Da kotzt die Freiheitsstatue

von Christian Muggenthaler

Bamberg, 25. Mai 2018. Sequels gibt's jetzt auch auf der Bühne: Nach der regional und überregional überaus erfolgreichen Uraufführung von Konstantin Küsperts kritischem Kontinent-Konfetti europa verteidigen gibt's jetzt (in Kooperation mit den Ruhrfestspielen) am E.T.A Hoffmann-Theater Bamberg mit "Der Westen" eine Fortsetzung. Wiederum ein Stück von Küspert, komplett identisch gebaut, mit einander assoziativ folgenden Szenen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Weltregion, die so viel Dreck am Stecken hat, dass man sie genüsslich Schicht um Schicht freilegen kann: Szenen wie Stichgrabungen in einen faulen Apfel, oft sehr monologisch angelegt, munter moralisierend und genau an der Nahtstelle, wo Verzweiflung über die Absurditäten der modernen Zivilisation in ungläubiges Gelächter übergeht: Was es nicht alles gibt …

Hausmeister Tod

Und wie schon in Folge eins durch Regisseurin Cilli Drexel, wird jetzt durch Intendantin Sibylle Broll-Pape manch Last aus Küsperts Wortlast genommen, wird der Text auf die Bühne eher sanft hingestrichen, weil mit viel Phantasie, Ironie und Spielwitz durchsetzt, zwar nicht entbeint, aber entätzt. So wird, nur ein Beispiel, aus dem Tod, der zuletzt endgültig alle Fragwürdigkeit westlicher Werte und Wesentlichkeiten auf den Punkt bringt, ein Hausmeister im Blaumann, der sich einfach bloß achselzuckend wundert, wie die Leute ihre schönen, fetten Lebensjahre für so viel unnutzen Schmarren wegwerfen können.

Der Westen2 560 Martin Kaufhold u Tragische Superhelden © Martin Kaufhold

Die Themenvielfalt, die in "Der Westen" zumeist reizvoll, bestens recherchiert und mannigfaltig zusammengestückelt wird wie ein Patchwork-Quilt, befindet sich zwar anfallweise auch mal in Sichtweite einer gewissen Beliebigkeit (China, Trump und Schweinemast), Bühne und Kostüme (Ausstattung: Trixy Royeck) fangen diese Gefahr aber in kongenialer Buntheit recht schnell wieder ein: Eine raumdominierende Videowand arbeitet viel mit mehrfach nebeneinandergestellten visuellen Baukasten-Klötzchen (Video: Manuela Hartel), wie man sie auch von Andy Warhol-Siebdrucken kennt, dazu tummeln sich immer wieder großdimensionierte moderne Mythos-Männlein, als ob sie Trickfilmen entsprungen wären.

Geschichte als Witz

Bühnen-Pop-Art: Dagobert Duck, der später erklären wird, der einzige Weg, um reich zu werden, sei, schon reich zu sein. Lucky Luke, den sein lebensbegleitender Schusswaffengebrauch längst in die Depression getrieben hat. Superman: ein angepasster Außerirdischer. Super-Mario: genervt von der Eintönigkeit seiner Existenz. Dass zwischen all dem die Freiheitsstatue gleich mal kotzen muss, wenn sie sieht, was nach 140 Jahren aus ihrem Freiheitsversprechen geworden ist, versteht sich in dieser oft sehr dynamischen Szenenfolge fast schon von selbst. Schicht um Schicht des Textes gibt die Inszenierung in leidenschaftlich-buntem Sausundbraus wieder, das Ensemble wirkt zusammen munter am Westen-Wunderland. Saukomisch, wiederum nur ein Beispiel, jene Szene, in der der klitschnasse Kaiser Theodosius (Betram Maxim Gärtner) an Wassersucht sterbend sein römisches Reich unter seinen zwei Söhnen in Ost- und Westrom aufteilt. Geschichte als Witz kurz vorm Horror des Bürgerkriegs …

Der Westen3 560 Martin Kaufhold uApokalypse ahoi! Daniel Seniuk, Bertram Maxim Gärtner, Stefan Hartmann, Anna Döing, Paul Maximilian Pira © Martin Kaufhold

Küspert ist immer dann besonders stark, wenn er Licht wirft auf den sich recht gern verbergenden – weil schrecklichen – historischen und ökonomischen Unterbau der Gegenwart. Was macht den Westen eigentlich zum Westen? Und wieso ist der Westen weltweit so besonders wild? "Der Westen" ist kein Stück, dessen Erkenntnisse besonders schmerzen. Aber er ist ein Teil jener Aufklärungsarbeit, die am Bamberger Theater beispielhaft unternommen wird. Und wenn dann der Sklave Sengbe Pieh (Stefan Hartmann) sehr wütend zeigt, dass all der westliche Reichtum sowieso im Kern nur auf Sklaverei beruht, geht's auch schon mal an die Substanz.

