Missionare im Niemandsraum

von Esther Slevogt

Berlin, 23. Mai 2018. Soll man jetzt, im Monat zwei nach dem Abgang von Chris Dercon als Intendant der Berliner Volksbühne überhaupt noch einmal davon anfangen – von der digitalen Spielstätte der Volksbühne 17/18?

Der Traum vom Terminal plus

Doch, man sollte, denn die digitale Spielstätte der Volksbühne war der heimliche Glutkern der Theaterwelteroberungspläne, die das kulturpolitische Duo Infernale Tim Renner und Michael Müller 2015 an die Dercon-Volksbühne knüpfte. Pläne, hinter denen auch eine Suchbewegung stand, die man aus dem Trümmerhaufen, den ihr Scheitern hinterließ, vielleicht noch einmal bergen müsste: nämlich die nach wie vor bedeutsame Frage, wie das Stadttheater im Angesicht von Globalisierung und Digitalisierung in Zukunft aussehen könnte.

"Terminal plus" hieß die digitale Spielstätte zunächst. Der Begriff war aus dem Wortfeld "Flughafen" gefischt. Der stillgelegte Flughafen Tempelhof bildete damals noch den Rahmen aller Volksbühnen-Pläne. Mit der enormen Abflughalle des Tempelhofer Areals als Herzstück hatte man die traditionsreiche Bühne zum globalen Superlabel ausbauen wollen. Unter der Überschrift "Volksbühne Fullscreen" ging die digitale Spielstätte schließlich im November 2017 ans Netz, als Plattform, für die Künstler*innen der Ankündigung zufolge eingeladen werden sollten, im digitalen Raum mit Erzählformen des Theaters zu experimentieren.

Im Vollbildmodus

"Fullscreen“ bedeutet im Deutschen "Vollbildmodus" und meint im Wesentlichen, dass das Videobild auf Bildschirmgröße aufgeblasen wird, alle Steuerungssymbole und Einbettungsszenarien eines Films oder Computerspiels ausgeblendet werden. Ziel ist, dadurch die Illusionskraft beziehungsweise das Immersionspotenzial des bewegten Bildes zu erhöhen: Das Medium selbst also soweit wie möglich in den Hintergrund treten zu lassen.

Fullscreen Massacre 560 screenshot uAlexandra Bachzetsis' Tanzperformance "Massacre" im "Fullscreen" © Screenshot

Das funktioniert in der Arbeit "Massacre: Variations on a Theme" der Schweizer Tänzerin und Choreografin Alexandra Bachzetsis vor allem dann, wenn die Tänzerin Alma Toaspern mit ihrem Gesicht von innen so nah an das Glas des Bildschirms heranzukommen scheint, dass ihr Bild fast physische Präsenz gewinnt: als befände sie sich hinter einem Fenster, dessen Glas man nur durchstoßen müsste, um die reale Person vor sich zu haben. "Massacre" eröffnete im November 2017 die "Volksbühne Fullscreen". Die Video-Performance für drei Tänzerinnen und zwei Klaviere lebt von der Dialektik von Nähe und Unerreichbarkeit, Nackt- und Bekleidet-Sein, konkreten Körperbildern und ihren Disruptionen durch Spiegel oder Bewegungsfiguren, reale oder aufgemalte Kleidungsstücke, hinter denen die Nacktheit fast schockhaft hervortreten kann.

Immer eine Tänzerin ist zu sehen, die sich extatisch und zunehmend stärker von hämmerndem Klavierspiel angetrieben, in einem klaustrophobischen Raum aus Pappe bewegt. Die Bewegungen geraten dabei immer wieder stark in die assoziative Nähe sexueller Praktiken. Die Performance spielt mit voyeuristischen Peepshow-Strukturen des Greifbar-nahe-und-trotzdem-nicht-erreichbar-Seins. Die Betrachter vor dem Fullscreen werden damit vor allem auf die Einsamkeit zurückgeworfen, in der sie an diesem Kunstwerk teilhaben. Oder eben auch nicht.

"Massacre" war dabei gar nicht genuin für das Internet konzipiert, sondern wurde lediglich von hier aus gesendet und bleibt – wie alle inzwischen verfügbaren Projekte auf Volksbühne Fullscreen – dort abrufbar. Ursprünglich entstand "Massacre" für das New Yorker Museum of Modern Art, wo diese Auseinandersetzung mit der für die Genealogie des modernen Tanzes im 20. Jahrhundert so bedeutenden Strawinsky-Choreografie von Waclaw Nijinski von 1913 "Le Sacre du Printemps" vor allem nicht nur als Videoinstallation für zwei Bildschirme, sondern auch als Live-Performance gezeigt worden ist.

