Der kapitale Weltraum

von Alexander Jürgs

Frankfurt, 19. Mai 2018. Die Welt ist kaputt, der Untergang nah, die Ressourcen sind aufgebraucht: zu wenig Wasser, zu wenig Erde, zu wenig Öl. Die Reichen haben längst begonnen, sich Inseln bei Neuseeland zu kaufen, dort bauen sie ihre Bunker und unterirdische Golfanlagen. Wieder andere suchen die Rettung im Weltall. Eine Kolonie auf einem neuentdeckten Planeten soll entstehen. Wer mitreisen will auf das außerirdische Paradies, muss allerdings einen Aufnahmetest bestehen.

"Mars" von Marius von Mayenburg ist eine skurrile Antiutopie. In den Kammerspielen des Frankfurter Schauspiels inszeniert der Autor seine eigene Uraufführung. Die Bühne ist dunkel, ein meterbreiter Schlitz in der Bühnenwand fungiert als Fenster in die Welt – und als Projektionsfläche für hochästhetische Videos im Cinemascope-Format.

Als erstes sieht man dort einen Wald. Ein Mann im weißen Anzug stolziert durchs Geäst, er führt zwei Menschen mit sich, die – "zur Sicherheit" – Plastiktüten über dem Gesicht tragen, ein Vater mit seiner Tochter. Sie gehören zu denen, die sich um Aufnahme in die Kolonie bewerben. "Wo willst du sein, wenn die Zeit abgelaufen ist?", fragt der Vater die Tochter.

Mars1 560 JessicaSchaefer uDie unendlichen Weiten der Frankfurter Kammerspiele. Nils Kreutinger, André Meyer, Torsten Flassig, Michael Schütz © Jessica Schäfer

Vier dieser potentiellen Weltflüchtlinge konkurrieren miteinander: Achim, der um sein Kind besorgte Vater, voller Furcht, beim Aufnahmetest einen Fehler zu machen, devot und gefügig (Michael Schütz). Johanna, die Tochter, die nicht so recht weiß, ob sie sich dem Wettkampf überhaupt stellen will, die die Aufgaben hinterfragt, die mutmaßt, ob nicht eigentlich die Verweigerung zum Erfolg führt (Luana Velis). Außerdem ein Zwillingspaar: Edgar und Oskar. Edgar (Nils Kreutinger) ist der Stratege unter den beiden, der kühl Kalkulierende. Oskar ist ein aggressiver Koloss, wüst, mit Sprachfehler, ungestüm (und trotzdem ein Taktiker). André Meyer, der lange am Wiener Burgtheater engagiert war, spielt ihn mit einer Körperlichkeit, die beeindruckend ist, die fesselt. Er ist das eigentliche Ereignis dieses Theaterabends.

Science Fiction, Apokalypse, Komödie

"Mars" spielt mit den Genres, vermischt Versatzstücke aus Science Fiction, aus Weltuntergangs-Thriller, Familiendrama und Komödie. Und obwohl das Stück in der Zukunft spielt, dreht sich doch alles um die Gegenwart. Der Wettstreit um die Plätze in der Weltallkolonie ist eine Spiegelung des modernen Assessment-Centers, das ganze Leben eine Castingshow. Dabei wird man nie so richtig schlau daraus, was Yannik, der den Test dirigiert (Torsten Flassig wandelt im weißen Zweiteiler über die Bühne, spricht mit narkotisierend-monotoner Stimme, später wird er in die Reimform übergehen), wirklich von den Kandidaten will.

Setzt sich der durch, der die Befehle strikt befolgt, der vor Gewalt, gar Mord, nicht zurückschreckt? Oder wünscht sich dieser Yannik von seinen Aspiranten eher Empathie oder gar Widerspruch? Sind "soft skills" gefragt oder kalte Schnauze? Das ist die Unsicherheit der Kandidaten. Marius von Mayenburg meint den Kapitalismus der Gegenwart, wenn er seine Zukunftsvision spinnt.

