Gekommen um zu bleiben

von Hartmut Krug

Berlin, 25. Mai 2018. "Wir sind heute hier, weil wir damals gekommen sind." Damals, das heißt nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen 1961. So einfach können Erklärungen sein. Gar nicht einfach ist, was dann über das Kommen und Bleiben erzählt wird: Gegen "Überfremdung" sprachen sich bald viele Politiker aus. So sagte Helmut Schmidt 1982: "Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze." Willkommen sieht anders aus.

Bitterböses Nachfolgestück

Schon 2010, damals noch im Ballhaus Naunynstrasse, erzählten Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoǧlu im musikalischen Schauspiel "Lö Bal Almanya" von den Verwerfungen und Schwierigkeiten, denen sich die Gastarbeiter ausgesetzt sahen. Der Abend besaß viel Marthalereskes und war bei aller Deutlichkeit, mit dem das sogenannte "Türkenproblem" behandelt und auch über die Anschläge in Mölln und Solingen gesprochen wurde, zugleich hochkomödiantisch. Das neue Stück "Lö Grand Bal Almanya" besitzt zwar vereinzelt Elemente des alten Stückes, ist aber viel schärfer und bei allem Witz auch bitterböse.

Loe Grand3 560 ute langkafel maifoto xWo man singt, da lass' Dich nieder? Željko Marović, Sesede Terziyan, Tanju Girişken, Mehmet Yılmaz, Emre Aksızoğlu, Elmira Bahrami, Katharina Koch und Loris Kubeng in "Lö Grand Bal Almanya"
© Ute Langkafel / Maifoto

Lange passiert erst einmal nichts. Die Schauspieler stehen und warten, bis der Dirigent ein Zeichen gibt. Dann wird "Horch was kommt von draußen rein" gesungen, in einem Bühnenbild, das sich kopierend beim Zuschauerraum bedient. Viele deutsche Volkslieder kommentieren auch weiterhin das Geschehen. "Unrasiert und fern der Heimat" erklingt, und alle werden einer erniedrigenden Tauglichkeits-Untersuchung unterzogen. Dazu müssen sie sich immer mehr ausziehen, während ihnen in den Mund, die Ohren und in die Unterhose geschaut wird. Sie werden aussortiert oder zugerichtet. Dann kommt ein Neuer, hoch bepackt mit Teppich und Koffer. Sein Empfangsgeschenk scheint ein Motorrad, doch als die Verpackung aufgerissen ist, kommt nur ein Besen heraus, und der Neue beginnt gleich mit seiner Arbeit.

Komisch-körperliches Erklärspiel über Zurichtung

Wir sehen ausgelieferte und zugerichtete Menschen, die von deutschen Phrasendreschern mit dröhnenden Reden traktiert werden. Ein Darsteller vermittelt durch seine Tanzeinlagen, die den jeweiligen neuen Musikstil zeigen, wie die Zeit vergeht. Es ist ohnehin eine Inszenierung, die von Tanz und Körpersprache, von Musik und Komödiantentum bestimmt ist. Und die im zweiten Teil, wenn lautstarke Politikereden sich abwechseln, von den ausgestellten Posen der Darsteller lebt. Wenn Gewalt ausbricht, wird geschossen und die Menschen liegen unter Bergen von Papier begraben.

Loe Grand2 560 ute langkafel maifoto xAkten, Akten, Akten: In Deutschland herrscht Papierkrieg. Szene mit Loris Kubeng, Sesede Terziyan, Mehmet Yılmaz, Katharina Koch, Elmira Bahrami, Tanju Girişken © Ute Langkafel / Maifoto

Im zweiten Teil der Inszenierung kommen der NSU und die Akten ausführlich ins Spiel. Es gibt eine Fülle von Gruppenszenen, in denen die neun kraftvollen und ungemein komisch-beweglichen Darsteller Geschichten und Haltungen erzählen. Zwar sind manchmal die Szenen allzu lang und der fast dreistündige, pausenlose Abend ist für den Zuschauer auch recht anstrengend. Immer wieder aber geben Lieder dem aggressiven Erklärspiel eine eigene Sinnlichkeit.

Nazis schmieden ihre Waffen

Oft gehen Auftritte über die Treppe im Hintergrund der Bühne hinein ins Geschehen. Dann werden rote und schwarze Ballons aufgeblasen und im Streit der Parteien zerschlagen, Menschen werden erschossen und dann aber alle wiedergeboren. Sie purzeln durch die gespreizten Beine einer der Frauen zurück ins Geschehen.

Eher unangenehm wirkt die lange Szene, in Necla Kelek als eitle, eher dumme Journalistin ausgestellt wird, die antiislamische Klischees produziert. Was stimmen mag, dennoch wirkt die Darstellungsform überzogen.

Insgesamt aber ist dies ein zugleich poetische wie politischer Abend mit einer Fülle von Anspielungen und Bezügen. Dass am Schluss im Hintergrund Feuer lodern und wohl Nazis ihre Waffen schmieden, ist ein zutreffend skeptischer Schluss.

