Psychogramm eines Künstlers als junger Maniker

von Daniel Ketteler

Berlin, 20. Mai 2018. Ich habe und hatte stets viele Künstler unter meinen Patienten. Mittlerweile habe ich auch eine ganz private Künstlertheorie: Zu einem Künstler disponieren aus der Sicht eines (chronisch in Schubladen denkenden) Psychiaters womöglich verschiedene Veranlagungen bzw. Veranlagungen zu verschiedenen Erkrankungen. Da ist als Künstleringredienz womöglich zum einen die Bipolarität, da ist zweitens das ADHD (das so genannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) und da sind drittens narzisstische Persönlichkeitsakzentuierungen, wahlweise auch die emotional instabile oder histrione Persönlichkeit (die so genannten "dramatischen" [sic!] Persönlichkeitszüge)

Auf dem Kopf

All das könnte, fein dosiert und im Gesunden, so etwas wie gesteigerte Kreativität ergeben. Früher raunte man: Genie. Alles kann also sehr gesund enden. Wahrscheinlich ist das, aus meiner klinisch verzerrten Sicht, allerdings nicht. Wahrscheinlich, aus praktischer Erfahrung sicher sogar, ketteler privat 180Daniel Ketteler im Foyer der Berliner Festspiele © privatkann das kippen, es ist naturgemäß ein Grenzgang, ein "Weg durchs Gebirg", ein "auf dem Kopf gehen" (Büchners "Lenz"), der Kippmoment in die Manie zum Beispiel.

Evolutionär sind alle diese Veranlagungen vermutlich genau in Richtung der menschlichen Kreativität sehr wichtig, sie sind genau genommen ein Schatz wie die Patienten, aber eben ein explosiver Schatz. Warum der Literatur- ja Weltgeschichte einen weiteren 550 Seiten Bildungsroman hinzufügen? Eine Installation aus 300 vor sich hin rostenden Autos? Plastiktüten, die in Bäumen flattern? Pipibildern im Schnee? Man muss, vor allem für die Ausführung dieser Ideen ein wenig manisch sein, oder massiv unruhig, oder dem Vater, auch wenn er lange dement ist, extrem gefallen wollen. Oder eben von allem ein wenig.

Thomas Melle also. Sehr gut. Wir sind alle auf einem schmalen Grat, auch sind wir alle Patienten, wenn man so will. Psychotherapie ist ohnehin zu gut nur für die Kranken (wer ist das eigentlich?) und Verstehen und Störung sind eins. Soviel zu den Prämissen meines Theaterbesuchs.

Ein Seelenstrip

Vorhang auf: Joachim Meyerhoff, wie so viele der damaligen Psychiaterkinder selbst in der Psychiatrie aufgewachsen, kennt das Schillern der Manie, die Kraft. Ohnehin ein kräftiger Mann, eine prometheische Gestalt, ein Demiurg, er baut auf und ab, kettet sich an, schöpft. Aber zunächst beginnt alles ganz langsam, und das ist für mich als Psychiater der eigentliche Gewinn des Stücks.

Meyerhoff bzw. der Protagonist kündigt an, es werde anstrengend "die eigene Katastrophe auszustellen". Wirklich mutig, so ein Seelenstrip, ich zolle dem hohen Respekt, es ist unweigerlich eine Selbststigmatisierung und ich hätte dem Patienten Melle ggfs. sogar abgeraten. Es wäre ein schlechter Rat gewesen. "Zeige deine Wunde" kommt mir in den Sinn, Beuys. Die Krankheit sei ja ohnehin der ständige "elephant in the room", das Thema also unausweichlich.

Welt im Ruecken 560 Reinhard Werner 030sWahnsinnsschauspieler Joachim Meyerhoff bei der Arbeit © Reinhard Werner

Die Erzählung beginnt mit der Trauer über die "Bibliothek", die geliebte Sammlung, das erlesene Stück Identität, alles sukzessive im Wahn verkauft, verschenkt, verbrannt.  Mit dem Zerfall von Sprache und "Ich" im Wahn fliegen auch die Bücher in alle Richtungen davon, lockern sich Identität und Assoziationen, ein schönes, ein brutales Bild. Er habe einen Star-Tick, so der Protagonist, er konnte im Wahn Sex haben mit Madonna, sie einfach so "von der Oranienstraße wegpflücken".

Der Protagonist will berühmt sein, sieht sich geschmäht von den anderen "Popliteraten", hackt sich im Wahn oder realitas (?), genau ist das nicht zu erkennen, in Internetblogs ein und schreibt bei Kracht & Co. mit, verliert sich in Internetpostings. Man lehnt ihn ab, die Kunstwelt ist hart und die Pfründe verteilt, aber der Autor sei gut, belesen, er feiert, sieht Picasso auf der Clubtoilette, kippt ihm (vermutlich einem anderen) Rotwein "in den Schoß". Lehnen ihn die realen Stars ab, wertet er sich selbst auf durch Halluzinationen.

Flucht durch Party

Praktisch und logisch eigentlich. Jeder Literat kennt Ungeduld und Größenphantasien, gefolgt von Selbstzweifeln, das scheinbar ewige Warten auf eine Verlagsantwort. So etwas kann ja im wahrsten Sinne des Wortes irre machen, denn: es müssten doch schließlich alle (!) begeistert sein. Sofort antworten! Und dann geht der Sommer einfach vorbei und es hilft nur: Flucht durch Party. Das ist er, der halb-pathologische Antrieb eines (fast) jeden Autors, Narzissmus und Unruhe, geringer Selbstwert und Getriebenheit führen erst zum Produktionsrausch und dann nicht selten zu Frustration und einem Drang zu Surrogaten.

