wird ausgeschüttet und der Mund trocknet aus – wie beim Basler Woyzeck Nicola Mastroberardino, der sich mehrfach Wasserflaschen reichen lässt.

woyzek 560a SandraThen uNicola Mastroberardino (vorne) als Woyzeck © Sandra Then

Man hört Mastroberardino ganz schön schnaufen, was nicht ungewöhnlich ist, wenn jemand zwei, drei Stunden auf einer geneigt rotierenden Plattform unterwegs ist. Aber er steht es durch und groovt sich, wie das gesamte Ensemble, nach anfänglichem Holpern ein. Dabei hilft der Soundtrack: Rhythmisierung macht Bewegung ökonomischer, physiologisch ist es günstig, ein Tempo beizubehalten. (Marathon-)Läufer erreichen dann irgendwann den "steady state": Milchsäure (oder: Laktat, siehe oben) wird in gleichen Mengen auf- wie abgebaut. In diesem Zustand kann man ziemlich lange weitermachen. Es muss ja nicht gleich eine 200-Kilometer-Ultradistanz sein. Nicht erreicht haben dürften die Basler Schauspieler die Trance von Hochleistungssportlern, die Schmerzgrenzen überwinden, wofür der Körper zur Belohnung Endorphine ausschüttet. Trainingsmäßig sind sie aber so weit, dass sie sich auf ihre schauspielerische Leistung konzentrieren können und nicht mehr nur auf die brennenden Beine.

Spiegelneurotische Spannung

Der Effekt dieser stetigen Bewegung ist wie beim Laufen-um-den-Kopf-freizubekommen: das motorische Geschehen tritt in den Hintergrund, andere Aspekte wie zum Beispiel der Text werden wichtiger. Kognitionswissenschaftlich betrachtet, ist die Dauerbewegung sogar hilfreich fürs Agieren: Wenn man sich während des Lernens körperlich bewegt, werden mehrere Gehirnareale gleichzeitig angeregt, zahlenmäßig sind mehr Neuronen aktiv. Durch die vielfältigeren Sinneseindrücke wird der zu lernende Stoff (oder, für Schauspieler: Text) im Hirn plastischer abgebildet und ist danach (heißt: auf der Bühne) leichter abrufbar. Trainiert man auf diese Weise langfristig, so ändert sich gar die gesamte Struktur des Gehirnes, seine Neuroplastizität.

Dem Konzept der Spiegelneuronen folgend, könnte man über Ulrich Rasches "Woyzeck" sagen: die Bewegung der Schauspieler und die Eindrücke auf verschiedenen Sinnesebenen verstärken auch die Wirkung der Inszenierung auf die Zuschauer. Das schleppende Grundgefühl, das immer wieder in militärisches Marschieren überging, konnte ich nachfühlen. Die Spannung der Körper, erzeugt durch die sich ändernde Schwerkraftlage, entfaltete ihre Wirkung zur Mitte des Stückes und wurde von der Intensität der Musik weiter getragen. Meinen Atem und Herzrhythmus prüfend, kann ich bestätigen: sie haben sich dem Stück angepasst. 

Physiologische Dramatik

Georg Büchner, selber Arzt und Naturwissenschaftler, hat den "Woyzeck" als physiologisches Drama angelegt. Woyzeck ist auf Erbsendiät – seine Performance-Pyramide (ein sechsstufiges Modell der Leistung, auf das wir uns auch im Hochleistungssport beziehen) steht nicht auf breiter Basis. Physiologisch beeinträchtigt, kann sich Woyzeck schlechter vom Stress erholen (und zum Beispiel seinen Harn nicht halten, er pinkelt an die Hauswand, was der Doktor ihm als Versagen ankreidet, weil der Mensch doch einen freien Willen habe sprich: sich beherrschen könne). Biochemische Impulse lösen negative Emotionen aus – Woyzecks Denken dreht sich buchstäblich im Kreis, er leidet unter veränderter Wahrnehmung und hört Stimmen. Um aus dem Kreislauf der Fehlregulierungen auszusteigen, wählt er einen Ausweg der technisch gesehen zwar effektiv ist – schnelle, aggressive Bewegungen können durchaus beim Abbau von Wut und Stresshormonen helfen –, menschlich und juristisch aber mindestens fragwürdig bleibt. Ihm kam eben die Natur?