 

Lö Grand Bal Almanya. 57 Jahre Scheinehe – Ein Singspiel
von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoǧlu
Regie: Nurkan Erpulat, Musikalische Leitung und Live-Musik: Tobias Schwencke, Ton: Hannes Zieger, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Peter Bax, Dramaturgie: Tunçay Kulaoǧlu.
Mit: Emre Aksızoğlu, Elmira Bahrami, Tanju Giri ken, Katharina Koch, Loris Kubeng, Željko Marović, Sesede Terziyan, Mehmet Yılmaz.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Im tollen Bühnenbild von Alissa Kolbusch zelebriere Erpulat seine bestürmende Komik der Vergeblichkeit. Die changiert irgendwo zwischen Buster Keaton und Christoph Marthaler und ist doch von ganz eigener Melancholie gefärbt", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (26.05.2018). "Schon wenn sich das Ensemble zum selektiven Gesundheitscheck versammle, "schießen die Absurditäten über, wird Grundtrauriges ins Groteske überzeichnet".

"Warum wird aus derart wichtigen Themen ein theatralisch derart unergiebiger Abend?", fragt sich Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (25.5.2018). Inszenatorisch sei ein blankes Desaster zu durchleiden. "Gerade für den Zusammenhang im szenischen Konstrukt wäre die Regie zuständig – sie glänzt aber durch Abwesenheit. Fantasie entwickelt sie bestenfalls in den Szenen, dazwischen nie." Einmal mehr bewege sich das Maxim-Gorki-Theater weit unterhalb seiner Möglichkeiten.

Den 'Grand Bal Almanya' als türkisches Opferfest zu feiern, sei natürlich legitim, aber in dieser eindimensionalen Grobzeichnung erschlagend stumpfsinnig, findet Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (27.5.2018). "Der Abend möchte leicht sein, sich Geschichte parodistisch ertanzen, aber zieht sich die Betonschuhe der plumpsten Klischee-Kollektion dafür an. Musikalisch geschliffen, scheitert das Singspiel inhaltlich auf ganzer Linie und wird schale Schenkelklopftümelei für Kumpelclubs."

 

Kommentare  
Lö Grand Bal, Berlin: Verrat am Thema
Selbst bei seinen wenigen besseren Ideen tendiert Erpulat zum Zuviel. Wie viel schlimmer ist das dann in der überwältigenden Mehrheit des Abends, in der solche besseren Ideen gänzlich fehlen. Da werden „Ausländer“-Klischees à la sexueller Gier und unkontrollierter Vermehrung so genüsslich durchgespielt, dass ihre Reproduktion die vielleicht intendierte Entlarvung überlagert. Es wird – im Wortsinn – unter den Teppich gekehrt, mit protestantischer Musiktradition, an deren Ende natürlich Bach steht, ausgegrenzt, Populismus heuchlerisch verurteilt, während die Mehrheitsparteien (der Wahlkampfslapstick ist kaum zu ertragen) geifernd das Gleiche sagen beziehungsweise brüllen, die NSU-Morde samt bürokratischer Vertuschung dargestellt, indem der Pianist das Rosaroter-Panther-Motiv spielt, während Reißwölfe laufen und die Leichen unter Papierbergen (Bürokratie!) verschwinden. Wenn dann am Ende die Welt zu Wagner brennt, ist die Klischee-Checkliste voll und jegliche Sinnbehauptung lange geflohen. Dass Alissa Kolbuschs Bühne das Gorki Theater nachempfindet und damit das alles als Theater entschuldigt, ist dann auch nur noch ein eher billiger Schachzug.

Was bleibt, ist eine Nummernrevue unreflektierter, überdeutlicher Klischees, die so brachial ironisiert werden – mit Hilfe von schaupielertechnisch durchaus hochwertigem Slapstick – dass sie am ende überhaupt keinen Bedeutungsversuch mehr übrig lassen. Außer die Pauschalansage, dass Integration gescheitert sei, weil das empfangende Land sie nicht wollte. Für einen Abend, der sich mit 57 Jahren Arbeitsmigration – im Untertitel „Scheinehe“ genannt – befassen will, ist die Tatsache, dass er über zwei Stunden lang seinem Thema ausweicht, um eine Klischeesau nach der nächsten durchs theatrale Dorf zu treiben, ein Offenbarungseid. Und eine interllektuelle wie künstlerische – über die zahlreichen Längen und erheblichen handwerklichen Schwächen des Abends sei hier hinweggegangen – Totalverweigerung, wie man sie an diesem Theater während dieser Intendanz noch nicht gesehen hat. Ein Verrat an einem wichtigen Thema, der schmerzt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/05/26/nummernrevue-der-verweigerung/
Grand Bal, Berlin: Dauert 2 Stunden, 10 Min
Das Stück dauert aber nur 2 Stunden, 10 Minuten... nicht 2 Stunden, 50 Min...
Lö Grand Bal Almanya, Berlin: verzeichlich
@2: Der Fehler ist verzeihlich. es fühlt sich schließlich wie 2:50 an. Mindestens.
Lö Grand Bal, Berlin: famose Unterhaltung
Für mich haben die Gorki-treuen Jubelschreiber ebenso Recht wie die (etwas harten) Kritiker: es ist famose Unterhaltung, durchaus mehr als Schenkelklopfen, ein bilderstarkes, spielfreudiges und v.a. hoch musikalisches Gesamtkunstwerk. Und zugleich drückt sich der Abend um eine klare Haltung zu der eben nicht einfachen Frage, wie man mit verhinderter bzw. abgelehnter Integration umgehen soll. Aber vielleicht war eine Antwort hierauf ja gar nicht gewollt...
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