Fritsch und Castorf feiern ungewollt Comeback in Alexander Kluges Video-Essays

Auch Alexander Kluges Videoessay-Serie "Im Auge der Libelle" wurde für die "Volksbühne Fullscreen" lediglich adaptiert, jedoch nicht genuin produziert (auch wenn das von der Volksbühne so ausgewiesen wird). Es handelt sich im wesentlichen um ältere Beiträge aus Kluges weltneugierigem Web-TV DCTP, die seit vergangenem Spätherbst nun im Corporate Design der neuen Volksbühne auch von ihrer digitalen Spielstätte aus gesendet werden. Jeden Freitag eine neue Folge, bis demnächst 52 Beiträge zusammengekommen sein werden. Darunter auch Kluges Auseinandersetzungen mit diversen Abschiedsinszenierungen der Castorf-Volksbühne von Christoph Marthaler (Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter), Herbert Fritsch (Pfusch) bis Frank Castorf – Künstlern also, die sich geweigert hatten, mit Dercon zusammenzuarbeiten oder gar ihre Arbeiten in einer Dercon-Volksbühne überhaupt zu zeigen.

Aber Alexander Kluges DCTP machte es möglich, dass die Dercon Volksbühne dann zumindest in ihrer digitalen Spielstätte zum Beispiel Frank Castorfs "Faust"-Inszenierung kurz vor Weihnachten 2017 als "Goethes Monument des Sprechtheaters am Theater des Jahres" ankündigen konnte. Auch wenn es sich beim Film tatsächlich um eine viel weitreichendere "Faust"-Reflexion von Alexander Kluge auf der Basis des Castorf-Abends gehandelt hat.

Fullscreen Libelle Pfusch 560 screenshot uHerbert Fritschs "Pfusch" im "Fullscreen" © Screenshot

In der Volksbühne Fullscreen blieb das Ereignis jedoch ebenso wie alle anderen Arbeiten für dieses Format schwer auffindbar, in den Tiefen einer Webseite vergraben, die als Ganzes augenscheinlich in die Überlegungen zur einer digitalen Bühne gar nicht mit einbezogen worden war. Stattdessen war diese Webseite nach wie vor ganz und gar oldschool zuallererst digitaler Leporello und Informationsportal des Theaters geblieben. Die Volksbühne Fullscreen ist hier nur ein Menüpunkt unter vielen.

"Charisma" ohne charismatisches Ensemble

Als im Dezember die sechsteilige Mini-Webserie "Charisma" der australischen Schriftstellerin Sarah M. Harrison und des polnischen Medienkünstlers und Komponisten Wojciech Kosma startete, wurde zumindest das Internet-Klassenziel in Sachen Diversität und nonlinearem Erzählen erreicht. Auf einem Holodeck schwirren kleine Bilder oder Worte, die man anklicken kann, um zu kurzen Szenen aus dem (Zusammen-)Leben der vier stadtneurotischen Protagonist*innen Fin, Howy, Asher und Echo in einer gemeinsamen WG zu gelangen.

Fullscreen 560 Charisma Screenshot uAus dem Leben einer WG: "Charisma" im "Fullscreen" © Screenshot

In sechs Folgen gibt es bruchstückhafte Seelen- und Lebensausschnitte der vier und ihrer stets verunglückenden Versuche, sich näher zu kommen. Allerdings sind sowohl die Figuren als auch ihre Geschichten letztlich so albern und irrelevant, dass man gar nicht weiß, warum man sich überhaupt für sie interessieren sollte. Vielleicht wäre das anders, wenn diese Webserie in den Gesamtkontext des Theaters eingebunden gewesen wäre – wenn man beispielsweise den Schauspieler*innen der Serie, Melissa Holley (Fin), Bhalo Najmah (Asher), Antoni Matteo Garcia (Howy) oder Ricky Watson (Echo), auch auf den analogen Bühnen des Hauses hätte begegnen können – als Mitglieder eines Ensembles in einem weiter gefassten Denk- und Kollaborationsraum. Dann hätte sich vielleicht ein Mehrwert daraus ergeben, einzelne Spieler*innen des Hauses nun auch als digitale Miniaturen im Netz zu erleben und sich in Eigenregie durch Geschichten zu klicken, die sie hier bruchstückhaft verkörpern. Ein solches Ensemble aber hat es an der Dercon-Volksbühne bekanntlich nicht mehr gegeben.