Überhaupt: gesehen werden, ein "Du bist gut genug", was nie erreicht werden kann, das sind sie, die Künstlerautobahnen. Am Ende deutet der Protagonist einen schlimmen, schlagenden Stiefvater an. Es ist also nicht die reine, neurobiologische Manie, das hier ist eine typische Sozialisation zum Künstler, das irgendwo Ankommen, Anlanden wollen, ein sensibles Wärmedefizit.

Plötzlich redet die Wand, nach Schlaflosigkeit, Feierexzessen und Alkohol (vermutlich Drogen) kommen die "Gefühlskatarakte" über den Renegaten, die Gefühlsüberflutungen, überall Zeichen, die Plakate meinen nur noch ihn, der künstlerische Egozentrismus findet seine wahnhafte Entsprechung, der Manische "hört das Sausen der Ringe des Saturn". Hier ist Meyerhoff vor allem auch gymnastisch gut, hüpfend als Gekreuzigter mit Tischtennisballkrone.

Welt im Ruecken 560 Reinhard Werner 036sDie Seele spielt Ping Pong © Reinhard Werner

Aber: auch das eine Erkenntnis: von der Dringlichkeit her, von der stieren Verrücktheit ist ein Maniker im Grunde nicht spielbar. Es fehlt mir immer ein Tick, ein Quäntchen mehr, die Heftigkeit und Ernsthaftigkeit genügen nie. Und, das machte mich etwas unruhig: Manie ist keine Clownshow, der Maniker macht ernst, jede ironische Distanz fehlt für gewöhnlich. Meyerhoff entschärft hier aber leider z.T. das Eigentliche, domestiziert es publikumstauglich, die Lacher sind auf seiner Seite, aber auf Kosten der Authentizität. Er ist vielleicht selbst zu sehr "Star".

Vielleicht rettet die rückschauende Sprache hier vor fehlender Authentizität, die postmanische Reflexion des Autors hat auch schon schamhaft mitgeglättet, aber irgendwie gerät die Transpiration (trotz vieler Schweißflecken) immer zu gering, die Aggressivität, der Furor – zu normal, wahrscheinlich auch kaum spielbar. Super aber die Gefahrmomente, der Zusammensturz der Leiter auf den armen Meyerhoff, sein Reiten auf der irren Skulptur im zweiten Teil. Der Fast-Sturz als Drahtseilakt der Manie, das Clubgewummer, Beats. Die Scham danach umso besser, das zerstörte Zimmer, die Fassungslosigkeit darüber, die Frage: "Wie bin ich hier hingekommen?" Das hätte ich als Zuschauer gerne länger ausgehalten.

Katerstimmung

Dann das Aufräumen und das sofortige Absetzen der Medikation, die Sehnsucht nach dem lichten Zustand der Manie, das Nicht-Klarkommen ohne diese Droge wie bei einem Süchtigen, der schnell wieder in seinen rauschigen Wattebausch flüchten möchte. Der Übergang zum Wahn vom einsam neidischen, gekränkten jungen Künstler erscheint mir sehr plausibel, und vielleicht, wahrscheinlich sogar, haben die Analytiker recht mit ihrer These von der Manie als Abwehr von Depression und Insuffizienzgefühlen.

Nachdenklich stimmen mich die Schlussworte, die Medikamente seien ein fauler Kompromiss, der Protagonist fühle sich "wie in Geiselhaft, und das karg fließende Lösegeld sei die Normalität". Ich habe als Arzt wie so oft keine Lösung parat, es bleibt nur der medikamentöse Kompromiss, das, gerade für einen Künstler, so brutale Abkappen der Gefühlsspitzen, der Wahrnehmungsantennen. Ich bin da meist ehrlich: "Leben Sie möglichst langweilig", rate ich meinen Klienten mit einem Augenzwinkern immer sehr offen, ich will nichts vorspielen. Ist der Thermostat einmal verstellt, kann man ihn nicht mehr so leicht auf Normaltemperatur kalibrieren, man fröstelt immer. Also, so wenig wie möglich, so viel wie nötig, Kompromisse halt, und, schlimmes Wort: "Psychohygiene", also pünktlich ins Bett.

So, drei Stunden, ich stelle fest: manchmal lässt sich, wie schon in der Klinik, der narzisstische kaum vom manischen Wahn unterscheiden, der Kranke hat etwas erstaunlich Gesundes an sich, jeder Hochmut verbietet sich, schon angesichts des Mutes von Autor und Schauspieler, aber die eigene Unruhe juckt unterm Hintern. Manchmal hatte ich den Impuls zu gehen, dann blieb ich doch, ich habe durchgehalten, wie immer ohne Ritalin. Und ich habe viel gelernt. Nun aber: Musik an, Party. Und dann pünktlich ins Bett.

 
ketteler privat 140Daniel Ketteler, geboren 1978 in Warendorf, Studium der Medizin und Germanistik. Nach Stationen in Aachen und Zürich aktuell Psychiater, Fachhochschullehrer und Psychotherapeut in Berlin.

Zusammen mit Christoph Wenzel gibt er die Literaturzeitschrift [SIC] heraus. Sein letzter Roman "Grauzone"  erschien 2012, der aktuelle "novopoint grün" befindet sich im Druck.



 

 

Hier die Nachtkritik der Wiener Premiere von Die Welt im Rücken im März 2017.

Alle Texte über die Theatertreffen-Gastspiele finden Sie in unserer Festivalübersicht.

 

 

 

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