Woyzeck 560 PatrickRumpKlandestin fotografiert: "Woyzeck" beim Theatertreffen © Patrick Rump

Aus sportwissenschaftlicher Sicht interessiert mich der Gedanke des Menschen als Spielball, des Einzelnen als "Schaum auf der Welle". Auch wenn sich Büchner mit seinem Drama berechtigt gegen soziale Missstände wendet – wer ums Überleben kämpft, der kann sich schlecht um sein Wohlbefinden kümmern –, weiß ich als Wissenschaftler, dass man Stressoren aktiv beeinflussen und auch negatives Denken steuern kann. So glaube ich, dass letztendlich jeder sein Schicksal in der Hand hat und möchte mit meiner Forschung dazu beitragen, dass niemand als Marienmörder herumlaufen muss. Büchner als Revoluzzer-Mediziner-Wissenschaftler, der in jungen Jahren bereits erfolgreich war, ist mir sehr sympathisch. Die Inszenierung Rasches mit diesem techno-industriellen Bühnen-Look und dem Wüten der Schauspieler gegen die Maschine (Rage against the machine ist eine meiner Lieblingsbands) hat den Theatertreffen-Abend für mich zu einem Theaterbesucher-High-Abend werden lassen. Die ersten Kilometer waren etwas schleppend und hart, aber dann fluteten die Endorphine ein – und der Kick hat gesessen.

 

PatrickRump 100 PatrickRumpPatrick Rump, Sportwissenschaftler und ehemaliger Karate-Vizeeuropameister, war acht Jahre lang Coach der Forsythe Company in Frankfurt. In den Bereichen Prävention, Reha, Leistungssteuerung und -steigerung arbeitet er auch mit Ballettensembles wie dem Royal Ballet of London und dem English National Ballet sowie den Choreographen Wayne McGregor und Hofesh Shechter. Patrick Rump leitet die GJUUM Group, ein internationales Unternehmen, das für Tanzkompanien, Künstler und Sportler Konzepte für Prävention, Rehabilitation und Leistungstraining erstellt und implementiert (Foto: Patrick Rump).

www.gjuum.com

 

 

Hier die Nachtkritik zur Premiere von Ulrich Rasches "Woyzeck" am Schauspielhaus Basel (9/2017)

Hier der Überblick über unsere Theatertreffen-Berichterstattung mit Live-Blog und Gastautor*innen zu den zehn eingeladenen Inszenierungen (bisher u.a. Kevin Kühnert, Katja Berlin, Johanna Schall, John A. Kantara) 

 

 

Kommentare  
Woyzeck, Theatertreffen: Kreislaufkollaps
Oh. Ein Woyzeck mit Drehbühne, wie innovativ.
Woyzeck, Theatertreffen: überzeugende Setzung
Böse Zungen könnten dem Regisseur Ulrich Rasche vorwerfen, dass er sein Konzept gigantischer Maschinen und Walzen, die sich unerbittlich im Kreis drehen und die Spieler als ohnmächtige Kreaturen erscheinen lassen, wie am Fließband ständig mit leichten Variationen recyclet. Für Georg Büchners „Woyzeck“ gelingt ihm jedoch eine sehr überzeugende Setzung. Wir erleben einen Hauptdarsteller, der von Marie als „hirnwütig“ beschimpft wird und sich als Getriebener in einen psychotischen Wahn hineinsteigert. Nicht nur die Autoritäten der Gesellschaft (der Tambourmajor, der Hauptmann) versuchen ihn, in ihr Korsett enger Moralvorstellungen und begrenzter Handlungsspielräume zu pressen, und werfen ihm vor, dass er keine „Tugend“ habe. Auch die Zug- und Fliehkräfte der kreisenden Drehscheibe, die anfangs leicht geneigt ist und am Ende fast senkrecht steht, machen ihm das Leben zur Tortur.

„Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Das Bemerkenswerte an Ulrich Rasches Inszenierung ist, dass sie diesen zentralen Satz aus dem „Woyzeck“-Fragment plastisch spürbar werden lässt. Nicht nur der Woyzeck, sondern auch alle anderen, nur scheinbar so selbstsicheren Figuren sind an die rotierende, schwankende Drehscheibe gekettet. Ständig in Bewegung, den Abgrund und die Leere vor Augen, mühen sie sich ab, treten aber doch auf der Stelle und sind den Kräften ausliefert.

Der Anblick der gleichförmig marschierenden, schwitzenden Kreaturen und der Klangteppich der Live-Musiker, der diesmal aber bei weitem nicht die Dresdner Dezibel-Stärken erreicht, spaltet das Publikum: stehende Ovationen für kluges, beeindruckendes, wenngleich nicht mehr ganz so intensiv-überwältigendes Theater wie bei seiner „Räuber“-Einladung zum Theatertreffen auf der einen Seite. Genervte Blicke zum Handy, mit den Füßen scharrende, die Monotonie dieses fatalistischen Kreislaufs nicht aushalten könnende, zur Pause flüchtende Zuschauer auf der anderen Seite.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/18/woyzeck-aus-basel-geschundene-kreatur-auf-rotierender-scheibe/
Woyzeck, Theatertreffen: "blöde frage"
bitte was sind "stehende innovationen"?? #2 ?
Woyzeck, Theatertreffen: nach fünf Minuten begriffen
rasche woyzeck ist eintönig und man hat die setzung nach gut fünf minuten begriffen- danach passiert ncihts weiteres al eine setzung, die fünf minuten stark ist auf stunden auszudehnen und bedeutungsschwanger in wortlauten aufzublasen... nur komisch, dass mich eben dieser woyzeck weder überrascht, angeregt oder irritiert hat... nicht mal sprachlich hatte das ding eine wucht und das bei einer wortstarken sprache wie die von büchner... immernoch: als loopinstallation im museum wäre es toll aber als theaterstück ist dem rasche wohl rein garncihts gelungen...
Woyzeck, Theatertreffen: enttäuschend
20 Min fasziniert, 40 Minuten interessiert, danach nur noch gelandweilt, nach zwei Stunden fühlte ich mich von der Penetranz und Aggression nur noch terrorisiert. Bin in der Pause gegangen. Da war mir meine Lebenszeit dann doch zu schade. Sprachlich und physisch war es eine wirklich spannende Installation. Inhaltlich konnte ich den zerdehnten Texten nicht folgen, die Gedankenbögen reichten nie über einen Satz hinaus. Die Geschichte, keine Geschichte hat sich mir erzählt. Und nur Rhythmus, Lautstärke und Bewegung allein tragen keine 2 Stunden, bzw. haben mich nicht gefesselt. Nach 20 Minuten war der Drops für mich gelutscht. Und ich hab auch Geld für meine Eintrittskarte bezahlt. Was bei den Räubern der Sprache noch entgegenkam hat dem Woyzecktext nicht gedient. Bemerkenswert, ja, aber entäuschend. Ein nicht verständlicher Hype.
Woyzeck, Theatertreffen: schade
Ich möchte mich meinem Vorredner urbanobserver eins zu eins anschließen.Mir ging es genauso. Körperlich und musikalisch beeindruckend, erschöpft sich diese Idee nach 20 min. Abgesehen von chorisch beeindruckenden Bildern hier und da konnte mich diese Inszenierung auch nicht mehr nach der Pause ins Theater zurück locken. Schade
Woyzeck, Theatertreffen: Sekunden
@5 und 6
Bei mir hat es ungefähr zwanzig Sekunden gedauert.
Woyzeck, Theatertreffen: begeistert
20 Minuten noch müde, dann erwachend, dann nur noch voll begeistert. Ein brachialer Abend, da kann man doch nicht enttäuscht sein. Nach dem Fazust, der Beute, Frauen, Krieg der beeindruckendste Theaterabend zum Theatertreffen. Ein paar Fragezeichen bleiben eigentlich nur zum "Odysseus". Insgesamt ein tolles Theatertreffen! DANKE!
Woyzeck, Theatertreffen: zäh
@8: Nur weil Sie hier jubeln, möchte ich mich nach langem Zögern nun doch #5, #6, #7 anschließen. Mir ging es -ganz- -genau- -so-. Nach weniger als einer viertel Stunde massiv gelangweilt, dann mehr und mehr empört angesichts des Nichtspiels (Gestik, Mimik, Diktion, Lautstärke, ...; selbst wenn man die sportliche Leistung der Spieler/innen in Rechnung stellt), der bloßen Behauptung von Inszenierung. Hier war keinerlei textspezifischer Zugriff zu erkennen, keinerlei doppelter Boden, keinerlei Mysterium, keinerlei Fragestellung an den Stoff. Das ganze läuft derart zäh und artifiziell in Slowmotion ab, dass Schauspiel nicht stattfindet. Der Sprechton ist eindimensional und leblos. Wenn das *an sich* etwas erzählt hätte, hätte es interessant sein können. Hat es aber nicht. Auf 3sat lässt sich das gut nachvollziehen. Es bleibt an der Oberfläche.