Tim Etchells und Marino Formenti performen Samuel Beckett

Das vielleicht ambitionierteste Projekt der Volksbühne Fullscreen war an drei Tagen im Februar diesen Jahres die Dauer-Performance "Left to tell" von Tim Etchells und Marino Formenti: Ein Wort- und Tonkonzert, das die Idee der tagelangen Klavier-Performances "Nowhere" des Pianisten Marino Formenti (in denen er ununterbrochen spielt, dabei isst und zwischendurch auch schläft) mit einer Art Rezitation durch Tim Etchells aus Samuel Becketts "German Diaries" verknüpfte. Die Tagesbücher entstanden zwischen September 1936 und März 1937 während eines Aufenthalts Becketts in Deutschland. In beinahe schockhaften Alltagsskizzen hat der damals Dreißigjährige darin Momentaufnahmen des immer manifester werdenden Faschismus in Deutschland festgehalten und schon eine Woche nach seiner Ankunft aus der aufgeladenen Atmosphäre im Land die Diagnose abgeleitet, das die Deutschen sehr bald einen Krieg führen müssten, da sie sonst zerplatzen würden.

Aus Sicht der jüngsten Beckett-Forschung sind diese Tagebücher, die erst nach seinem Tod gefunden wurden (und denen im Marbacher Literaturarchiv aktuell eine Ausstellung gewidmet ist), für Becketts Gesamtwerk auch deshalb so bedeutend, da die in Deutschland gemachten Beobachtungen zu einer immer stärker alle Winkel des Lebens und der Gesellschaft durchdringenden mörderischen Ideologie Beckett in seiner Ablehnung aller auf Kohärenz und Einheit zielenden künstlerischen Formen sehr bestärkt haben, ja vielleicht sogar ausschlaggebend für seine Poetik gewesen sind.

Fullscreen lefttotell 560 screenshot uAufbruch in die Extase: Marino Formenti spielt "Left to tell" im "Fullscreen" © Screenshot

Die Performance begann im Internet, wo via Livestream Eintritt in ein hermetisches Szenario mit zwei Männern und einem Flügel gewährt wurde: Wieder und wieder sprach Tim Etchells die immer gleichen Beckett-(Ver)Satzstücke: "nothing to say, nothing to say, nothing to say, nothing to say…" Dazu improvisierte oder spielte Formenti pausenlos Musik von Morton Feldman, dessen Auseinandersetzung mit gefühlter und tatsächlicher Zeit auch für die Gesamtperformance die atmosphärische Vorgabe war. Gelegentlich meinte man auch, aufgesprengte Schubert-Melodien zu erkennen. Einmal schwoll zu Etchells Beckett-Rezitativ eine Variation von Wagners "Liebestod" aus der Oper "Tristan und Isolde" an.

Während Formenti sich am Flügel immer ekstatischer in die Musik versenkte, begann Etchells, der zunächst noch an einem Tisch gesessen hatte, irgendwann wie ein Tiger im Käfig rezitierend auf und ab zu gehen. Das hatte im Stream eine Weile einen gewissen Reiz. Auch wenn die technische Aussteuerung von Sprache und Musik immer wieder zu Ungunsten der Sprache ausfiel, man oft nur mit Mühen Etchells Rezitation der aus dem Kontext gebrochenen Beckett-Fragmente verstehen konnte. Aber nach vielen Stunden ergab sich dann kaum mehr als eine Art Kunstekstase, in deren Verlauf Becketts Text komplett entpolitisiert und entkontextualisiert worden war, oft nur auf endlos repetierte böse "Stellen" reduziert wie: "'Grüß Gott' clumsily replaced by 'Heil Hitler', 'Grüß Gott' clumsily replaced by 'Heil Hitler',... clumsily replaced by 'Heil Hitler'...".

Der leere Raum oder Die Community im digitalen Exil

Die Performance kulminierte am dritten Tag in einer neunstündigen Live-Aufführung im dritten Stock der Volksbühne, die gleichzeitig gestreamt wurde. Live aber hatte "Left to tell" bis dahin kaum eine Progression erlebt. Es ging weiter wie schon am ersten Tag: mit der Kombination von repetitiver Rezitation akustisch oft schwer verständlicher Beckett-Brocken und endlosem Klavierspiel. Der für etwa 150 bis 200 Zuschauer ausgelegte Raum blieb dabei ziemlich leer. Maximal 12 Zuschauer waren in den langen Stunden, die ich dort ausharrte, zur gleichen Zeit anwesend. Eine Zeit lang war ich sogar nur eine von insgesamt drei Zuschauern. Von Zeit zu Zeit schien Tim Etchells aus seiner Text-Trance aufgeschreckt zu werden, wenn einer der wenigen Zuschauer wieder einmal mit peinlich berührter Miene den Raum verließ und schaute zunehmend ungläubig auf die leeren Sitzkissen und Podeste. Nach vielen Stunden verließ ich an diesem 18. Februar des Jahres 2018 schließlich das nahezu zuschauerlose Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, aus dessen Innern noch immer unverdrossen ins World Wide Web gestreamt wurde. Aber wohin genau?