 

Der Westen
von Konstantin Küspert
In Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Regie: Sibylle Broll-Pape, Bühne und Kostüme: Trixy Royeck, Video: Manuela Hartel, Dramaturgie: Remsi Al Khalisi.
Mit: Anna Döing, Bertram Maxim Gärtner, Stefan Hartmann, Paul Maximilian Pira, Daniel Seniuk.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

Achim Lettmann schreibt im Westfälischen Anzeiger (online 21.05.2018, 18:50 Uhr):  Küspert thematisiere das "Dilemma" des Westens, dass alles sich ändere und das "Selbstverständnis der westlichen Welt" zerbrösele. Das Stück bleibe "dem Faktischen sehr verbunden". Viel mehr als" süßen Grusel" bringe die "Kolportage", die die "Untiefen unseres Daseins zur Schluchtenfahrt" verbinde und "mit Rap- und Pop-Musik unterlegt", nicht hervor. Sibylle Broll-Pape versuche "Küsperts Polit-Nummern" den "Vortragscharakter" zu nehmen. "Engagierte Schauspieler" schlüpften in "zahlreiche Rollen", spielten "Figuren wie im Kabarett – voller Selbstironie". Zum Schluss beschleich einen das Gefühl, dass es gut sei, "wenn 'Der Westen' endet, zumindestens in Recklinghausen".

In der Westfälischen Rundschau (online 21.05.2018, 17:21 Uhr) schreibt Sven Westernstroer: Einen "rasanten, irrwitzigen Ritt durch die Weltgeschichte" zelebriere Konstantin Küspert. Er erzähle "findungsreich vom Streben nach Freiheit und Gier" in Dutzender kleiner Szenen, "die in keinem logischen Zusammenhang stehen, aber nicht schlecht staunen lassen". Das fünfköpfige, "hingebungsvolle Ensemble" hüpfe von einer Verkleidung in die nächste, spiele sich am Ende gegenseitig selbst und schrecke vor "wagemutigen Parodien" nicht zurück. Doch Sibylle Broll-Pape gebe "erstaunlich wenig Gas" und ertaste lieber den Schrecken. "Statt auf gepfefferte Comedy zu setzen, fordert sie zum Nachdenken auf, was natürlich ehrenwert ist, ihrer Aufführung aber auch den Witz nimmt."

Christoph Hägele fragt sich daraufhin auf infranken.de (online 27.5.2018),  warum "Der Westen" für die Uraufführung bei den Ruhrfestspielen so "durchwachsene" Kritiken bekommen habe, dafür seien doch nun wirklich "die von vielen Rollenwechseln geforderten Schauspieler" zu gut, die Videoinstallationen "zu anregend" und auch die Zahl der "gelungenen Regieeinfälle" zu hoch gewesen.

Quietschbunt und schrill sei die Inszenierung, "genussvoll" zerlegten Ensemble und Regie die Helden der westlich geprägten Konsumgesellschaft, "ohne den Faden auch nur ansatzweise zu verlieren", schreibt Sebastian Balint in der Recklinghäuser Zeitung (22.5.2018). Die Comic-Helden zeigten "auf durchaus amüsante Weise die Schwächen eines ins Straucheln geratenen Systems". Balints Fazit: "Das ist politisches Theater, dass (!) den Zuschauer endlich einmal nicht allein in der Position eines unbeteiligten Beobachters verweilen lässt. Mitdenken scheint bei dieser Inszenierung ausdrücklich erwünscht".

Ein "freches und zugleich geistreiches Theaterprojekt" hat das Fernsehen des Bayerischen Rundfunks (25.5.2018) in Bamberg gesehen. Die "unterhaltsame, ironische Inszenierung" spiele damit, wie sich "unser westliches Wertesystem entwickelt hat – die berühmte Freiheit und ihre Folgen".

"Das Stück taugt als Kommentar auf vieles, was Gesellschaft gerade umtreibt", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (2.5.2018). Wieder grabe sich Küspert idiosynkratisch durch die Geschichte als Lehrstück. "Sibylle Broll-Pape macht aus den ohnehin schon sehr nach vorne geschriebenen (Mini-)Szenen ein rasantes Kabarett, durch das Film- und Fernsehmusiken." Manche Szenen wie ein Trump-Auftritt oder Angela Merkel bei Gerhard Schröder seien niederschmetternd in ihrer Plumpheit, andere dagegen brillant.

 

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