Im Programmheft schreibt Ulrich Rasche vom Sichtreibenlassen oder Sichwehren gegen die Maschine, gegen die Rotation. Davon war aber nichts zu sehen. Die Geschwindigkeit ist immer gut dosiert, vollkommen undynamisch. Die Schrittfolge behäbig. In seiner "Rhythmik" bleibt der Abend statischer als so manches Rampenherumsstehtheater. Dynamik findet im Wesentlichen im Kontrast zwischen Gruppe und Individuum statt. Das funktioniert dann auch, geschieht aber erst nach 100 Minuten zum ersten Mal. Auch spricht Rasche von der Musikalität des Textes. Aber auch der ist nicht zu erleben. Die Monotonie in jeder Hinsicht ist ermüdend, alles ist anfangs erzählt. Wie lebendig und assoziationstief war da doch das stundenlange Schleifenziehen von der Vinge-Müller-Truppe!

Die Maschinerie ist beeindruckend, aber erzählt nichts *über* den Stoff, reproduziert ihn lediglich, und gibt dies schon in den ersten Minuten vollends preis. Als nächstes kommen bei Rasche wohl: das Mühlrad, das Rad im Getriebe, das Hamsterrad, die unendliche Treppe/Leiter, usw. Fair enough, aber wenn das immer derart beliebig zum Stoff steht wie bei dieser Arbeit, die eben darüber hinaus keine Haltung zum Sujet findet, während gleichzeitig alles aber *behauptet*, es gäbe einen Zusammenhang, dann spare ich jede Menge Eintrittsgelder in der Zukunft.

Ich gehe nie vorzeitig (um genau zu sein: im Schnitt alle 500 Besuche), aber hier konnte ich nicht anders. Ohne das despektierlich zu meinen: Ich kann verstehen, dass diese Arbeit eine texttreue Inszenierung für Abiturient/inn/en etc. ist, die hier sehen können, "was Theater kann" (aus deren Sicht); für eine Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters ist diese Juryentscheidung eine Bankrotterklärung, denn es wäre ehrlicher gewesen, man hätte stattdessen eine ähnlich solide Arbeit einer/eines unbekannt(er)en Regisseurin/Regisseurs geladen. Dann hätte man wenigstens einer/einem noch weniger Etablierten das Podium TT geboten anstatt Intendant/inn/enliebling Rasche noch mehr Gagenerhöhungsargumente zu liefern. Hier war maximal die konzeptionelle Kopie der letztjährigen Münchner Räuber zu sehen. Mehr nicht! Ein ästhetischer Scheinriese, ein dramaturgisch-inszenatorischer Zwerg. Höchstens als Blendwerk "bemerkenswert".

Noch einmal 60 Minuten nach der Pause dieser Banalität beizuwohnen, nur um kräftig zu buhen, war ich nicht in der Lage (im Gegensatz zu Rüpings "Trommeln in der Nacht"). Ich war zu sehr von der Unterforderung durch diese Arbeit empört.
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