Fullscreen LefttotellLife 560 mitsle screenshot uTim Etchells liest Beckett vor fast leeren Rängen: "Left to tell" live und im "Fullscreen" © Screenshot

Im unvermessenen digitalen Raum der Volksbühne hatten sich zu dieser Zeit längst die digitalen Geister der aus ihrem Theater vertriebenen angestammten Volksbühnen-Community in wütende Erinnyen verwandelt, deren anschwellende Wutgesänge immer schriller aus den Social Media Kanälen drangen. Tatsächlich nämlich hatte die digitale Spielzeit der Dercon-Volksbühne nicht erst im November 2017 mit der "Massacre"-Performance von Alexandra Bachzetsis begonnen, sondern bereits am 1. August 2017: als die Derconians offiziell die Social Media der Castorf-Volksbühne übernahmen.

In der Nacht auf diesen 1. August 2017 veränderte der für die alte Volksbühnen-Community bis dahin so vertraute und unter dem Siegel von Bert Neumanns Räuberrad stehende virtuelle Raum ihres Theaters plötzlich Farbe und Tonlage: "Die Sinne schärfen. Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!" Mit dieser Message trat das neue Team raunend dem angestammten Publikum entgegen, um für eine derart missionarisch-übergriffige Ansprache augenblicklich einen Shitstorm aus den unendlichen Weiten des Netzes zu ernten, dem die Neuen bis zum Ende der kurzen Ära Dercon nicht das Geringste entgegenzusetzen hatten. An dem sich ein hilfloses Social Media Team abarbeitete, das der Abteilung Marketing und Kommunikation zugeordnet war, während irgendwo in den Tiefen der Volksbühnen-Webseite digitale Kunstprojekte ohne Publikum versackten.

Der Gesamtzusammenhang fehlt

Denn auch der digitale Raum eines Theaters will zunächst gedacht, vermessen und definiert sein, bevor er gestaltet werden kann. Wo fängt er an? Was soll hier insgesamt passieren? Wie gelangen Zuschauer*innen dorthin und welche Möglichkeiten haben sie dann? Wie sind auf der Webseite, dem Haupteingang in den digitalen Raum eines Theaters, Spielplaninformationen, Marketinginteressen und Kunstprojekte einander zugeordnet? In welchem Verhältnis stehen die Social Media Kanäle als digitale Nebenkanäle zum Webauftritt eines Theater, dem digitalen Hauptquartier eines Theaters also?

Eine digitale Spielstätte jedenfalls kann, das wird am Beispiel der Volksbühne Fullscreen ziemlich deutlich, nicht funktionieren, solange Digitalität im Theater fein säuberlich in Sektionen aufgespalten bleibt, in Abteilungen im digitalen oder analogen Raum, wo auf der einen Seite die Kunst und auf anderen Informations- und Marketingmaßnahmen stattfinden. Zwischen denen es keine Osmose, keine Vermittlung, keinen gedanklichen Gesamtzusammenhang gibt. Und ein Fullscreen ist eben nur ein Fullscreen und noch längst keine digitale Bühne, geschweige denn ein Ort der vernetzten Öffentlichkeit.

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin, Mitgründerin und Geschäftsführerin von nachtkritik.de und gehört zum Organisations- und Kuratorenteam der Konferenz Theater & Netz von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, die die Folgen der Digitalisierung für das Theater untersucht und diskutiert.

 

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Kommentare  
Volksbühne Fullscreen: Rheingold?
Frau Slevogt vergißt eigentlich die wichtigste Produktion – wo Haus und (digitale) Bühne zusammenkommen: Rheingold. Das finde ich doch spannend in Zeit digitaler Distribution...