Mars3 560 JessicaSchaefer uDie Zukunft ist nichts für Feiglinge. Torsten Flassig © Jessica Schäfer

Ein nächster Test folgt, eine neue Station, der Spannungsbogen steigt an und fällt wieder ab, alte Konflikte zwischen den Brüdern, zwischen Vater und Tochter, brechen auf. In kleinen Schritten geht es vorwärts, und, ja, es zieht sich bald auch. Mehr und mehr hat man das Gefühl, dass das Stück sich im Kreis dreht. Dabei bleiben einem die Figuren seltsam fremd. Es gibt keine Momente, in denen man sich mit ihnen identifiziert, ihr Handeln erscheint absurd, wird nie nachvollziehbar.

So lässt man die eigentlich spannenden Fragen, die "Mars" aufzuwerfen versucht, nicht an sich heran: Was würde ich machen, wenn ein Ende droht? Wie viel Egoismus steckt dann in mir? Und wie verbiege ich mich schon heute, um in der globalisierten Arbeitswelt Erfolg zu haben?

So blickt man auf diese Truppe der Unglücklichen letztlich immer aus der Distanz. So amüsiert man sich ein wenig darüber, dass sie sich dieser dämlichen Prozedur unterwerfen. So lässt sie einen kalt, diese Apokalypse.

 

Mars
von Marius von Mayenburg
Regie: Marius von Mayenburg, Bühne und Video: Sebastien Dupouey, Kostüm: Almut Eppinger, Musik/Sound: Matthias Grübel, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Torsten Flassig, Michael Schütz, Luana Velis, Nils Kreutinger, André Meyer.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

"Mayenburg spricht nicht von Umweltkatastrophen oder despotischen Herrschaftsformen - es sind ihre eigenen Ängste und Sehnsüchte, die die Menschen zur Flucht von der Erde bewegen", schreibt Bernd Noack auf Spiegel Online (20.5.2018). "Sprachlich springt der Text zwischen sehnsüchtiger Lyrik und feiner Absurdität, derweil die Inszenierung mal dreist mit Elementen der romantischen Komödie à la Sommernachtstraum spielt, mal bilderreich den Planet der Affen herbeizitiert, mal spannungsgeladen sich an Science Fiction und Actionfilm orientiert und ungeniert auch auf Dschungelcamp-Atmosphäre setzt - ein irgendwie kruder Mix, dem alsbald die innere Logik abhanden kommt."

Die Aufführung sei dem finsteren Thema zum Trotz eher heiter. "Beunruhigend, vielleicht sogar gefährlich, wird der Alptraum nie", so Michael Laages auf Deutschlandfunk (20.5.2018). "Das Stück hätte vermutlich doch einen Regisseur gebraucht, der dem Autor eigene Phantasie entgegensetzt; so bleibt das wirklich schöne Video-Spiel von Bühnenbildner Dupouey die einzige echte Herausforderung." Der Text erzähle sich handfest, klar und gut, bleibe aber ohne Tiefe, ohne Abgrund und Schrecken. 

"Der Pudding beweist sich beim Essen, das Drama auf der Bühne. Wenn eine Regie, wie diese durch den Autor selbst, szenisch funktioniert, verweist das schwächere Leseeindrücke eben auf den zweiten Rang." So macht Markus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (22.5.2018) diesen Theaterabend mit seinem popkulturellen "Module-Spiel" gegen die Stückvorlage stark.

"Dystopien und Weltendegeschichten sind gerade schwer in, im Fernsehen, aber auch auf der Bühne", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (22.5.2018). Marius von Mayenburg "möchte wohl schon, dass sich der Zuschauer ein wenig gruselt, aber er will es ihm auch unterhaltsam und ein wenig lustig machen – und außerdem den Figuren einen Hintergrund, ein individuelles Schicksal geben. Das macht den Abend stilistisch so unentschlossen wie von Mayenburgs 'Romeo und Julia'-Inszenierung im Großen Haus."

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