(Werter Tom,
wie die meisten Beiträge, die von der digitalen Spielstätte der Volksbühne aus gesendet werden, ist auch "Rheingold" keine genuine Fullscreen-Stoffentwicklung.
Auch "Rheingold" wurde ursprünglich nicht fürs Internet und auch nicht für die Volksbühne konzipiert.
Vielmehr haben Jan Bonny und Alex Wissel bereits im Sommer 2016 beim Filmfest in München erste Skizzen ihrer Filmrecherche zum Thema Helge Achenbach u.a. mit Joachim Król und Bibiana Beglau präsentiert.
Meinen Überlegungen zur digitalen Spielstätte der Volksbühne hätte eine Auseinandersetzung mit diesem Projekt nichts Wesentliches mehr hinzufügen können.
Freundliche Grüsse, Esther Slevogt)
Volksbühne Fullscreen: Bildrahmen
Ein Fullscreen macht einen Bildschirm ja nicht automatisch zur Bühne, nur weil er den gesamten Bildrahmen ausfüllt und die Tools ausblendet.
Es macht auch ein Haus nicht automatisch zur Digitalen Bühne, wenn ein Fullsreen als Möglichkeit in der Haus-Website versteckt wird. Eine volle Fullsreen-Entwicklung ist ein Film, oder Fernsehspiel für ein Internet-Fernsehen. Da kann ein Theater ebenso Produzent sein wie es auch z.B. gleichzeitig gedruckte Stücke herausgeben kann, wenn es die finanzielle Asstattung dafür hat. Es ist dann aber im Fall des Internet-Film/Fernsehens u.a. einfach nur produzierender Sender, einer unter anderen. Oder eben Verlag, einer unter anderen. Es ist deshalb trotzdem noch keine Druckerei und auch keine Digitale Bühne. Wäre es eine digitale Bühne, existierte es analog gar nicht. - Ist aber gut, gemeinsam darüber nachzudenken, auch wenn das alles noch schwimmelt bei uns allen...
Volksbühne Fullscreen: Synergieeffekte
Wenn die Castorf-Ära und die Dercon-Episode an der Volksbühne etwas gemeinsam haben, dann ist es das Scheitern der ambitionierten Pläne im Kontext einer Erweiterung des Theaters zur medialen Spielstätte. Das als "Neue Volksfilm" gelabelte und noch von Christoph Schlingensief initiierte Konzept beruhte ja auf den Ideen die Rainer Werner Fassbinder und Ulli Lommel bereits in den 70er-Jahren während Fassbinders kurzer Intendanz am Frankfurter TAT entwickelt hatten und die darauf hinausliefen, das Theater eben nicht nur zur Spielstätte, sondern zur Produktionsstätte eines von Förderanträgen und TV-Redaktionen unabhängigen Medienauftritts werden zu lassen. In einer Variante von Warhols legendärer New Yorker "Silver Factory" wollte man die Ressourcen der Institution "Deutsches Stadttheater" nutzen. Sprich: Das Ensemble, die Gewerke, die vorhandene Licht- und Tontechnik, die Maskenbildner, den Kostümfundus etc. Also Synergieeffekte, um nicht nur die Abendvorstellungen des Bühnenspielplans zu bedienen, sondern parallel Filme, Videos, TV- und Internetproduktionen auf kostengünstiger Basis zu realisieren. Die schmerzlich geringe Wahrnehmung von Herbert Fritschs HAMLET X und Rene Polleschs Daily Soap 24 STUNDEN SIND KEIN TAG bei der Theaterkritik wie beim angestammten Volksbühnenpublikum verweist zum einen auf das konservative Schubladendenken dieser Kreise, ist aber sicherlich auch das Ergebnis mangelnder Vertriebswege. -

Chris Dercon hingegen wußte einerseits mehr als andere Theatermacher um die Notwendigkeiten, ein Theater digital aufzustellen, wußte es aber andererseits auch nicht. Als Leiter der Londoner Tate Gallery hat er Warhols Multimedia Show EXPLODING PLASTIC INEVITABLE des Jahres 1967 eine große Ausstellung gewidmet und die Verpflichtung der Filmemacher Alexander Kluge und Romuald Karmakar kam nicht von ungefähr. Seine Unfähigkeit in der Rolle eines "alternativen Medienmoguls" demonstrierte Dercon dann jedoch, als ihm die Besetzung seines Hauses die einmalige Chance bot, mit der Volksbühne schlagartig "fullscreen" zu werden. Denn bei allen berechtigten Bedenken gegen "Staub zu Glitzer" hätte dem erfahrenen Museumsmann auffallen müssen, dass seine Gegener sowohl mit ihrer Webseite INSIDE/OUTSIDE THE BOMB als auch mit der No-Budget-Doku NADRYW - DIE VB ALS LETZTE REALITÄT weitaus besser aufgestellt waren, als der hauseigene Timo Feldhaus mit seiner an unfreiwilliger Komik grenzender Reihe DIE VERMESSUNG DER VOLKSBÜHNE. Seis drum. -

Ausdrücklicher Dank nochmal an Frau Slevogt, mit ihrer Kolummne zum Thema die Frage nach einer digitalen Ausgestaltung des zeitgenössischen Theaters erneut ins Bewußtsein zurückgebracht zu haben. Denn das Sein oder Nichtsein unserer heutigen Theaterlandschaft entscheidet sich - so meine Prognose - vermutlich nicht mit einem Kompromiss in der Debatte um "Me too" und einer gerechten Frauenquote am Theater, sondern im Gelingen einer Symbiose von realen und digitalen Spielstätten für ein Theater von Morgen.
Volksbühne Fullscreen: Prognose
@3: Die Prognose in ihrem letzten Satz teile ich nicht. Ich kann zudem nicht erkennen, wie sie sich aus dem vorangehend Lesenswertem ergibt.
Volksbühne Fullscreen: Aufstand
@4
Sehr geehrter Hans Zisch, Geschichte wiederholt sich nicht. Trotzdem macht es Sinn, daran zu erinnern, dass die Kulturrevolution des Pariser Mai von 1968 nach Einschätzung der meisten Zeitzeugen in der damaligen Besetzung der "Cinematheque" ihren Anfang genommen hat. Die damalige intellektuelle französische Jugend sah sich mit der Kündigung des Cinematheque-Gründers Henri Langlois durch den gaullistischen Kulturminister Malraux in ganz ähnlicher Weise um ihr identitätsstiftendes "Flagschiff" betrogen, wie die 40.000 Unterzeichner der Anti-Dercon-Resolution durch Tim Renners Entscheidung, das Castorf-Ensemble in die Wüste zu schicken. Anders als vor 50 Jahren war es jedoch kein Aufstand der Strasse sondern ein Aufstand des digitalen Netzes, der sich bis hin zur eigentlichen Besetzung der Volksbühne manifestierte. Ein Theater, das die netzaffine Generation nicht in ähnlich dramatischer Weise als Publikum verlieren möchte, wie dies beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen und dem Lola-prämierten deutschen Kino seit Jahren zu beobachten ist, muss deshalb in anderer Weise über Vermittlungsstrategien nachdenken, als die "Theaterblase" rund ums Berliner Theatertreffen und die Mainzer Mini-3-Sat-Redaktion dies tut.Für mich zählt es zweifelsohne zu den "Leistungen" der VB-Besetzer und ihrer Volksbühnendokumentation das Theater als "Betrieb" ein stückweit durchsichtig gemacht zu haben. Während der "Fullscreen"-Auftritt im Netz von Dercons Intendanz seine Herkunft aus einer Werbeagentur nie wirklich hat verleugnen können. Mit dem Ergebnis das die digitale Plattform mit der Realität des Bühnenhauses ungefähr soviel gemeinsam hatte, wie die lila Kühe der Werbung für Milka-Schokolade mit dem realen Herstellungsprozessen der rechteckigen Supermarktsware.
Volksbühne Fullscreen: Auftrag
Das ist doch eine der vielen Enttäuschungen dieses ganzen Dercon-Albtraums gewesen: daß er von der Politik der Stadt als Digitalmessias angekündigt wurde, aber dann nicht die geringste Vorstellung oder Vision dafür hatte. Man später dann immer dachte: das ist wahrscheinlich nur der kulturpolitische Auftrag gewesen, zu dem Renner ihn verdonnert hatte, der damals gerade seine digitale Phase hatte, auch wenn er selbst (außer dem Streamen von Theatervorstellungen) nicht wirklich wusste, was das sein sollte oder könnte. Die Details sollte dann Dercon liefern. Aber der lieferte nicht.
Volksbühne Fullscreen: Inhalte
Für die Website als Werbeplattform eines Theaters gilt wie im Theater selbst: Es geht um I n h a l t e der Interaktion mit realem oder auch optionalem Publikum. Dazu darf es nicht mit "Kundschaft" verwechselt werden. Und auch nicht mit einer Gesprächstherapie- oder Schülernachhilfegruppe. - Dies ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass so etwas gelingt.
Volksbühne Fullscreen: digital vs Bühne
Vielen Dank für den Artikel! Für alle, die die Suche nach Perlen im Spielplan der Volksbühne in den letzten Monaten aufgegeben haben.
Ich habe mir nach dem Lesen nun 'Massacre' angesehen und über das Paradox "digitale Bühne" nachgedacht. In Erikas Lichte gesprochen, brauchen wir da nicht die Co-Präsenz? Ist das sonst eine Bühne oder ist das Videokunst? Was kann das Theater da anders machen, was ist digital theatral? Das mal rein künstlerisch, und (noch) nicht auf gesellschaftliche Funktionen von Theatern, Vernetzung usw. gedacht.
Neben dem bereits erwähnten Thema Verfügbarkeit-Entfernung sind mir in Massacre insbesondere zwei Elemente aufgefallen.
Das eine ist der Raum, der komplett mit Pappkartons ausgekleidet und - ganz wichtig - den ganzen Bildausschnitt füllt. Andersherum, der Bildausschnitt ist der Raum - und erzeugt ein Gefühl der Beengtheit, Beklemmung, Tristesse, also in jedem Fall irgendein Gefühl zusätzlich zur Performance. Er bringt die Performer*innen in eine körperliche Situation, die ich nachempfinden kann, ohne drinzustecken. Ganz wie in einer guten (Studio)Bühne.
Das zweite Element ist die Unmöglichkeit, vorzuspulen, nennen wir es Linearität. Eine ungewöhnliche Erscheinung im Internet! (und frustrierend, irgendwie) Das Video muss von Anfang bis Ende gesehen werden, nur Pause ist möglich. Anders als auf einschlägigen Porno-Seiten oder beim Sichten von Videoaufzeichnungen von Theaterabenden kann nicht zu den relevanten Stellen gesprungen werden. Das fühlt sich theatral an.
Und jetzt denke ich darüber nach, wie sehr das Theater von Restriktionen (räumlich, handlungsmachtsverteilungsbezogen) lebt, und ob darin Potenzial für digitale Bühnen liegt.
Volksbühne Fullscreen: Geste des Theatermachens
@digital vs bühne: Ja, sehr interessante und stimmige Argumentation.

Eine Frage wirft sie auf:
"Was wird aus Sicht von TheatermacherInnen/KünstlerInnen vom Zuschauer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als "relevant" bewertet und löst in ihm einen Vorspul-/Rückspulimpuls aus?"
Die nachfolgende Frage ist sogleich:
"Was sagt das über TheatermacherInnen/KünstlerInnen aus, wenn Sie auf eine Relevanz-Bewertung des Publikum rekurrieren in ihren Konzepten statt sich ausschließlich ihren eigenen Relevanzen zu widmen?"

Ein zweiter Einwand: Es stimmt, der gesamte Bildausschnitt ist ausgefüllt. Aber er ist nicht ausgefüllt mit einem RAUM wie sie sagen, sondern mit der Abbildung von einem Raum. Das wiedergegebene Bild ist sozusagen kein Raum, sondern die GESTE eines Raumes. Neumann hat diese Geste in das Theater integriert. Er hat provoziert, dass Raum-Wahrnehmung und Wahrnehmung von Raum als Wiedergabe von verdeckt stattfindendem Schauspiel als BÜHNENgeschehen zusammenfallen konnten. Das hat Castorf dann in seine inszenatorisch wirksame Dramaturgie integriert und zur Blüte gebracht, weil er ALLES daran zum Interagieren brachte und dies insgesamt als Bühnen-Geschehen wahrgenommen werden konnte...
Hier aber ist der Bildausschnitt NICHT Raum, sondern BILD von klaustophobisch wahrnehmbarem Raum. Um als Raum sinnlich wahrgenommen werden zu können, müssten wir uns ebenfalls IN dem Raum befinden ODER ihn e i n d e u t i g aus eine Bühnen-Zuschauerraum-Situation heraus inspizieren können. Es würde auch nichts ändern, wenn wir beispielsweise diese selbe Performance vollständig digitalisiert hätten zur VR, einschließlich der dafür eingelaserten Performerin, und dies dann über VR-Brille betrachteten. Weil wir - auch wenn wir es während der Betrachtung vergessen könnten, wären wir fasziniert genug, von der Performance oder der Performerin - WISSEN, dass wir ein Zuschau-Hilfsmittel eingesetzt haben, um Zuschauen zu können. Und wir können dieses innere Wissen nicht überlisten. Wir können unsere Sinne ablenken, aber nicht überlisten, weil sie uns Unbehagen bereiten zum Beispiel…

Ich meine - ich fand diesen Ihren Satz überaus interessant! : Es ist ein Unterschied, ob sich etwas "theatral anfühlt" oder Theater IST.

Ich würde Ihnen beipflichten wollen, dass Theater von Restriktionen lebt. Ich vermute jedoch sehr stark, dass es nur von u n b e w u s s t verhängten Restriktionen l e b t. Von b e w u s s t gegen seine angestammten Räume, Gegenstände im Sinne von Stoffwahlen, und seine Ausdrucksweisen für Spielhandlungen eingesetzten Restriktionen wird es - so vermute ich - getötet. –
Es wehrt sich aber dagegen. Das kann auch mit Mitteln geschehen, die uns durch die Digitalisierung der Kommunikation heute zur Verfügung stehen. Ein Bühnenersatz sind diese Mittel aus meiner Sicht jedoch nicht.

Insofern scheint mir die Digitalisierung Potenzial zu bieten, den Tod des Theaters erfolgreich zu verhindern. Nicht jedoch Potenzial dafür, Theater als Theater in den Digitalen Raum zu verlagern. Die Bühne ist Bühne und das Netz ist das Netz. Im als Theater definierten Raum können wir Theater erleben und im Digitalen Raum können wir lediglich die Geste des Theatermachens wahrnehmen.
Volksbühne Fullscreen: Usability
@8 digital audience:

Wie die restliche VB Webseite, ist auch die Usability des Videoplayers eher bescheiden. Deshalb haben Sie wahrscheinlich die Timeline am unteren Bildrand übersehen. Darüber kann man im Video springen. Es ist allerdings interessant, das Sie das als bewusste gestalterische Entscheidung interpretiert haben.

Die DCTP.TV Webseite ist leider noch schlimmer. Ohne Flash PLayer funktioniert dort gar nichts. Das ist 2018 völlig inakzeptabel. Um die Videos zu schauen, geht man am besten gleich auf den dctp Youtube Kanal.

Will sagen: an den Nutzungsgewohnheiten der User und den technischen Ansprüchen kommt man nicht vorbei.
Volksbühne Fullscreen: zartes Pflänzchen
@10 danke für die präzisierungen.
@8 guter punkt - was wäre dieses digital theatre, was sind die möglichkeitsräume. man würde ja meinen, daß eine solche analyse viel früher stattfindet.finde man sollte den bogen noch viel weiter spannen, ästhetisch, politisch und technologisch. programme wie die "digitale bühne" der ex-volksbühne oder "immersion" tun so als ob es das bereits gäbe - als ob es nur noch in festivalformaten abgebildet werden müsste. dabei gibt es das als bewegung noch gar nicht - es sie denn man karrt uraltes zeug an, oder schlimmer erklärt videokunst oder film zu "digitalen bühnen" weils ja auch digital ist - irgendwie.

problem : die kurator*innengeilheit fertige programme präsentieren zu wollen, wo noch ein zartces pflänzchen wächst. möchte halt keiner gärtner sein und giessen - sondern immer gleich gartenmuseumsdirektor*in.
Volksbühne Fullscreen: mit digitalen Mitteln
Interessanter Beitrag, spannende Diskussion. Vielen Dank! Insbesondere @11, was gut zusammenfasst, wo es hakt... Wenn man eine digitale Bühne will oder erstmal überhaupt nur wissen möchte, was eine digitale Bühne sein könnte oder wie sie funktioniert, muß man (mit digitalen Mitteln) daran arbeiten. Nur aufsammeln reicht nicht, an etablierte Künstler und Marken das Label "jetzt in immersiv" dranklatschen reicht nicht.

Für mich war die "digitale Spielstätte" der neuen VB vorab das Spannendste und im Nachhinein die größte Enttäuschung. Jetzt ist wieder Zeit verloren, und hoffentlich das Thema nicht verbrannt.

Es gibt durchaus einige deutschsprachige, wie internationale Künstler und Künstlergruppen, die für's digitale Theater (Theater im Digitalen, Digitales auf der Bühne) forschen, aber das sind vor allem Anfänge und Versuche. Diese brauchen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Bezgl. @9: was sind denn "angestammte Räume"? So wie man Theater auch außerhalb des Theatergebäudes spielen kann, sind doch Bühne und Zuschauerraum im Grunde ebenfalls nur Technologien, die gewährleisten sollen, daß Viele gleichzeitig zusammen etwas erleben (sehen, hören). Das geht zunehmend auch digital, auch das "gleichzeitig und zusammen".

Und was ist ein "Zuschau-Mittel", dessen Bewußtmachung das Theatererlebnis zerstört? Sind nicht auch meine Brille, die (digitale) Lichtanlage, die (digitale) Soundanlage des Theaters, am Ende die Sitzpolsterung oder die Heizung Zuschaumittel? Sind die also einfach technisch ausgefeilter, und dann zerstören sie nicht mehr, bzw. bereiten kein Unbehagen?

Ich meine diese Fragen gar nicht vorwurfsvoll, sondern finde die Punkte spannend und wichtig, und daran ist zu arbeiten. Das alte Team der Volksbühne hat da m.E. versagt, das Thema ist noch offen und liegt da für Institutionen und Stadttheater außerhalb des Kreises der üblichen Verdächtigen ("Immersion", Dortmund) sich damit zu befassen.
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